Der Putsch (eBook)
368 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11991-6 (ISBN)
Sven Felix Kellerhoff, geboren 1971 in Stuttgart, studierte Zeitgeschichte, Alte Geschichte und Medienrecht. Seit mehr als 20 Jahren ist er Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der Welt. Er ist Autor zahlreicher zeithistorischer Sachbücher, unter anderem über Hitlers 'Mein Kampf' und über die NSDAP (beide erschienen bei Klett-Cotta).
Sven Felix Kellerhoff, geboren 1971 in Stuttgart, studierte Zeitgeschichte, Alte Geschichte und Medienrecht. Seit mehr als 20 Jahren ist er Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der Welt. Er ist Autor zahlreicher zeithistorischer Sachbücher, unter anderem über Hitlers "Mein Kampf" und über die NSDAP (beide erschienen bei Klett-Cotta).
Eine Posse – was denn sonst? Auf den ersten Blick erweckten die Vorgänge in München am 8. und 9. November 1923 den Eindruck eines »Operettenputsches«: Da war bald nach 20.30 Uhr ein nicht mehr ganz junger, etwas linkischer Mann in Regenmantel und abgetragenem Anzug mitten in eine laufende Versammlung im Bürgerbräukeller am Rande der Münchner Innenstadt geplatzt und zum Podium gestürmt; dort hatte er sich auf einen Stuhl gestellt, eine Pistole gezogen und in die Decke geschossen. Anschließend hatte er die Regierung in Berlin für abgesetzt erklärt. Weniger als 16 Stunden später war derselbe nicht mehr ganz junge Mann an der Spitze eines Zuges von zwei- bis dreitausend Anhängern kaum zwei Kilometer entfernt an der Feldherrenhalle ins Gewehrfeuer von Polizisten geraten, zu Boden gestürzt und geflüchtet, während anderthalb Dutzend Tote und tödlich Verletzte auf dem Pflaster liegen blieben. Nicht einmal die Straßenbahnen hatten wegen der Ereignisse ihren Betrieb wesentlich einschränken müssen, und die meisten Deutschen bekamen erst aus den Zeitungen davon überhaupt etwas mit.
An eine »Zirkusszene« fühlte sich die Vossische Zeitung am 10. November 1923 erinnert; im Berliner Tageblatt trug der Leitartikel am selben Tag die Überschrift »Das Ende der Hanswurstiade«. Dem Vorwärts erschien der ganze Vorgang »jämmerlich«, während die Berliner Morgenpost über den »Spuk« spottete. Das Stuttgarter Neue Tagblatt nannte die Akteure »Dilettanten der schlimmsten Sorte«.[1]
Nicht anders sahen es Zeitungen in Österreich und der deutschsprachigen Schweiz. Die Wiener Reichspost diagnostizierte eine »Revolution des Phrasenheldentums«, die Neue Zürcher Zeitung ein »Fiasko«. Das Unternehmen habe »nirgends in Bayern Nachahmung gefunden«, meldete das Oberländer Tageblatt. Das Salzburger Volksblatt befand, die Anführer seien offenbar der »Primadonnen-Eitelkeit zum Opfer gefallen«.[2]
Auch jenseits des deutschsprachigen Mitteleuropas dominierten abschätzige Meinungen. Eine »Karnevalsposse« habe in München stattgefunden, schrieb der Niuwen Rotterdamschen Courant; es sei »operettenhaft« zugegangen, kommentierte der Corriere della Sera aus Mailand. Das Budapester Blatt Az Ujsbg hielt die Geschehnisse für »ganz einfach lächerlich«, der Manchester Guardian wunderte sich über die »Feigheit der Gefolgschaft«, derentwegen der Putsch so rasch zusammengebrochen sei, und das Stockholmer Dagbladet konstatierte einen »hoffnungslosen Versuch«. Dazu passte die Bewertung jenseits des Atlantiks: Der New York Herald sah einen »Sturm im Wasserglas«, die New York Times einen »schmählichen Zusammenbruch« und die Boston Post einen »schweren Reinfall«.[3]
In der Presse Frankreichs überwog Häme. La Victoire druckte die Schlagzeile »Nicht einmal 24 Stunden Diktatur!«. Das Echo de Paris stellte befriedigt fest: »Alles in allem ist Deutschland ohnmächtiger, als wir es uns gewöhnlich vorstellen.« Die rechtsextreme Zeitung Action Francaise freute sich triefend von Zynismus: »Wir haben eine ruhige Zukunft vor uns, denn wir haben mit den Deutschen stets Frieden gehabt, wenn sie sich untereinander schlugen, sonst aber niemals. Gott sei Dank schwärmen sie für den Bürgerkrieg.«[4]
Völlig anders stellten die Nationalsozialisten den 8. und 9. November 1923 dar. Die Hitler-Bewegung machte den fehlgeschlagenen Coup zu ihrem – neben der Verkündung des einzigen Parteiprogramms am 24. Februar 1920 – zweiten, nämlich mythisch aufgeladenen Gründungsakt. Die NSDAP-eigene Tradition behandelte die »Ausrufung der nationalen Revolution im Bürgerbräukeller« und das anschließende »Blutbad an der Feldherrnhalle« ausführlich.[5] Entsprechend verklärten überzeugte Nazis die Ereignisse rückblickend als »Opfergang deutscher Männer und Frontsoldaten« oder als den Beginn der »nationalen Erhebung«, die »das Schicksal der deutschen Nation zu wenden« versucht habe.[6] Wer dabei gewesen war, bekannte sich voll Stolz – seit dem zehnten Jahrestag gab es sogar eine Auszeichnung für jene, die mitmarschiert waren, das »Ehrenzeichen des 9. November 1923«. Diesen Namen benutzte aber kaum jemand, gängig war die Bezeichnung »Blutorden«, angelehnt an die – tatsächlich oder angeblich – mit dem Blut bei der Schießerei gestorbener Putschisten getränkte »Blutfahne«, die zentrale Reliquie der Hitler-Bewegung. Mit ihr wurden alle wichtigen Flaggen und Standarten »geweiht«.
Von 1926 bis 1944 beging die Partei Jahr für Jahr vom Abend des 8. bis zum 9. November mittags ihren wichtigsten Feiertag, den »Reichstrauertag der NSDAP«. Gedenkartikel erschienen, die meisten Parteigliederungen trafen sich und hörten pathetische Reden. Von 1927 fand die zentrale Versammlung jährlich bis 1939 im Bürgerbräukeller statt, danach noch fünfmal im Löwenbräukeller. Die Hauptansprache hielt außer 1944 stets der Parteiführer persönlich; auch noch, nachdem der gescheiterte Tyrannemordversuch von Georg Elser 1939 den Schauplatz der Ereignisse schwer beschädigt hatte und die Veranstaltung verlegt werden musste. Obwohl ein so feststehender Termin an einem bekannten Ort im Krieg ein hohes Risiko für Luftangriffe bedeutete, variierte Hitler lediglich die Uhrzeit seiner Auftritte.[7] Einmal nutzte die britische Royal Air Force (RAF) die Gelegenheit: In der Nacht vom 8. auf den 9. November 1940, Hitlers Rede war schon längere Zeit vorüber, warfen 17 britische Bomber über Münchens Innenstadt Spreng- und Brandladungen ab, ohne größeren Schaden anzurichten; registriert wurden acht Verletzte. Die behaupteten schweren Treffer des Löwenbräukellers und die angeblich nötige Unterbrechung der Feier waren Erfindungen der britischen Propaganda.[8]
Schon seit dem zehnten Jahrestag des Putsches 1933 erinnerte an der Schmalseite der Feldherrenhalle in der Residenzstraße eine Bronzetafel an die »16 Gefallenen des 9. November 1923«. Neben dem Mahnmal standen stets zwei SS-Leute »ewige Wache« und achteten darauf, dass jeder Passant den Toten den »Deutschen Gruß« entbot – wer das nicht tun wollte, wählte als Umweg die Viscardigasse, die im Volksmund bald »Drückebergergasserl« hieß. Am Königsplatz, dem Zentrum des Parteibezirks in der Maxvorstadt, ließ die NSDAP 1935 zwei »Ehrentempel« errichten, in denen seit dem zwölften Jahrestag die Särge der toten Putschisten standen.
Auf dieses völlig verzerrte Bild der Ereignisse folgte nach 1945 ein weiteres, das in anderer Art schief war. Die meisten Historiker, die über Hitler oder die Frühgeschichte des Nationalsozialismus schrieben, schilderten den Ablauf entlang der offiziellen Berichte von 1923/24 und orientierten sich an zeitgenössischen Beobachtern. Alan Bullock zum Beispiel, der Autor der ersten bedeutenden Hitler-Biografie, nannte den Putsch einen »Bluff«; Joachim Fest, Autor des lange wesentlichen Standardwerks über den deutschen Diktator, attestierte dem Geschehen »viele Elemente von Posse und Brigantentum«. Marlis Steinert hielt die Einzelheiten für »historisch kaum von Interesse«, Ian Kershaw sah ein »Abenteuer« und Hans Mommsen »eine ziemlich dilettantische Angelegenheit«, während Volker Ullrich die »burlesken Züge« betonte.[9]
Aber treffen diese Urteile zu? War Hitlers erster Griff nach der Macht tatsächlich so aussichtslos? Handelte es sich um ein von vorneherein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen? Oder waren die Ereignisse jener rund 16 Stunden vielleicht das so natürlich nicht vorgesehene Ende eines ganz anderen Plans? Eines Vorhabens, das größer angelegt war als nur auf die wenigen Quadratkilometer der Münchner Innenstadt vom Bürgerbräukeller rechts der Isar bis zum Odeonsplatz zu zielen?
Zieht man die Gesamtheit der zeitgenössischen Quellen, also neben den offiziellen bayerischen Dokumenten und den zeitgenössischen Zeitungen auch die leider nur indirekt und auszugsweise überlieferten Ergebnisse der Ermittlungen, die Zeugenaussagen während des Prozesses gegen Hitler 1924, ferner das vom NSDAP-Hauptarchiv gesammelte Material sowie weitere Bestände heran, entsteht eine neue Perspektive, aus der sich viele der sonst meist übergangenen offenen Fragen zwanglos klären. Sie führt zu der Erkenntnis, dass es mehr als eine Phrase war, wenn Hitler 1922/23 so oft von einem »Marsch auf Berlin« sprach. Auch war es kein Zufall, dass sich gerade zwischen dem 3. und dem 6. November 1923 die Lage so sehr zuspitzte. Und es...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Schlagworte | Adolf Hitler • Antisemitismus • Bürgerbräukeller • Erich Ludendorff • Faschismus • Gewalt • Heinrich Himmler • Hermann Göring • Hitlerputsch • krisenjahr 1923 • München • Mussolini • Nationalsozialismus • NSDAP • Revolution • SA • Versailler Vertrag • Weimarer Republik |
ISBN-10 | 3-608-11991-4 / 3608119914 |
ISBN-13 | 978-3-608-11991-6 / 9783608119916 |
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