Mameleben (eBook)

oder das gestohlene Glück
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2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61335-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mameleben -  Michel Bergmann
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Großartig und nervtötend, liebevoll und erdrückend, aufopfernd, aber auch übergriffig - Michel Bergmann liebt seine Mutter Charlotte und hält sie manchmal nicht aus. Er erzählt in diesem Buch, in dem er nichts und niemanden schont, die Geschichte dieser eigenwilligen, starken Frau: ihre Vertreibung aus Deutschland, der Verlust fast der gesamten Familie, das Glück, ihren künftigen Ehemann wiederzufinden, und dennoch ein Schicksal, bei dem sie allzu oft ganz auf sich allein gestellt ist. »Wir lachen und weinen beim Lesen und beglückwünschen den Autor zu einem grandiosen, unvergesslichen Buch, aus Schmerz und Liebe geschrieben.« Elke Heidenreich / Der Spiegel, Hamburg

Michel Bergmann wurde 1945 als Kind internierter jüdischer Flüchtlinge in Riehen bei Basel geboren. Seine frühe Kindheit verbrachte er in Paris, seine Jugend in Frankfurt a.M. Nach dem Studium arbeitete er als Journalist, unter anderem bei der ?Frankfurter Rundschau?, später als Regisseur und Produzent, seit 1990 auch als Drehbuchautor (u.a. ?Otto - Der Katastrofenfilm?, ?Es war einmal in Deutschland ...?). 2010 erschien sein erster Roman ?Die Teilacher?, dem bislang sechs weitere Bücher folgten. Michel Bergmann lebt in und bei Berlin.

Michel Bergmann wurde 1945 als Kind internierter jüdischer Flüchtlinge in Riehen bei Basel geboren. Seine frühe Kindheit verbrachte er in Paris, seine Jugend in Frankfurt a.M. Nach dem Studium arbeitete er als Journalist, unter anderem bei der ›Frankfurter Rundschau‹, später als Regisseur und Produzent, seit 1990 auch als Drehbuchautor (u.a. ›Otto – Der Katastrofenfilm‹, ›Es war einmal in Deutschland ...‹). 2010 erschien sein erster Roman ›Die Teilacher‹, dem bislang sechs weitere Bücher folgten. Michel Bergmann lebt in und bei Berlin.

1941 in Paris. Thea, die Cousine meiner Mutter, hat bereits vor dem Krieg ihren Freund Alfred Levy geheiratet und ist Mutter geworden. Der kleine Jean ist drei Jahre alt, als sein Vater im Sterben liegt. Gemeinsam mit Lotte bewohnt die kleine Familie inzwischen eine Dachwohnung in der Rue du Temple im 4.Arrondissement. Schon immer waren die beiden Cousinen auch die besten Freundinnen. Seit ihrer gemeinsamen Kindheit in Zirndorf sind sie eng verbunden. Niemand ist meiner Mutter so nah wie Thea, näher auch als ihre Geschwister.

Alfred ruft meine Mutter zu sich an das Bett. Es bleibt ihm nicht mehr viel Zeit, und es gibt etwas zu besprechen. Er nimmt Lottes Hand und bittet sie zu schwören, dass sie sich um Thea und den kleinen Sohn kümmern wird. Der Krieg, die Deutschen in Frankreich, die beginnende Verfolgung der Juden, all das besorgt ihn zutiefst. Und nun muss er diese Welt verlassen wegen eines verdammten Hirntumors, und niemand bleibt, um seine Frau und sein Kind zu schützen. Außer Lotte.

Keine Frage für die junge Frau. Sie verspricht, bei Thea und Jean zu bleiben.

Einige Tage später ist Alfred Levy tot.

Ein Jahr später kann Lotte nichts mehr für ihre Cousine tun. Die beiden verlieren sich während der Razzien im Marais, und meine Mutter wird nach Gurs deportiert. Dort sorgt sie sich weniger um ihr eigenes Leben als um das ihrer Cousine und das deren Sohns. Sie befürchtet das Schlimmste. Bei ihrer letzten Begegnung in Paris haben die beiden jungen Frauen vereinbart zu versuchen, in die Schweiz zu gelangen.

Im Frühjahr 1943 befindet sich meine Mutter mit ihren gefälschten Papieren mitten im besetzten Frankreich, auf der Flucht in Richtung der Schweizer Grenze. Sie fühlt sich einigermaßen sicher. Sie sieht aus, wie eine Französin aussehen muss. Ohne irgendwelche Unannehmlichkeiten schafft sie es, sich bis nach Lyon durchzuschlagen, wo sie sich beim Roten Kreuz einfindet und sich nach Thea Levy erkundigt. Hier erfährt sie zu ihrer großen Erleichterung, dass Thea sich mit ihrem Sohn auf einem Bauernhof bei Pontarlier befindet, im französischen Jura, unweit der Schweizer Grenze. Etwa fünfzig Jüdinnen aus einem Internierungslager bei Grenoble werden dort oben als Erntehelferinnen eingesetzt. Pontarlier ist der letzte östliche deutsche Außenposten im besetzten Teil Frankreichs. Meine Mutter macht sich auf den Weg.

Der Zug ist nicht voll besetzt, sodass Lotte ein Abteil für sich hat und hinausschauen kann in die bergige Landschaft. Aus dem Abteil nebenan vernimmt sie deutsches Lachen und deutsche Worte. Es sind die Wehrmachtssoldaten, die ihr bereits am Bahnsteig in Lyon aufgefallen sind und denen sie sofort aus dem Weg gegangen ist. Sie möchte unbedingt vermeiden, von den Deutschen unverfroren angeglotzt und womöglich noch angesprochen zu werden. Ihre Haare und ihr halbes Gesicht verbirgt sie unter einem Kopf‌tuch. Ihre wenigen Habseligkeiten passen in einen Reisekorb, wie ihn Landfrauen benutzen.

Sie ist voller Sorge. Wo sind ihre Eltern? Es heißt, sie wurden nach dem Osten deportiert. Was ist dran an den schrecklichen Gerüchten über diese Todeslager? Was ist mit ihren Geschwistern und deren Kindern passiert? Wo stecken die Bergmanns? Hat es Peter in die Schweiz geschafft?

Und während sie hinausschaut in die karge Landschaft des französischen Jura, wird ihr klar, dass sie seit über zehn Jahren nicht mehr die Herrin über ihr Schicksal ist. Dass sie fremdbestimmt wird, dass jeder ihrer Schritte aufgezwungen ist! Die Schule musste sie verlassen, Abitur konnte sie nicht machen, nach Paris musste sie fliehen, sich dort verstecken, schwarzarbeiten, den Vergnügungen eines jungen Lebens wie Varieté, Kino oder Tanz nur unter größter Gefährdung nachgehen.

Sie ist siebenundzwanzig. Keine Stunde in den vergangenen zehn Jahren ohne Angst, ohne Herzklopfen. Und auch heute, im Schutz einer falschen Identität, ist sie wie aufgeschrecktes Wild, jederzeit bereit zur Flucht.

Sie macht keinen Schritt, ohne sich umzuschauen, sie betritt keinen Raum, ohne sich über eventuelle Fluchtmöglichkeiten im Klaren zu sein. Auch hier im Zug weiß sie genau, wie lange sie braucht, um zur Wagentür zu rennen, und vor allem, wie sie geöffnet wird. Und für alle Fälle hat sie ganz oben in ihrem Reisekorb ein Messer! Und ein Menschenleben später sagt sie mir, dass sie es auch benutzt hätte, und ich habe keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln.

So lang liegen sich die beiden Frauen in den Armen, dass der französische Gendarm, der als Hilfspolizist für die Deutschen fungieren muss und der die Arbeiterinnen bei der Ernte beaufsichtigt, die Begrüßung mit den Worten »Arrêtez maintenant!« unterbindet. Lotte und Thea fassen sich an den Händen, und meine Mutter begleitet ihre Cousine zurück auf das Feld. Thea berichtet, dass die gefangenen Frauen abends in einen leeren Pferdestall kommen, der anschließend verschlossen wird. Der kleine Jean ist mit anderen Kindern auf dem nahen Bauernhof untergebracht. Thea und Lotte planen ihre Flucht. Lotte wird sich um alles kümmern.

Das Hôtel de la Poste in der Rue de la République dient in diesen Jahren gleichzeitig als das hiesige Hauptquartier der deutschen Besatzungsarmee. Es ist strategisch geschickt von meiner Mutter, sich in diesem Hotel ein Zimmer zu nehmen. Welches Lamm würde sich freiwillig in die Höhle des Löwen begeben? Niemand ist deshalb argwöhnisch, als sich eine junge, hübsche Französin namens Therese Martin aus Colmar an der Rezeption anmeldet und den Schlüssel für ihr Zimmer erhält. Abends schleicht sich Lotte am voll besetzten Restaurant des Hotels vorbei, wo die deutschen Soldaten essen, trinken und grölen. Sie läuft gegenüber in die Bäckerei und kauft sich ein Baguette. Danach setzt sie sich dem nahen Rathaus gegenüber auf eine Bank und isst ihr Brot. Und sie macht einen Plan.

 

Der kleine Jean kann sich fast nicht mehr an seine Tante Charlotte erinnern. Als er sie zum letzten Mal gesehen hat, konnte er kaum sprechen und begann gerade zu laufen. Trotzdem freut er sich jeden Morgen, wenn die Tante ihn auf dem Bauernhof der Familie Girard besuchen kommt, um mit ihm zu spielen. Die Girards betreuen zurzeit fünfzehn Kinder und sind für jede Entlastung dankbar.

Lotte hat sich einen tragbaren Hasenkäfig ausgeliehen.

Ein quadratischer Kasten aus rohem Holz, vorn ein Türchen aus Maschendraht, an der hinteren Seite zwei Lederriemen, um den Kasten wie einen Rucksack auf die Schultern zu nehmen. So trägt die Bäuerin die Kaninchen zum Markt. Lotte legt den Kasten mit Stroh aus und bittet den kleinen Jean hineinzusteigen. Das sei doch ein tolles Versteck, meint sie.

Doch der Junge weigert sich: »Non! Je ne suis pas un lapin!«, ruft er und läuft davon. Lotte fängt ihn spielerisch ein, will ihn dazu bewegen, in den Kasten zu steigen. Vergebens. Morgen wird sie es wieder versuchen.

 

Eine Woche später. Alles ist vorbereitet. Alex Girard, der Bauer, hat einen Bruder, Fabien, der in Les Granges d’Agneaux, unmittelbar an der Grenze zur Schweiz, eine Tankstelle mit Autowerkstatt besitzt. Und einen Kleinlaster von Citroën, ein Dreirad. Außerdem hat Fabien Kontakt zur Résistance, zur richtigen Seite also. Um 22 Uhr wird er am Ortsausgang warten. Eine Viertelstunde, nicht länger.

Die Zeit drängt. Thea ist nicht mit in den Pferdestall gegangen, sondern hat sich in einem der Heuhaufen versteckt, bis Dunkelheit und Ruhe eingekehrt sind.

Jetzt kriecht sie aus ihrem Versteck und läuft in die Nacht. Sie meidet die Straße. Durch den Wald ist es ein Umweg, aber es ist sicherer.

Lotte hat inzwischen den schlafenden Jean in den Hasenkasten gelegt und hievt ihn gemeinsam mit Bauer Girard auf die Ladefläche des Hängers.

Ungeduldig warten die beiden auf Thea, die irgendwann am Horizont auf‌tauchen muss. »Hoffentlich ist alles gut gegangen«, sagt Lotte. »Klar«, sagt der Bauer und hält Lotte eine Flasche Rotwein unter die Nase. Sie nimmt einen großen Schluck.

Thea tritt aus dem Wald und erkennt im hellen Mondlicht in der Ferne schemenhaft die Umrisse des Bauernhofs. Sie rennt los.

 

Zehn Minuten später knattert der Trecker durch die Nacht. Bauer Girard nimmt die Strecke, die die Deutschen »Schlucht« nennen und die ihnen nicht geheuer ist. Neben der unbefestigten Straße geht es rund dreihundert Meter steil nach unten. Thea sitzt auf der Ladefläche des Anhängers und hält den Hasenkäfig fest. Sie wagt es nicht, nach unten zu schauen.

Es ist kurz vor 22 Uhr, als der Traktor an einer Weggabelung vor Les Granges d’Agneaux hält. Alex Girard pfeift zweimal kurz ins Dunkle. Dann taucht Fabien auf. Wortlos nimmt er den Hasenkäfig vom Anhänger und bringt ihn zum Citroën, der am Waldrand steht. Die Frauen mit ihren Rucksäcken folgen.

Vorher haben sie den Bauern kurz und ungelenk in die Arme genommen, er hat ihnen viel Glück gewünscht und danach den Traktor wieder gestartet.

Dieses Mal liegt Lotte mit dem Hasenkäfig unter der Plane des Kleinlasters. Thea sitzt vorn, neben Fabien. Sie hat bitter gefroren und muss sich erst einmal ein wenig aufwärmen. Jean quengelt und weint, und es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er sich schließlich beruhigt.

Auf einer Anhöhe bleibt Fabien stehen, macht die Scheinwerfer aus und danach den Motor. Er starrt in die Ferne, hinunter ins Tal. Nach etwa acht Minuten sieht man irgendwo ein schwaches Licht leuchten. Fabien nimmt ein Fernglas hoch und schaut konzentriert durch die Windschutzscheibe. Er folgt den Lichtern etwa drei Minuten lang, dann lässt er das...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2023
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Schlagworte 20. Jahrhundert • Alte Dame • Biographie • Deutschland • Einsamkeit • Emigration • Erzählendes Sachbuch • Familiengeschichte • Filmemacher • Frankfurt • Frankreich • Generationenkonflikt • Holocaust • Juden • Judentum • Jüdisch • Nationalsozialismus
ISBN-10 3-257-61335-0 / 3257613350
ISBN-13 978-3-257-61335-3 / 9783257613353
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