Das Dritte Reich (eBook)

Band 3 - Krieg
eBook Download: EPUB
2023
1152 Seiten
Pantheon Verlag
978-3-641-30696-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Dritte Reich - Richard J. Evans
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»Beeindruckend und scharfsinnig: Die umfassendste Geschichte der verhängnisvollen Epoche des Dritten Reiches, die jemals geschrieben wurde« Ian Kershaw
Im abschließenden Band seines gefeierten Monumentalwerks zum Dritten Reich widmet sich Richard J. Evans der Zeit des Zweiten Weltkriegs und damit dem Aufstieg und Fall der deutschen Militärmacht: von den schnellen Siegen zu Beginn des Krieges bis zur bedingungslosen Kapitulation im Frühjahr 1945, von der totalen Mobilisierung der Deutschen bis zur Bombardierung deutscher Städte und massenhaften Flucht, von der Ghettoisierung und Deportation der europäischen Juden bis zu ihrer massenhaften Ermordung in den Vernichtungslagern.

Richard J. Evans, geboren 1947, war Professor of Modern History von 1998 bis 2008 und Regius Professor of History von 2008 bis 2014 an der Cambridge University. Seine Publikationen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und zum Nationalsozialismus waren bahnbrechend. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Wolfson Literary Award for History und die Medaille für Kunst und Wissenschaft der Hansestadt Hamburg. 2012 wurde Evans von Queen Elizabeth II. zum Ritter ernannt. Zuletzt sind von ihm erschienen »Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch - 1815-1914« (DVA 2018), »Das Dritte Reich uns seine Verschwörungstheorien« (DVA 2021) und »Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910« (Pantheon 2022).

Blitzsieg

I

Am 1. September 1939 überschritt die erste von nicht weniger als 60 Divisionen der deutschen Wehrmacht die Grenze zwischen Deutschland und Polen. Fast 1,5 Millionen Mann unterbrachen nur für kurze Zeit ihren Marsch, um den Kameraleuten des Reichspropagandaministeriums unter Joseph Goebbels die Möglichkeit zu geben, die zeremonielle Öffnung der Zollschranken durch grimmig dreinblickende Soldaten der Vorhut zu filmen. Angeführt wurde der Vormarsch von fünf Panzerdivisionen mit jeweils rund 300 Panzern, begleitet von vier voll motorisierten Infanteriedivisionen. Hinter ihnen marschierte das Gros der Infanterie, deren Artillerie und sonstige Ausrüstung in der Hauptsache von Pferden gezogen wurden, für jede Division rund 5000, alles in allem gut 300 000 Tiere. So beeindruckend dies sein mochte, die entscheidende Technik, die von den Deutschen eingesetzt wurde, befand sich nicht auf dem Boden, sondern in der Luft. Im Versailler Vertrag war den Deutschen die Produktion von Militärflugzeugen verboten worden, so daß die deutsche Luftfahrtindustrie gezwungen war, fast ganz von vorn anzufangen, nachdem Hitler nur vier Jahre vor dem Beginn des Krieges die entsprechenden Klauseln des Vertrags nicht mehr anerkannt hatte. Die deutschen Flugzeuge waren nicht nur modern in ihrer Konstruktion, sie waren sogar im Spanischen Bürgerkrieg von der Legion Condor eingesetzt und getestet worden, und viele ihrer Angehörigen saßen jetzt am Steuerknüppel der 897 Bomber-, Jagd- und verschiedener Aufklärungs- und Transportflugzeuge, die nun den Luftraum über Polen beherrschten.1

In der Hoffnung, daß die Invasion durch eine anglofranzösische Intervention aufgehalten würde, und darauf bedacht, nicht die Weltmeinung gegen sich aufzubringen, wenn sie den Anschein erweckte, die Deutschen zu provozieren, schob die polnische Regierung eine Mobilisierung bis zur letzten Minute auf. Somit waren die Polen mehr als schlecht darauf vorbereitet, gegen die plötzliche, massive Invasion deutscher Truppen Widerstand zu leisten. Sie konnten 1,3 Millionen Soldaten aufbieten, besaßen jedoch nur wenige Panzer und verfügten nur über geringe Mengen an moderner Ausrüstung. Die deutschen gepanzerten und motorisierten Divisionen waren den polnischen Verbänden im Verhältnis 15:1 überlegen. Die polnische Luftwaffe konnte gegen die deutschen Kräfte nicht mehr als 154 Bomber- und 159 Jagdflugzeuge einsetzen. Die meisten Maschinen, vor allem die Jagdflugzeuge, waren veraltet, während die polnischen Kavalleriebrigaden erst kurz zuvor begonnen hatten, ihre Pferde durch Panzer zu ersetzen. Geschichten von polnischen Reiterschwadronen, die deutschen Panzern mit eingelegter Lanze entgegenstürmten, dürften erfunden sein, was jedoch nichts an der krassen Diskrepanz im Hinblick auf Material und Ausrüstung ändert. Die Deutschen schlossen Polen von drei Seiten ein, nachdem sie früher im selben Jahr die Tschechoslowakei zerschlagen hatten. Im Süden bildete der deutsche Satellitenstaat der Slowakei das wichtigste Sprungbrett für die Invasion, und die slowakische Regierung entsandte sogar einige Militäreinheiten, die an der Seite der Deutschen in Polen einmarschierten, verlockt durch die Zusage der Übertragung eines kleinen Teils polnischen Territoriums nach einem Sieg über Polen. Weitere deutsche Divisionen überquerten von Ostpreußen aus die nördliche Grenze Polens, während wiederum andere von Westen heranrückten und durch den polnischen Korridor marschierten, der durch die Friedensverträge geschaffen worden war, um Polen einen Zugang zur Ostsee zu verschaffen. Die polnischen Streitkräfte waren zu schwach verteilt, um alle diese Grenzabschnitte wirksam zu verteidigen. Während Sturzkampfbomber (»Stukas«) die an der Grenze auseinandergezogenen polnischen Armeen aus der Luft angriffen, durchbrachen deutsche Panzer und deutsche Artillerie ihre Abwehrstellungen, schnitten sie voneinander ab und unterbrachen ihren Fernsprechverkehr. Innerhalb weniger Tage wurde die polnische Luftwaffe außer Gefecht gesetzt, und deutsche Bomber zerstörten polnische Rüstungsbetriebe, griffen die zurückströmenden Truppen im Tiefflug an und versetzten die Einwohner Warschaus, Krakaus und anderer Städte in Angst und Schrecken.2

Allein am 16. September 1939 warfen 820 deutsche Flugzeuge insgesamt 328 000 Kilogramm Bomben auf die wehrlosen Polen ab, denen im ganzen Land gerade einmal 100 Flugabwehrgeschütze zur Verfügung standen. Diese Angriffe wirkten derart deprimierend, daß in manchen Regionen polnische Soldaten ihre Waffen wegwarfen und deutsche Befehlshaber am Boden darum ersuchten, die Bombenangriffe einzustellen. Ein typischer Angriff wurde von dem amerikanischen Zeitungskorrespondenten William L. Shirer beobachtet, dem die Deutschen die Erlaubnis erteilt hatten, deutsche Truppen beim Angriff auf den polnischen Ostseehafen Gdingen (Gdynia) zu begleiten:

»Die Deutschen setzten alle Arten von Waffen ein, große und kleine Geschütze, Panzer und Flugzeuge. Die Polen besaßen nichts außer Maschinengewehren, Karabinern und zwei Flugzeug-Abwehrgeschützen, die sie verzweifelt als Artillerie gegen deutsche MG-Nester und Panzer einzusetzen versuchten … [Die Polen hatten] zwei große Gebäude, eine Offiziersschule und die lokale Radiostation, in Festungen verwandelt und feuerten mit MGs aus mehreren Fenstern. Nach einer halben Stunde wurde das Dach der Schule von einer deutschen Granate getroffen und in Brand gesetzt. Dann erklomm die deutsche Infanterie den Hügel, unterstützt – durch die Gläser sah es sogar aus, als würden sie geführt – von Panzern, und umzingelten das Gebäude … Ein deutsches Wasserflugzeug kreiste über der Nehrung und bestimmte Ziele für die Artillerie. Später kam ein Bomber hinzu, beide beschossen im Tiefflug aus ihren Bord-MGs die polnischen Linien. Schließlich tauchte eine ganze Staffel Nazibomber auf. Es war eine hoffnungslose Situation für die Polen.«3

Ähnliche Aktionen wiederholten sich während des deutschen Vor-marschs im ganzen Land. Innerhalb einer Woche befanden sich die polnischen Truppen in vollständiger Auflösung, und ihre Befehlsstruktur lag in Trümmern. Am 17. September floh die polnische Regierung nach Rumänien, wo ihre unglücklichen Minister umgehend von den Behörden interniert wurden. Damit war das Land völlig führungslos. Eine am 30. September auf Initiative polnischer Diplomaten in Paris und London gebildete Exilregierung war nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Ein einziger wütender polnischer Gegenangriff in der Schlacht von Kutno am 9. September konnte lediglich die Einkesselung Warschaus um höchstens einige Tage hinauszögern.4

In Warschau selbst verschlimmerte sich die Lage rapide. Chaim Kaplan, ein jüdischer Lehrer, schrieb am 29. September 1939 in sein Tagebuch:

»Es gibt unzählige Pferdekadaver. Sie liegen mitten auf der Straße, und niemand ist da, der sie beseitigt und die Straße säubert. Sie verwesen dort seit drei Tagen und verpesten die Luft. Aber infolge der in der Stadt grassierenden Hungersnot gibt es viele, die Pferdefleisch essen. Sie schneiden sich Fleischstücke ab und verzehren sie, um ihren Hunger zu stillen.«5

Eine der lebendigsten Schilderungen der chaotischen Szenen, die auf die deutsche Invasion folgten, stammt von einem polnischen Arzt, Zygmunt Klukowski. Geboren 1885, war er bei Kriegsausbruch Leiter eines Krankenhauses in Szczebrzeszyn in der Woiwodschaft Zamosz. Klukowski führte ein Tagebuch, das er als einen Akt des Aufbegehrens und des Erinnerns in den verschiedensten Ecken und Winkeln seines Hospitals aufbewahrte. Am Ende der zweiten Septemberwoche vermerkte er die Ströme von Flüchtlingen, die vor den eindringenden deutschen Truppen mitten in der Nacht die Flucht ergriffen, eine Szene, die sich in den folgenden Jahren in vielen Teilen Europas stets aufs neue wiederholen sollte:

»Die ganze Straße war überfüllt von Militärkonvois, allen Typen von Motorfahrzeugen, Pferdewagen und Tausenden von Menschen, die zu Fuß gingen. Alle bewegten sich in eine einzige Richtung – nach Osten. Als der Tag anbrach, machte eine Masse von Menschen zu Fuß und auf Fahrrädern die Verwirrung noch schlimmer. Es war absolut unheimlich. Die ganze Masse von Menschen, von Panik ergriffen, strebte vorwärts, ohne zu wissen, wohin oder warum, und ohne jede Vorstellung, wo der Exodus enden würde. Zahlreiche Personenwagen und einige Limousinen hoher Militärs, allesamt schmutzig und von Schlamm bespritzt, versuchten an den Konvois aus Lastwagen und Fuhrwerken vorbeizukommen. Die meisten Fahrzeuge trugen Warschauer Kennzeichen. Es war eine traurige Angelegenheit, so viele hochrangige Offiziere, darunter Oberste und Generäle, gemeinsam mit ihren Familien fliehen zu sehen. Viele hielten sich an den Dächern und Kotflügeln der Personen- und Lastwagen fest. Viele Fahrzeuge hatten zerbrochene Windschutzscheiben und Fenster, beschädigte Motorhauben oder Türen. Wesentlich langsamer kamen die verschiedensten Bustypen voran, neue Stadtbusse aus Warschau, Krakau und Łódź und alle vollgestopft mit Fahrgästen. Ihnen folgten Pferdewagen jeglicher Bauart, beladen mit Frauen und Kindern, allesamt sehr müde, hungrig und schmutzig. Auf den Fahrrädern saßen zumeist junge Männer; nur gelegentlich war eine junge Frau darauf zu sehen. Diejenigen, die zu Fuß gingen, waren Menschen ganz unterschiedlicher Art. Die einen waren zu Fuß aufgebrochen, andere mußten ihren Wagen herrenlos zurücklassen.«6

Klukowski schätzte, daß bis zu 30 000 Menschen auf diese Weise vor den heranrückenden Deutschen die Flucht ergriffen hatten.7 Es sollte noch schlimmer kommen. Am 17. September 1939 hörte Klukowski über einen deutschen Lautsprecher auf dem Marktplatz von Zamosz die...

Erscheint lt. Verlag 10.8.2023
Übersetzer Udo Rennert, Martin Pfeiffer
Zusatzinfo mit zahlreichen Abbildungen
Sprache deutsch
Original-Titel The Third Reich at War - How the Nazis led Germany from conquest to disaster
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Schlagworte 2023 • 2. Weltkrieg • Antisemitismus • das dritte reich: aufstieg • das dritte reich: diktatur • das dritte reich und seine verschwörungstheorien • Deutschland • Diktatur • Drittes Reich • eBooks • Endlösung • Faschismus • Genozid • Geschichte • Hitler • Holocaust • Luftkrieg • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • Politische Ideologie • Rassenkrieg • Rassismus • Rechtsextremismus • Stalingrad • Standardwerk • tod in hamburg • Totaler Krieg • Totalitarismus • Vernichtungskrieg • Volksgemeinschaft • Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-30696-5 / 3641306965
ISBN-13 978-3-641-30696-0 / 9783641306960
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