Tod in Hamburg (eBook)

Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830 - 1910
eBook Download: EPUB
2022
928 Seiten
Pantheon Verlag
978-3-641-29028-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tod in Hamburg - Richard J. Evans
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Richard Evans' brillante Studie über den Cholera-Ausbruch in Hamburg im 19. Jahrhundert
Sie überfiel ihre Opfer jäh und ohne Vorwarnung, die Symptome erregten allgemeines Entsetzen, das Ende kam schnell und unter Qualen: 1892 wütete eine Cholera-Epidemie in Hamburg, 10.000 Menschen starben binnen 6 Wochen. In seinem scharfsinnigen Werk zeichnet Richard J. Evans ein lebendiges Bild der Stadt und ihrer Menschen im Griff der Seuche und untersucht die Gründe, warum Hamburg als einzige große europäische Stadt Schauplatz dieser Tragödie wurde. Er zeigt, dass es eine Verknüpfung politischer, ökonomischer, sozialer und medizinischer Bedingungen war, die einer eigentlich schon ausgerotteten Krankheit noch einmal Tür und Tor öffneten. Mit einem aktuellen Vorwort des Autors, das den Vergleich zwischen der damaligen Epidemie und der heutigen Situation mit SARS-CoV-2 zieht.

Richard J. Evans, geboren 1947, war Professor of Modern History von 1998 bis 2008 und Regius Professor of History von 2008 bis 2014 an der Cambridge University. Seine Publikationen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und zum Nationalsozialismus waren bahnbrechend. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Wolfson Literary Award for History und die Medaille für Kunst und Wissenschaft der Hansestadt Hamburg. 2012 wurde Evans von Queen Elizabeth II. zum Ritter ernannt. Zuletzt sind von ihm erschienen »Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch - 1815-1914« (DVA 2018), »Das Dritte Reich uns seine Verschwörungstheorien« (DVA 2021) und »Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910« (Pantheon 2022).

Vorwort


Dieses Buch beschreibt das Innenleben einer großen europäischen Stadt während der Hochblüte des Industriezeitalters. Es zeichnet nach, wie im Verlauf des 19. Jahrhunderts in dem Maße, wie sich aus dem bescheidenen, wenn auch bedeutsamen Seehafen eine neuzeitliche Großstadt entwickelte, die Schwierigkeiten wuchsen, die Einwohner am Leben und gesund zu halten, sie mit sauberem, frischem Wasser, reiner Luft, einwandfreier Nahrung und allem anderen zum Leben Notwendigen zu versorgen, und wie diese Schwierigkeiten schließlich zur Katastrophe führten. Es zeigt, wie eng die Lösung der Versorgungsprobleme mit den Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit und mit sozialen Konflikten in der Stadt verknüpft war und wie auch diese Gegensätze sich änderten, während die Stadt immer größer und komplexer wurde. Gesellschaftliche Konflikte mündeten in politische Auseinandersetzungen; sie spielen bei den hier berichteten Ereignissen ebenfalls eine bedeutende Rolle. Höhepunkt und Zentrum des Berichts ist die große Cholera-Epidemie, die 1892 Hamburg als einzige Stadt Westeuropas heimsuchte. Diese Katastrophe forderte in etwas mehr als sechs Wochen kaum weniger als 10 000 Menschenleben. In der Art und Weise, wie die Stadt mit ihr fertig wurde – oder auch nicht –, und in ihren Auswirkungen auf das spätere Leben in der Stadt liegen Parallelen und Lektionen für Probleme und Katastrophen, die sich ein Jahrhundert später im Zeitalter von Aids und Umweltvernichtung stellen.

Damit steht das Buch in der langen Reihe der «Seuchen-Literatur», die von Boccaccio über Defoe zu Camus und André Brink reicht.1 Während der Arbeit daran wurden mir die Formen und Konventionen immer deutlicher bewußt, die diese Art Literatur dem Autor auferlegt und die ihren Weg in einen großen Teil der im strengeren Sinn geschichtswissenschaftlichen Literatur zu diesem Gegenstand gefunden haben, von Jean-Noël Birabens «Les Hommes et la Peste» und Paul Slacks «The Impact of Plague in Tudor and Stuart England» bis hin zu Untersuchungen von Epidemien aus neuerer Zeit, wie beispielsweise Michael Dureys Arbeit über die Cholera in Großbritannien oder Alfred Crosbys Bericht über die große Grippewelle von 1918/19 in den USA.2 Die Aufdeckung der Nachlässigkeit und Doppelzüngigkeit der Behörden, die gemächliche Wiedergabe von Ursachen, Einflüssen und Vorwarnungen, auf die eine rasche Erzählung der eigentlichen Katastrophe folgt, der Wechsel des Blickwinkels von der Gesamtsicht zum Standpunkt des einzelnen und zurück, die kathartische Schlußbetrachtung am Ende der Erzählung, all diese charakteristischen Merkmale der «Seuchen-Literatur» wirkten sich in spürbarer Weise auf die Struktur dieses Buches aus.

Doch hat die Lektüre dieser «Seuchen-Literatur» auch mein Bewußtsein dafür geschärft, wie sich Epidemien metaphorisch ausdeuten lassen, so wie es unmittelbar und mit unvergeßlichem Nachdruck in Albert Camus’ klassisch gewordenem Roman «Die Pest» geschieht, abstrakter und beiläufiger in Thomas Manns Novelle, auf die der Titel des vorliegenden Buches zurückgeht.3 Die amerikanische Kritikerin Susan Sontag hat kürzlich vor der Gefahr gewarnt, Krankheit als Metapher zu verwenden. Allerdings gründet sich ihre Warnung auf ein Medizinverständnis, das, wie ich nachzuweisen hoffe, bestenfalls vereinfachend, schlimmstenfalls aber naiv ist.4 Daher läßt sich dies Buch auch in einem metaphorischen Sinn verstehen. Im Jahr 1892 sind in Hamburg nicht nur Menschen gestorben – die Epidemie jenes Jahres bildete auch, wie ein überlebender Bewohner der Stadt angemerkt hat, die Scheidelinie zwischen Altem und Neuem. Insbesondere läutete sie die Totenglocke des alten und bis dahin geltenden Systems, bei dem die Verwaltung der Stadt in den Händen von Honoratioren lag, die auf diesem Gebiet kaum mehr als Amateure waren. Die Epidemie kennzeichnete – auch wenn sie ihn nicht als einzige herbeiführte – den Sieg des Preußentums über den Liberalismus, den Triumph der staatlichen Intervention über das Laisser-faire. Sie markierte einen bemerkenswerten, symbolischen Augenblick in der Geschichte des deutschen Bürgertums und bereitete die Bühne für dessen Eintritt ins 20. Jahrhundert. Diese metaphorischen Anklänge des Buchtitels zeigen, wie ich hoffe, daß das Hauptanliegen dieses Werks weit über die bloße Beschreibung der Katastrophe hinausgeht, die über die Stadt gekommen war.

Als ich Ende der siebziger Jahre mit den Forschungsarbeiten für dieses Buch begann, war mir nicht klar, daß ich nahezu ein Jahrzehnt zu seiner Vollendung benötigen würde. Zur Geschichte Hamburgs fühlte ich mich hingezogen, teils weil ich den Eindruck hatte, es sei an der Zeit, etwas dagegen zu unternehmen, daß ein Großteil der modernen Geschichtsschreibung über das Deutschland nach 1871 von einer eingeengten, auf Preußen konzentrierten Sicht erfolgte, teils aber auch durch ein schon bestehendes Interesse an der Sozialgeschichte des deutschen Liberalismus. Mein Ausgangspunkt war der Ruf dieser Stadt – Deutschlands zweitgrößter nach Berlin –, im Deutschen Reich ein «Fremdkörper» und im kontinentaleuropäischen Zusammenhang eine «englische» Stadt gewesen zu sein. Ich nahm an, Hamburg könne als eine Art historisches Labor zur Überprüfung allgemeiner Begriffe dienen, mit denen der Kontrast zwischen England und Deutschland gemeinhin beschrieben wird. Es war nicht nur einfach eine Stadt, sondern einen großen Teil des 19. Jahrhunderts hindurch auch eine «Freie Stadt», ein autonomer Staat im Deutschen Bund und nach 1871 – wenn auch in begrenztem Maße – innerhalb des Deutschen Reiches. Das Wichtigste aber war, daß liberal gesinnte Kaufleute aus dem Bürgertum die Stadt regierten. Daher ließ sich Hamburg als Fallstudie zur Beantwortung einer der großen «Was wäre, wenn?»-Fragen in der deutschen Geschichtsschreibung der neueren Zeit heranziehen: Sofern das Bürgertum 1848 oder danach politische Macht errungen hätte, wäre dann eine gerechtere, gleichere, freiheitlichere, demokratischere, rationalere Gesellschaft das Ergebnis gewesen? Oder hätten sich Gesellschaft und Politik mehr oder weniger genauso entwickelt, wie sie es dann taten?

Anfänglich hoffte ich, mit Hilfe einer kurzen Querschnittsuntersuchung der Zeit von 1890 bis 1910 eine Antwort auf diese Fragen finden zu können; doch in dem Maße, in dem ich mich in das überaus umfangreiche Quellenmaterial im Hamburger Staatsarchiv einarbeitete, zog es mich unwiderstehlich weiter in die Vergangenheit zurück – und das ist der Hauptgrund, warum es so lange gedauert hat, das Buch abzuschließen. In seiner vorliegenden Form weist es drei Untersuchungsebenen mit zunehmender Spezifik auf, die jeweils einander bedingen. Auf der allgemeinsten Ebene bemüht es sich, einen Abriß der politischen und sozialen Geschichte der Stadt im 19. Jahrhundert zu geben, so wie sie sich anhand der Klassengegensätze und der Beziehungen von Staat und Gesellschaft herausarbeiten läßt. Mein Verständnis dieser keinesfalls unproblematischen Begriffe wird, wie ich hoffe, im ersten Kapitel deutlich werden. Auf einer zweiten Ebene geht das Buch diesen allgemeinen Fragen im Rahmen einer Fallstudie der Geschichte der städtischen Umwelt und ihrer Beziehung zu Krankheit und Tod nach. Nicht nur fragt es, wie das rasche Wachstum Hamburgs Leben und Gesundheit seiner Bewohner beeinflußte, sondern auch, auf welche Weise unterschiedliche Bevölkerungsgruppen diese Auswirkungen wahrnahmen. Besonders eindringlich wurden diese Fragen durch die großen Cholera-Epidemien aufgeworfen, von denen die Stadt in nicht weniger als sechzehn Jahren zwischen 1831 und 1892 heimgesucht wurde. Während des gesamten Zeitraums von 1830 bis 1910 wirkten sie auf Gesellschaft und Politik in Hamburg so nachdrücklich ein, daß es gerechtfertigt erscheint, diese Zeit «Cholera-Jahre» zu nennen. Ganz allgemein wird die Beschreibung zum Ende des Untersuchungszeitraums «dichter», und das führt zur dritten und detailliertesten Ebene des Buches, zum Bericht über die Cholera-Epidemie des Jahres 1892.

Diese Epidemie hat eine ungeheure Menge an Quellenmaterial «produziert», angefangen von Lebenserinnerungen, Tagebüchern, Briefen, Zeitungsartikeln und Fotos bis hin zu den Berichten amtlicher Untersuchungsausschüsse, statistischen Untersuchungen, Berichten karitativer und freiwilliger Hilfsorganisationen und selbstverständlich einer Fülle von Material in den Akten der einzelnen damit beschäftigten Ressorts der Stadtverwaltung. Die Epidemie rückte das Funktionieren von Staat und Gesellschaft ebenso deutlich in den Blick wie die Strukturen der gesellschaftlichen Ungleichheit, die Vielzahl von Werthaltungen und Ansichten, aber auch die materiellen Konturen des täglichen Lebens, die öffentlich vertretenen Ideologien und die nicht ausdrücklich erklärten Ziele politischer Organisationen.

Daher kann man dieses Buch auch als einen sechs Wochen im Spätsommer 1892 umfassenden Querschnitt durch die Strukturen des Lebens in der Stadt betrachten, verknüpft mit einer Längsschnittuntersuchung, die jedes einzelne der die Epidemie verursachenden Elemente auf seine Ursprünge bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt und den Auswirkungen und Ergebnissen der Epidemie bis ins 20. Jahrhundert nachspürt. Die ersten zwölf Unterkapitel des Buches nehmen somit jeweils einen Faden des Ursachenknäuels auf und folgen ihm bis zum Vorabend der Epidemie von 1892, während die übrigen zwölf, beginnend mit dem ersten Teil des vierten Kapitels, eine Erzählung und Analyse der Epidemie selbst liefern und...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2022
Übersetzer Karl A. Klewer
Zusatzinfo 16 Seiten s/w, zahlreiche Grafiken und Karten im Buch
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Schlagworte 2022 • Abwasser • aus der Geschichte lernen • Cholera • cholera buch • Cholera-Epidemie • Covid-19 • Das Dritte Reich • das dritte reich und seine verschwörungstheorien • eBooks • Geschichte • Hamburg Geschichte Buch • Hanseaten • Hansestadt • Kanalisation • lockdown • Matthias Wegner • Neuerscheinung • Pandemie • Quarantäne • Reisefreiheit • Robert Koch • Seuchen • Seuchenbekämpfung
ISBN-10 3-641-29028-7 / 3641290287
ISBN-13 978-3-641-29028-3 / 9783641290283
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