Coronakids (eBook)
160 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86728-5 (ISBN)
Dr. Nicole Strüber ist Entwicklungsneurobiologin und -psychologin, Forscherin, Buch- und Wissenschaftsautorin, Dozentin, gefragte Speakerin für Vorträge und Seminare und Mutter von Zwillingen. Sie lebt in Bremen.
ZWEI
Was das kindliche Gehirn für eine gesunde Psyche und ein gutes Lernvermögen braucht
Ein Baby, ob nun Corona-Baby oder Prä-Corona-Baby, kommt relativ unwissend auf die Welt. Zum Zeitpunkt der Geburt ist sein Gehirn noch völlig unfertig, im Grunde auf die Basics reduziert, wie ein frisch aus dem Ofen geholter, weicher und empfindlicher Geburtstagskuchen, der noch nicht dekoriert ist. Lediglich diejenigen Hirnbereiche sind ausgereift und voll funktionsfähig, die dafür sorgen, dass das Baby das tut, was es tun muss, um zu überleben und sich weiterzuentwickeln. Es muss atmen, es muss verdauen, es muss mit großen, fragenden Augen seine Umwelt angucken und es muss schreien. Das Schreien gehört – meist nicht zur Freude der Eltern – auch zum Überlebensrepertoire, denn damit stellt das Baby sicher, dass es Schutz erhält, dass es vertraute Menschen herbeirufen kann, um ihnen zu zeigen, dass es Bedürfnisse hat, die es noch nicht selbst erfüllen kann.
Neben der Fähigkeit, lautstark bis ohrenbetäubend zu schreien, hat die Natur dem Baby weitere Voreinstellungen mitgegeben, die es anleiten, sich bald nach der Geburt in der Welt zurechtzufinden. So richtet es seine Aufmerksamkeit am liebsten auf Menschen, schaut in deren Gesichter, in deren Augen und auf deren Hände. Das interessiert das durchschnittliche Baby von Natur aus mehr als andere Dinge, die es umgeben (wobei es durchaus Babys gibt, bei denen das nicht so ausgeprägt ist, etwa bei Babys mit einem hohen familiären Risiko für Autismus1). Das gewährleistet, dass es sich mit seinen Bedürfnissen an Menschen richtet, von ihnen Unterstützung erwartet und nicht etwa verpasst, in die richtige Richtung zu schauen, wenn es Durst hat.
In seinem noch so unwissenden Gehirn warten zahlreiche Funktionen auf Feineinstellung. Alles ist locker miteinander verdrahtet und Millionen von Nervenzellen warten auf Erfahrungen. Erfahrungen, die darüber entscheiden, welche der zahlreichen Nervenzellverbindungen stabilisiert werden. Das ist ein grundlegendes Prinzip der Hirnentwicklung: Es werden diejenigen Verbindungen zwischen den Nervenzellen stabilisiert und gestärkt, die immer wieder genutzt werden. Und diejenigen Verbindungen, die nie durch Erfahrungen aktiviert werden, werden abgebaut. Wie nach einer großen Aufräumaktion wird nur das beibehalten, was man wirklich braucht. Die Verbindungen zwischen Nervenzellen, die das Baby immer wieder benötigt, werden sozusagen zu Autobahnen ausgebaut und die Trampelpfade, die eigentlich nie genutzt werden, wachsen irgendwann zu. Damit diese Autobahnen entstehen können, muss das Baby also Erfahrungen machen. Eine Notwendigkeit, die auch in Zeiten der Pandemie nicht wegfällt. Ob davor, währenddessen oder danach – das Baby muss Erfahrungen machen.
Aber wie kommt es zu diesem Umstand? Warum kann das Baby nicht einfach ein klein wenig fertiger auf die Welt kommen? Erstens, weil ein Baby mit einem noch größeren vorverdrahteten Kopf nicht durchs mütterliche Becken passt. Und zweitens, weil es eine wesentliche Eigenschaft der Spezies Mensch ist, sich an alle möglichen Umgebungen anpassen zu können. An ein Leben im Dschungel ebenso wie an ein Leben im Wohnblock der Großstadt. Der Umstand, dass es die eigenen, ganz persönlichen Erfahrungen sind, die die individuellen Verschaltungen im Gehirn hervorbringen, stellt sicher, dass jedes Kind ein Nervenzellnetzwerk hat, das genau zu der Umwelt passt, in der es lebt. Jedes Land hat seine Autobahnen dort, wo sie gebraucht werden. Diese Stabilisierung durch die jeweiligen Erfahrungen eines Kindes sorgt dafür, dass die Autobahnen auch wirklich Städte verbinden und nicht etwa Neustadt – Glewe über eine fünfspurige Trasse mit Stolpe verbunden ist, während es zwischen Stuttgart und Karlsruhe nur einen Trampelpfad gibt.
Eine bestimmte Autobahn ist aber bei allen Menschen, zu allen Zeiten, besonders wichtig. Und zwar diejenige, die Nervenzellen in der Hirnrinde direkt hinter unserer Stirn mit unbewusst und automatisch aktiven Hirnstrukturen verbindet, die sich tief im Inneren des Gehirns befinden. Wir können uns diese Verbindung als Autobahn von einer Großstadt, nehmen wir Stuttgart, zu einer versteckten Höhle im hintersten Schwarzwald vorstellen.
Tief im Inneren des Gehirns, im Schwarzwald, sitzen diese Höhlen, oder besser die Hirnstrukturen, die ohne großartige Reflexion unsere Umwelt scannen, zum Beispiel auf potenzielle Gefahren. Wie die Amygdala, zu deren Aufgaben es gehört, zu schauen, ob irgendwo Bedrohungen lauern, Spinnen oder wütende Gesichter. Nicht immer aber ist eine Spinne auch eine Spinne, manchmal ist sie lediglich ein Riss im Putz oder eine Paranoia im Teppich. Abgesehen davon, dass Spinnen in unserer europäischen Umwelt meist gar nicht so gefährlich sind, aber all das weiß die Amygdala nicht. Sie weiß auch nicht, dass Menschen manchmal nur böse gucken, weil sie auf einen Kirschkern gebissen haben oder weil die Hose in der Taille zwickt. Die Amygdala kennt keine harmlosen, rissig verputzten Hauswände, und ungefährliche, spinnenartige Strukturen im Teppich schon gar nicht. Sie scannt und reagiert blitzschnell. Lieber fünfmal fälschlicherweise vor dem Riss im Putz zurückschrecken, als einmal zu lange darüber nachgedacht und von der gefährlichen Spinne angesprungen werden. Die tiefsitzenden Hirnstrukturen wissen auch nicht, dass es nicht mit einem pauschalen und unwiderrufbaren Nein gleichzusetzen ist, wenn der Vater sagt: »Es gibt erst später ein Eis«. Sie erkennen schnell und unreflektiert böse Blicke, gemeine Worte und gefährliche Spinnen und lassen uns dementsprechend reagieren, bisweilen laut und explosiv.
Damit wir unsere Impulse an die jeweilige Situation anpassen können, damit wir mehr und vor allem differenziertere Informationen in unser Fühlen, Denken und Handeln einbeziehen können, ist die Verbindung, die von den mittleren Bereichen der Hirnrinde hinter der Stirn hinunter zu den tief gelegenen Hirnstrukturen führt, so wichtig. Die Autobahn von Stuttgart in den Schwarzwald also.
Über diese Verbindung können wir unsere Gefühle, die tief im Inneren von den unbewusst arbeitenden Hirnstrukturen erzeugt werden, regulieren. Wenn sich etwa herausstellt, dass der Ursprung der Wut nur ein Kirschkern war und die Spinne nur ein Riss im Putz, eine Paranoia oder ein harmloses europäisches Exemplar. Wir regulieren unsere Gefühle entsprechend der jeweiligen Situation und beruhigen uns.
Diese Autobahn muss stabil sein, damit wir unsere Gefühle im Griff haben. Sie muss gut ausgebaut sein, am besten mehrspurig. Und wie wird sie stabilisiert? Genau, durch die Nutzung. Es ist insofern von großer Bedeutung, dass diese Verbindung in der frühen Kindheit eines Menschen immer wieder in emotionalen Situationen aktiviert wird. Sie ist eine der Grundlagen dafür, dass Menschen später in der Lage sind, ihre Gefühle zu regulieren und flexibel auf Situationen auszurichten. Das wiederum ist eine wichtige Voraussetzung für die psychische Gesundheit.
Doch nicht nur das. Die Fähigkeit, über eine besonders stabile Verbindung die eigenen Gefühle schnell anzupassen, negative Gefühle hinter sich lassen zu können, bildet auch die Voraussetzung dafür, von der Umwelt lernen und sich in ihr weiterentwickeln zu können – als Baby, das entspannt seine Umwelt erkunden muss, und als Schulkind, dessen Aufgabe es ist, sein Gehirn mit möglichst vielen Lerninhalten zu füllen. Nur wer seine Gefühle einigermaßen im Griff hat, nur wer entspannt ist und nicht ständig darüber nachdenkt, was ihn ärgert, nur wem es gelingt, die vordergründigen Impulse beiseitezuschieben und sich an langfristigeren Zielen zu orientieren, kann sich in einer Weise mit dem Schulstoff auseinandersetzen, die nachhaltiges Lernen ermöglicht.
Diese Autobahn ist zwar eine Verbindung, die jeder Mensch, jedes Kind und jeder Erwachsene braucht, dennoch ist sie je nach individuellen Erfahrungen ganz unterschiedlich ausgestaltet. Wird sie regelmäßig genutzt, wird sie stabilisiert. Wird sie selten genutzt, bleibt sie fragil.
Daneben wird noch etwas anderes im Gehirn des Kindes an die jeweilige Umwelt angepasst: die Chemie. Immer dann, wenn etwas Wichtiges in unserer Umgebung passiert, vielleicht weil irgendwo die Paranoia-Spinne in der Ecke sitzt, weil man Hunger hat oder am Abend die Gäste mit einer Crema catalana beglücken möchte, werden im Gehirn bestimmte Stoffe ausgeschüttet: Stresshormone wie Noradrenalin und Cortisol oder das häufig als Bindungshormon bezeichnete Oxytocin. Diese Stoffe sorgen dafür, dass das ganze Gehirn etwas von der Bedeutsamkeit der Situation mitbekommt und wir angemessen mit ihr umgehen können. Es wird in bedrohlichen Situationen oder in solchen, die hohe Anforderungen an uns ...
Erscheint lt. Verlag | 15.9.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
ISBN-10 | 3-407-86728-X / 340786728X |
ISBN-13 | 978-3-407-86728-5 / 9783407867285 |
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