Aus ihrer Sicht (eBook)

Roman | Endlich wiederentdeckt: das Hauptwerk der italienischen Ikone
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
640 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77634-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aus ihrer Sicht -  Alba de Céspedes
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Das hochpolitische Schicksal einer Frau im von Faschismus und Patriarchat beherrschten Italien

Rom, 1939. Alessandra wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihre Mutter - ein außergewöhnliches Klaviertalent - wird vom Ehemann ständig in ihre Schranken verwiesen, und so wird Alessandra früh eingebläut, welche Rolle für Frauen vorgesehen ist. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter wird sie vom Vater in ein Dorf in den Abruzzen geschickt, wo sie lernen soll, sich zu fügen. Doch Alessandra ist ein freier Geist, sie politisiert sich und fordert nichts weniger als die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Als sie zurück in Rom den antifaschistischen Philosophen Francesco kennenlernt, scheint sie endlich am richtigen Ort angelangt zu sein. Doch es wird ihr viel zu spät klar, was ihr für die ersehnte Freiheit abverlangt werden wird.

Dieser radikal »aus ihrer Sicht« erzählte Roman ist die Geschichte einer großen Liebe und eines Verbrechens. In einem von Faschismus und dem Patriarchat beherrschten Italien entspinnt sich das intime und hochpolitische Schicksal einer Frau, die das Unmögliche möglich macht: Resignation in Rebellion zu verwandeln.



Alba de Céspedes wurde 1911 in Rom geboren, als Tochter eines kubanischen Vaters und einer italienischen Mutter. Ihr erster Roman fiel wegen seiner zu selbstbestimmten Frauenfiguren der Zensur zum Opfer. Während des Krieges war de Céspedes im aktiven Widerstand und wurde zweimal inhaftiert. Später arbeitete sie als Radio- und Fernsehjournalistin, schrieb Prosa, Lyrik und fürs Theater. Ihre Romane waren internationale Bestseller. Alba de Céspedes starb 1997 in Paris.

Bei Fulvia wurde häufig über Männer gesprochen. Ja, es ging selten um etwas anderes. Besonders im Frühling und im Sommer trafen sich gegen Abend einige Mädchen bei ihr auf dem Balkon, der ihr als Salon diente. Die Mädchen wohnten im selben Haus oder gingen mit ihr zur Schule.

Fulvia stand im Mittelpunkt dieser Treffen. Sie hatte großen Einfluss auf ihre Altersgenossinnen, die ihr wie ich gehorchten. Oft behandelte sie sie schroff und kommandierte sie herum: »Hol mir ein Glas Wasser aus der Küche.« Oder sie sagte: »Ich habe Hunger, ich werde jetzt was essen«, und biss mit einer Taktlosigkeit, die mir peinlich war, vor den hungrigen Augen der anderen in ein in Öl getunktes Brot oder in eine saftige Frucht.

Wenn ihre Mutter nicht da war, erlaubte sich Fulvia, zwei, drei Zigaretten zu rauchen. »Die sind vom Hauptmann«, sagte sie. Wie berauscht sogen wir den blauen Rauch ein. »Das sind aber gute Zigaretten«, sagte Aida. »Mein Bruder raucht bloß Nazionali.« »Das hier sind ägyptische«, erklärte Fulvia. Und der Umgang mit so exotischen Waren machte den mysteriösen Hauptmann noch faszinierender. »Heute hat er Dienst«, ließ Fulvia uns manchmal wissen. An solchen Tagen blieb Lydia zu Hause und lächelte uns gedankenverloren zu wie eine junge Witwe. In ihrem runden Busen, an den sie oft eine Blume steckte, schien eine unbändige Leidenschaft zu wohnen. Wir stellten uns den in die Kaserne beorderten Hauptmann vor wie einen Patrioten im Exil.

Fulvia las uns oft Darios Briefe vor oder einen Zettel, den ihr ein Mitschüler zwischen die Schulhefte gesteckt hatte. Ihre Klassenkameradin Rita behauptete, sogar der Lehrer, ein dreißigjähriger Mann, sei in Fulvia verliebt.

»Ja, und dann gibt er mir doch nur ein Befriedigend«, erwiderte Fulvia.

»Aber du hättest ein Ungenügend verdient.«

Wir lachten, weil wir wussten, dass es stimmte. Maddalena, ein weiches, rosiges Mädchen mit blonden Haaren, das in dieselbe Klasse ging, sagte, auch ihr Bruder Giovanni sei in Fulvia verliebt. Und sie erklärte, seither sei er ein äußerst fürsorglicher Bruder. »Er holt mich sogar am Schultor ab«, sagte sie lachend. Es war offensichtlich, dass sie es gern gesehen hätte, wenn Giovanni mit Fulvia verlobt gewesen wäre (damals bezeichneten wir jeden Flirt zwischen Mädchen und Jungen unseres Alters als Verlobung), und vielleicht hatte er sie sogar gebeten, die Vermittlerin zu spielen, und sie fand Gefallen an dieser pikanten Aufgabe.

»Lass uns beide morgen in den Park der Villa Borghese gehen, Giovanni wird auch dort sein. Wenn es dunkel wird, lasse ich euch allein auf einer Bank.«

»Ja, geh doch mit«, drängten die anderen Mädchen sie. »Geh doch mit, Fulvia.« Es war, als säßen sie in dem dunklen Park alle auf der Lauer.

Ich sah Fulvia ernst an und hätte sie am liebsten am Arm zurückgehalten.

»Dein Bruder gefällt mir nicht«, antwortete sie. »Er sagt immer Signorina zu mir.« Um Maddalena zu kränken, wiederholte sie: »Er muss ein Idiot sein.« Maddalena wehrte sich gegen diese Unterstellung, als stünde durch den Spott ihrer Freundin der Ruf ihrer ganzen Familie auf dem Spiel.

Als wir einmal alle auf dem Balkon zusammensaßen, fragte Fulvia Maddalena: »Ich sehe deinen Bruder ja gar nicht mehr. Was macht er denn so, ist er ins Priesterseminar eingetreten?«

Alle lachten und verspotteten ihn. Aida ahmte die Haltung eines Priesters nach, verdrehte die Augen und tat so, als leierte sie den Rosenkranz herunter.

Maddalena sah sie mit verhaltener Wut an. »Lacht nur«, sagte sie, »lacht nur. Wenn ihr wüsstet, was ich in der Schublade meines Bruders gefunden habe …«

»Was denn?«, fragten die anderen sofort.

Maddalena antwortete nicht, sondern wiederholte: »Lacht nur, lacht nur über Giovanni.«

»Was hast du denn gefunden? Liebesbriefe von Greta Garbo?«, erkundigte sich Fulvia geringschätzig.

»Nein, das Foto einer splitternackten Frau, die ihr Gesicht hinter den Händen verbirgt. Einer wunderschönen Frau.«

Es wurde still. Die Mädchen sahen zunächst Maddalena an, voller Bewunderung, weil sie ein solches Geheimnis kannte, und dann Fulvia, die in ihren Augen den Kürzeren gezogen hatte. Aber Fulvia war mit einem Satz auf den Beinen.

»Schöner als ich?«, fragte sie, ließ ihren Morgenmantel fallen und stand nun nackt vor dem grauen Wasserbehälter.

Die Mädchen schrien auf und starrten sie an. Ich wandte den Blick ab, noch bevor ich die Formen ihres Körpers klar erkennen konnte, und lief weg. Ich durchquerte die Küche, den dunklen Flur. Als ich die Hand auf die Türklinke legte, holte Fulvia mich ein.

Sie war immer noch nackt, presste aber, um sich zu bedecken, den Morgenmantel an sich. Sie stürzte auf mich zu und drängte mich in die Ecke neben der Wohnungstür. Ich sah ihr Gesicht und ihre Schultern als einen verschwommenen weißen Fleck.

»Du verachtest mich, stimmt’s?«, sagte sie und drückte sich an mich, damit ich nicht wegkonnte.

Meine Kräfte verließen mich. »Lass mich los«, flüsterte ich.

»Du verachtest mich, stimmt’s«, fragte sie noch einmal und streichelte mein Gesicht. »Du hast Recht«, murmelte sie. »Entschuldige. Los, geh. Verschwinde, Alessandra. Geh.«

Sie strich mir übers Haar und küsste mich zärtlich wie eine kleine Schwester. Dann öffnete sie die Tür und schob mich hinaus.

Als sie zum Balkon zurückging, hörte ich sie sagen: »Die blöde Gans ist schon weg.«

Etwa einen Monat lang sah ich sie nicht mehr. Dabei wäre ich am liebsten sofort wieder zu ihr gelaufen, um sie um Verzeihung zu bitten. Ich hörte sie singen und lachen und sehnte mich nach ihr. Mir war, als sei ich diejenige, die im Unrecht war, ich, die ihren Körper empfand wie eine Schuld. Wie gern hätte ich ihr von Alessandros Anwesenheit erzählt, aber ich traute mich nicht. Ich fürchtete, ich könnte unter einer angeborenen Anomalie leiden, so als würde ich einen Pferdefuß in meinem Schuh verbergen. Damals las ich in der Zeitung von einem Mädchen, das mit zwanzig Jahren entdeckte, dass sie ein Mann war. Ich schnitt den Artikel aus und versteckte ihn in einem Buch. Es gelang mir nicht, mich als ein Mädchen wie alle anderen zu betrachten. Vor allem schien mir die Offenherzigkeit meiner Freundinnen viel redlicher zu sein als meine unaufrichtige Zurückhaltung.

Als ich einmal auf dem Balkon saß und die alten Socken meines Vaters stopfte, rief mich Fulvia:

»Alessandra!«

Ich schaute nach oben und sah, dass sie aufgebracht war.

»Komm rauf«, sagte sie mit einer Regung weiblicher Verbundenheit, ohne nochmals auf den Vorfall auf dem Balkon einzugehen. »Sie haben Aidas Bruder verhaftet«, erklärte sie, kaum dass ich in ihrer Wohnung war. Sie nahm meinen Arm und dirigierte mich in ihr Zimmer, als hätten wir uns erst vor einer Stunde getrennt.

Aida saß mit ernstem Gesicht auf dem Bett, die anderen Mädchen rings um sie her. Maddalena hielt eine Puppe auf dem Schoß.

»Was hat er denn angestellt?«

Anstatt mir zu antworten, sahen die anderen mich nur zögernd an. Ich vermutete einen peinlichen Grund, über den niemand sprechen wollte.

»Hat er gestohlen?«, fragte ich mit leiserer Stimme.

Ich hatte Aidas Bruder nie gesehen. Ich wusste, dass er Antonio hieß und eine Buchdruckerlehre machte. Wir kannten seine Vorlieben, seine Fehler und seinen Charakter wie die von allen Brüdern unserer Gefährtinnen. Die Schwestern erzählten nur beiläufig von ihnen, weil ihre verwandtschaftliche Nähe sie daran hinderte, etwas Reizvolles an ihnen zu entdecken. Aber dieser Antonio, der Aida zufolge ein schweigsamer, scheuer Bücherwurm war, hatte mich schon immer interessiert. Der Gedanke, er könnte aus Habgier gestohlen haben, war mir unangenehm.

»Nein«, sagte Aida mit einem vielsagenden Blick. Alle schauten mich ernst an.

Ich fragte noch leiser:

»Also was dann?«

»Er ist mit Kommunisten zusammen verhaftet worden«, antwortete Aida schließlich.

Ensetzt schlug ich mir die Hand vor den Mund und ließ mich neben Fulvia auf einen Stuhl fallen.

Keine von uns wusste, was dieses Wort eigentlich bedeutete, aber wir hatten es noch nie gewagt, es auszusprechen. Es gehörte ebenso wenig zu unserem Wortschatz wie derbe oder unflätige...

Erscheint lt. Verlag 13.2.2023
Sprache deutsch
Original-Titel Dalla parte di lei
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber
Schlagworte Abruzzen • aktuelles Buch • Antifaschismus • Benito Mussolini • bücher neuerscheinungen • Das verbotene Notizbuch • Elena Ferrante • Emanzipation • female empowerment • Fidel Castro • Frauenschicksal • Freundschaft • Ikone • Liebe • Männerwelt • Mussolini • Muttertag • Neuerscheinungen • neues Buch • Rebellion • Resistenza • Rom • Saga • Spannung • Studentenbewegung • Studentenproteste • Unterdrückung • weibliche Psychologie • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-458-77634-6 / 3458776346
ISBN-13 978-3-458-77634-5 / 9783458776345
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