Es ist 5 Uhr und um 6 werde ich erschossen (eBook)
192 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-51003-4 (ISBN)
Robert Blum (1807-1848) war einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Revolution von 1848. Geboren in ärmlichen Verhältnissen in Köln eignete sich Robert Blum aus eigener Kraft ein breites literarisches und historisches Wissen an. Als Autor und Publizist und kämpfte er gegen die erstarrte Herrschaftsordnung in den deutschen Ländern.
Robert Blum (1807-1848) war einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Revolution von 1848. Geboren in ärmlichen Verhältnissen in Köln eignete sich Robert Blum aus eigener Kraft ein breites literarisches und historisches Wissen an. Als Autor und Publizist und kämpfte er gegen die erstarrte Herrschaftsordnung in den deutschen Ländern. Gabriele Gillen, geboren 1958, studierte Politik- und Theaterwissenschaften und ist Absolventin der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. Seit 1988 ist sie Redakteurin für Politik und Kultur beim Westdeutschen Rundfunk.
Ein Blick in das Leben des Erzgebirges
Der gewaltige Notruf, welcher aus dem sächsischen Erzgebirge schon beim Beginn des Winters erscholl, und trotz des Aufgebots aller Kräfte und Mittel der lebhaft angeregten Wohltätigkeit sich kaum verminderte, hat die Blicke nicht nur in Sachsen, sondern fast in ganz Deutschland auf jenen Landstrich gelenkt, welcher durch den gänzlichen Verfall der nährenden Industriezweige dem Verderben preisgegeben scheint.
Ist auch das Erzgebirge im Allgemeinen ein armer Landstrich, in dem der widerstrebende Boden und die Rauheit des Klimas gleichmäßig auf eine sehr geringe Fruchtbarkeit desselben wirken, der Bergbau schon lange seinen Arbeitern nur das kümmerlichste Dasein gewährt, die Kattunweberei und Strumpfwirkerei eben im letzten Stadium des verzweifelten Kampfes liegen, welchen nach dem Gang fabrikmäßiger Industrieentwicklung die Hausindustrie überall mit der Fabrikation in geschlossenen Fabriketablissements kämpft, dem sie überall erliegen muss; die Fabrikation von Holz- und Spielwaren sich teils überlebt hat, teils gegen die mächtigere Konkurrenz zurückgeblieben ist; die Leinwandindustrie unter der allgemeinen Verkümmerung schmachtet, der sie in ganz Deutschland preisgegeben ist, und die Band- und Posamentierwarenfabrikation[15], trotzdem dass sie als der blühendste Erwerbszweig betrachtet werden kann, es nicht vermag, die allgemeine Geschäftskalamität auszugleichen, so ist es doch vorzugsweise die raueste Gegend des Erzgebirges, deren Bevölkerung sich mit dem einst so einträglichen Spitzenklöppeln beschäftigt, welche dem größten Mangel und Elend erliegt. – Die Schilderungen dieser allgemeinen Not sollen indessen hier nicht um eine vermehrt, vielmehr in einem kleinen Bildchen das Leben des Erzgebirges geschildert werden. Die viel genannten Dörfer Rittersgrün und Großpöhla, ersteres mit gegen 3000, letzteres mit etwa 1600 Einwohnern, die sich fast sämtlich mit Klöppeln ernähren, mögen den Anhaltspunkt dazu bieten. In diesen, also ziemlich großen Dörfern gibt es selbst für die Männer außer dem Klöppeln wenig Verdienst; wenige nur nähren sich als Hochöfner auf dem benachbarten Hammerwerk und verdienen daselbst bei einer schweren Arbeit wöchentlich 1 Taler, wofür sie abwechselnd Tag und Nacht arbeiten müssen, denn diese Werke stehen von Montagfrüh bis Sonnabendabend niemals still. Noch weniger verdienen die Waldarbeiter, die zudem noch von der Witterung abhängen und im Winter gänzlich feiern müssen. Daher ist nichts natürlicher, als dass auch die Männer zum Klöppeln greifen und Knaben wie Mädchen die Klöppelschule (in Rittersgrün) besuchen, Männer wie Frauen am Klöppelkissen sitzen.
Mit dieser Arbeit nun vermögen ein Paar geschickte Hände bei dem anhaltendsten Fleiße in guten Zeiten 4–5 Reichsgroschen täglich zu verdienen; dazu gehört aber nicht allein die höchste Ausbildung im Fache, also der Besuch der Klöppelschule von frühester Kindheit an, sondern auch die sauberste und geschmeidigste, von keiner rauen Arbeit »verdorbene Hand«. Deshalb verrichten auch die Männer, deren Hände zur feineren – und lohnenderen – Arbeit fast stets zu ungeschickt sind, besonders im Winter die häuslichen Arbeiten wie Heizen, Kehren, Kochen usw. und überlassen die Erwerbsarbeiten der Frau und den Kindern.
Die Wohnungen geben den Hütten der Proletarier, wie sie uns aus London, Manchester und anderen großen Städten geschildert werden, wenig nach an Armut und Elendigkeit. Schon das äußere Ansehen der Häuser verrät das Elend, welches drinnen wohnt: Die meisten haben nur ein Erdgeschoß und darauf ein großes Schindeldach. Die allgemeine Verarmung hat auch die Besitzer dieser Hütten nicht geschont, und ein Haus, welches noch ein Stockwerk über dem Erdgeschosse hat, ist fast ebenso selten als eines, welches nicht äußerlich und innerlich die Spuren des Verfalls und versäumter Ausbesserung an sich trägt. An den kleinen Fenstern sind oft zwei Drittel der Scheiben zerbrochen und mit Papier verklebt, wodurch das Tageslicht verkümmert wird, welches zu der feinen Arbeit so nötig ist; durch das lückenhafte Dach bricht Regen, Schnee und Sturm herein, und oft ist der Schläfer, der unter demselben auf elendem Strohlager liegt, genötigt, drei bis vier Mal nächtlich seine Stelle zu wechseln, um den direktesten Störungen des schlechten Wetters zu entfliehen. Die Stuben sind niedrig, eng, mitunter ungedielt und meist schwarz und rußig, doch müssen sie oft für 3–4 Familien Unterkunft und Obdach gewähren. Das Klöppeln erheischt die höchste Geschmeidigkeit der Hände, und die Stuben müssen daher im Winter stets warm sein, da die geringste Steifheit der Finger die Arbeit stört; ja, man trifft häufig in den engen Räumen die Temperatur eines Dampfbades. Holz wurde bisher ungestört aus dem Walde geholt; der Boden trägt vielfach nichts anderes, und die Not hatte den Begriff des Holzdiebstahls aus der Sprache und aus dem Gewissen verbannt. Auch das ist in neuester Zeit anders geworden; die Wälder sind durch das in den Niederungen wachsende Bedürfnis mehr gelichtet worden, besonders der Eisenbahnbau hat direkt und indirekt unermessliche Holzmassen verbraucht. Der Besitzende hat sich bereichert, der Arme ist – wie immer – nicht nur leer ausgegangen, sondern das vergessene Gesetz, welches nur vom Besitzenden und für denselben gemacht ist, hat sich wieder gegen ihn gekehrt und bestraft den Holzdiebstahl.
Die Kleidung des Erzgebirges hat nichts Eigentümliches, wenn auch die Nachäfferei fremder Moden sie nicht zu dem Quodlibet gemacht hat, welches unsere Städte darbieten. Die Männer tragen gelbe Lederhosen, die bis ans Knie gehen, lange wollene Strümpfe und Schuhe oder hohe, bis an die Knie gehende Stiefel, sogenannte Schlappstiefel; doch ist das letztere Kleidungsstück seiner Kostbarkeit wegen selten; im Sommer betrachtet man überhaupt die Fußbekleidung als etwas Überflüssiges. Den Oberkörper bedeckt eine lange, bis auf die Hüfte reichende Jacke, Wams genannt, welche jedoch weniger Bekleidung des Mannes, als der ganzen Familie ist. Denn das Wams vertritt die Stelle des gemeinschaftlichen Mantels und während dasselbe im Sommer überhaupt in Ruhestand versetzt ist, dient es im Winter jedem, der die Hütte verlässt, als wärmende Hülle; sobald das Kind nicht mehr unter der Last erliegt und so groß ist, dass es nicht mehr darüber fällt, hat es auch ein Anrecht auf des Vaters Wams. Wo noch so viel Wohlstand herrscht, da besitzt der Mann auch einen langen blauen Tuchrock und kurze Tuchhosen, die aber fast nur dem Kirchenbesuch bestimmt sind, und die vereint mit einem großen runden schwarzen Filzhut den Staat ausmachen.
Die Frauen tragen ziemlich kurze, bunt gestreifte, wollene Röcke, eine Art Oberhemdchen von weißem Baumwollzeug mit kurzen bauschigen Ärmeln und ein buntes Kattunhalstuch. Strümpfe und Pantoffeln brauchen sie nur im Winter. Die Frauen lieben das Bunte, und wenn sie Sonntagsstaat besitzen, so besteht er in einem bunten Kattunkleid und einer Haube mit bunten Bändern; nur wenige junge Mädchen tragen gescheiteltes Haar ohne Kopfbedeckung; es wird ihnen dies aber als Eitelkeit, als Vornehmtuerei ausgelegt. Aus besseren Zeiten hat sich die Sitte erhalten, zur Kommunion nur im schwarzen Anzuge zu gehen und dazu, wo irgend möglich, ein seidenes Kleid zu besitzen. Das ist jedoch längst vorüber und nur wenige schwarze Kleider haben sich in den einzelnen Dörfern erhalten; diese aber sind gewissermaßen Gemeingut geworden, werden für den ausgesprochenen Zweck geborgt und gehen aus grauer Vorzeit auf Kind und Kindeskinder über.
Der Hang der Frauen zu Putz, bunter Kleidung und etwas Flitterstaat gibt dieselben einer großen Plage preis, dem Hausierhandel. Eine Schar Hausierer, Männer und Weiber, werden zur wahren Landplage für die armen Dorfbewohner; sie vermehren sich in neuester Zeit wie die Heuschrecken und haben viel zu der Not auf den Dörfern mit beigetragen, während in den Städten, wo dieser Handel teils verboten, teils nicht ergiebig ist, man wenig davon weiß. (…)
Die Nahrung der Erzgebirger besteht fast einzig und allein aus Kartoffeln, dort Erdäpfel genannt, in deren Bereitung sie eine wahre Virtuosität entwickeln und hundert Dinge in der Pfanne und im Topf bereiten, um Abwechslung in die Speisen zu bringen. Traurige Selbsttäuschung! Es fehlt eben an dem, was Abwechslung gibt, an der Zutat, der Würze, der Beimischung; der Arme ist froh, wenn er nur Salz und das dürftigste Schmalz hat, und damit kann er nur die Form seiner Speise ändern. Eine große Rolle spielen die sogenannten Röhrenkuchen, kleine runde Kuchen oder Klöße, die in der Ofenröhre gebacken werden. Die Kartoffeln werden dazu gekocht, dann geschält und zu Brei geknetet, mit Salz und Schmalz gemischt und mit der Hand geformt. Diese Röhrenkuchen müssen besonders die Stelle der Semmel und Franzbrote beim Frühstück vertreten. Kann und will man sich eine besondere Güte tun, so gießt man Sirup auf diese Kuchen, oder einen braunen Rübensaft, den man ebenfalls Sirup zu nennen beliebt. Sogenannter Kaffee ist das einzige Getränk der Armen und wiederholt sich täglich drei Mal, morgens, mittags und abends; dieser Kaffee besteht aus einem langen Gebräu von Zichorie und klein geschnittenen gebrannten Rüben oder Wurzeln; er wird in großen irdenen Töpfen aufgetragen, und Einzelne verzehren eine unglaubliche Menge dieses Getränkes. Fleisch ist eine große Seltenheit, Brot ist ebenfalls ein Leckerbissen, und höchstens kommen einige Surrogate von Hafer vor, Butter kennt man fast gar nicht.
Dies ist das gewöhnliche Leben im Erzgebirge; von Spiel und Tanz, Volksfesten und Wohlleben, Erholung und Freude ist dabei nirgend die Rede, wenn es...
Erscheint lt. Verlag | 9.2.2023 |
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Reihe/Serie | Bibliothek der frühen Demokratinnen und Demokraten | Bibliothek der frühen Demokratinnen und Demokraten |
Vorwort | Gabriele Gillen |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | Anfänge der Demokratie • Bibliothek der frühen Demokratinnen und Demokraten • Demokratiebewegung • Demokratische Legion • Demokratische Linke • deutsche demokratie • Deutsche demokratische Gesellschaft • Deutsche Revolution • Frankfurter Nationalversammlung • Frankfurter Paulskirche • Freier Zugang zur Bildung • Gerechtere Verteilung • Nationalversammlung • Paulskirche • Politische Mitbestimmung • Politisches Engagement • Rechtsstaat |
ISBN-10 | 3-462-51003-7 / 3462510037 |
ISBN-13 | 978-3-462-51003-4 / 9783462510034 |
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Größe: 3,3 MB
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