Odyssee in Rot (eBook)
928 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31699-5 (ISBN)
Heinrich Gerlach (1908-1991) war während des Zweiten Weltkriegs als Offizier in Stalingrad. Nach seiner Gefangennahme wurde er Mitglied des Bundes Deutscher Offiziere und des Nationalkomitees Freies Deutschland. 1950 kam er nach Deutschland zurück und war als Lehrer in Norddeutschland tätig. 1957 erschien sein Millionenbestseller Die verratene Armee, 1966 Odyssee in Rot, seine Erinnerungen an die Zeit der Kriegsgefangenschaft.
Heinrich Gerlach (1908–1991) war während des Zweiten Weltkriegs als Offizier in Stalingrad. Nach seiner Gefangennahme wurde er Mitglied des Bundes Deutscher Offiziere und des Nationalkomitees Freies Deutschland. 1950 kam er nach Deutschland zurück und war als Lehrer in Norddeutschland tätig. 1957 erschien sein Millionenbestseller Die verratene Armee, 1966 Odyssee in Rot, seine Erinnerungen an die Zeit der Kriegsgefangenschaft. Carsten Gansel, Jahrgang 1955, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik in Gießen. Bei Galiani hat er bereits das von ihm in Russland aufgespürte Manuskript Heinrich Gerlachs Durchbruch bei Stalingrad (2016) sowie dessen Odyssee in Rot (2017) herausgegeben. 2020 erschien mit Wir Selbst von Gerhard Sawatzky eine weitere literarische Entdeckung von Gansel.
Erstes Kapitel Nebel und roter Dunst
Da ist sie, die Stadt!
Der Finger fährt über die Karte, fährt den langen grauen Stachelwurm entlang, der sich über 30km weit an das himmelblaue Band des Stromes schmiegt. Ein dunstbrauner Schmutzschleier zieht sich über diese Bahn, oft schon ist der fettige Finger hier entlanggewandert. Sonst jedoch verrät das bunte Kartenbild mit seinen Häuserblocks, Straßenzügen und Plätzen, mit Bahnlinien und Grünanlagen nichts von dem, was hier geschah. Nichts davon, daß hier eine Stadt in Trümmer sank, zum gigantischen Friedhof wurde für Menschen und Dinge.
Stalingrad, Stalins eigene Stadt …
Der Beobachter blickt angestrengt hinaus. Doch von dem, was die Karte, einer fernen Vergangenheit verhaftet, so unzulänglich wiedergibt, zeigt sich zunächst noch nichts. Der stumpfgraue Zinnstreifen unten im Weiß der Steppe ist der Don. Vorn im Osten, von wo aus sich jetzt schon der Wolgabogen entgegenwölben müßte, verschwimmt alles in rötlichem Dunst.
2. Februar 1943, 13.51 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Die Ju88 der Luftflotte 4 fliegt Fernaufklärung über dem Kampfraum von Stalingrad. Temperatur 30 Grad unter Null, Höhe 6000 m. Ein paar hundert Meter tiefer hängen einzelne Wölkchen wie Wattetupfen im Raum. Die Wintersonne, die schon tief im Westen steht, läßt ihre Schattenpunkte langsam über die Schneefläche wandern.
»Nördliche Tour, Schorsch!« sagt der Beobachter. »Der Bahnlinie nach und dann den Gumrak-Bogen.« Er hält Karte und Logbuch auf den Knien. Der Mechaniker schaltet die Kameras ein.
Wenig Ortschaften duldet der unwirtliche Raum, kleine Häusergewürfel, zaghaft und gleichsam wie auf Probe hingestreut in das unendliche Weiß. Dort, wo der dünne Faden der Eisenbahn den Flußlauf kreuzt, liegt Kalatscb. Die Maschine ändert den Kurs und folgt diesem Faden, der sich bald mit der bizarren Schlängelschnur des Karpowka-Flüßchens verbindet. Links davon verläuft eine breitere und blassere Linie, die mittlere Rollbahn nach Stalingrad. Einst die Lebensader der 6. Armee … Das da ist Marinowka, die »Nase« des Kessels, die zuerst abgeschlagen wurde. Dort, wo das Flüßchen sich von der Bahnlinie löst, um der alten Kesselfront nach Süden zu folgen, Karpowskaja, Nowyj Rogatschew … Weiter vorn der Bahnhof Bassargino, Schicksalsraum der 6. deutschen Armee.
Auf dem blassen Rollbahnstrich kriechen kleine Punkte entlang, eine Ameisenreihe, hier und dort hineingestreut ein paar dicke Käfer.
»Bespannte und motorisierte Kolonnen, auch Panzer«, stellt der Beobachter fest. »Der Iwan zieht seine Reste ab. Wohl nichts mehr los dort hinten, wie?« Er kritzelt knappe Eintragungen in das Logbuch. Der Pilot dreht nach Norden ein.
Die vier Mann der Besatzung sind alte Hasen, sie kennen jeden Punkt in diesem Gelände. Viele Male sind sie hier geflogen. In jenen Augusttagen des vorigen Jahres, als General Hubes Panzer auf der nördlichen Rollbahn von Wertjatschij aus bis zur Wolga durchstießen und es nur noch eine Frage von Tagen schien, bis der Industriegigant fallen würde. Stalingrad, Stalins eigene Stadt … Später dann die Wolga hinauf in Richtung Saratow und Kuibyschew, unten das flimmernde Glitzerband des Stromes, der sich wie geschmolzenes Silber durch die versengte Steppe ergoß, im Rücken den braungelben Rauchpilz der brennenden Stadt. Und die Nebelflüge im November … Eisenbahnaufklärung nördlich des Donbogens, wo sich irgend etwas zusammenbraute. Diese scheußlichen Flüge durch trübe Milchsuppe, ständig von Vereisung bedroht … Und dann riß mit einmal in 50 Metern Höhe der Wolkenschleier auf und gab für Sekunden den Blick frei auf marschierende Infanterie, auf Panzeransammlungen, Kavallerieeinheiten … Meldungen, die oben niemand so recht ernst nahm. Bis das Unfaßbare geschehen war und der sowjetische Ring sich geschlossen hatte um zwei Dutzend deutsche Divisionen … Die winterlichen Erkundungsflüge zu den russischen Feldflugplätzen jenseits der Wolga; entlang den Eisenbahnlinien bis nach Astrachan hinunter und hinauf bis nach Tambow und Pensa; immer über das kleine Inselreich der 6. Armee hinweg, dessen Grenzen sich bei Tage im Mündungsfeuer der schweren Waffen als huschende Punktlinien kundtaten, in der Abenddämmerung zuweilen als flackernder Feuerkranz.
Und dann die Tage im Januar, die dort unten alles wieder in Bewegung brachten. Dunkel gesprenkelte Flecken in dem schimmernden Teller, in denen ein Gewimmel weißer Ameisen herumkroch; schwarze Qualmwolken um die Flugplätze Pitomnik und Gumrak und Bienenschwärme russischer Ratas und Sturmowikis, die die eigene Maschine in achtbare Höhen zwangen. Umgrenzt jetzt von der Leuchtspur heftiger russischer Bodenabwehr, zog sich der Kessel zusammen wie ein austrocknender Wasserfleck. Zuletzt blieb nur noch die Stadt selbst, dieses rauchende Durcheinander, wie ein Netz ausgeleerter und von blindwütenden Nadelstichen zerstörter Bienenwaben, in denen es kochte und brannte und brodelte.
Da ist sie, die Stadt! Oder das, was davon übrigblieb, von Stalins eigener Stadt … Die Maschine ist auf 3000 Meter heruntergegangen, sie zieht eine Schleife über Gumrak und Gorodischtsche und dreht über dem nördlichen Vorort Rynok nach Süden ein. Hier waren sie gestern noch in den Beschuß schwerer Flak geraten. Heute schweigt alles. Aus den Trümmern steigt brauner Rauch auf und zerfließt in einer trüben Dunstglocke, deren Schleierfetzen die Kanzel umstreichen. Das Traktorenwerk, tags zuvor noch ein flammender Kessel, heute ein kokelnder Schutthaufen.
»Noch mal zurück, Schorsch! Steilkurve rechts!« sagt der Beobachter. »Noch ’n paar Aufnahmen, sicherheitshalber. Irgendwas blitzte da.«
Wenn überhaupt, dann kann nur hier noch Widerstand sein …
Nichts!
Von Norden her rückt eine bespannte Kolonne in das Gelände ein. Auch auf der Straße zum »Schnellhefterblock« Kolonnenverkehr in beiden Richtungen. Vom anderen Wolgaufer spuckt leichte Flak bunte Farbbänder in die Luft.
Die Maschine fliegt das Stadtgebiet entlang nach Süden. Zwischen den Waben der toten Hausruinen ist Leben zu spüren. Die Trümmer der Geschützfabrik; das metallurgische Werk Kraßnyj Oktjabr; die Tennisschlägerschleife … Hier und da kleine, ruhige, wohlbehütete Feuerpunkte. Lagerfeuer wohl. Anderswo steigen planlos rote und weiße Signale hoch, Leuchtspurmunition dazwischen, ein spielerisches Feuerwerk. Nirgendwo Anzeichen eines Kampfes.
Der Rote Platz mit der Kaufhausruine, in deren Kellern bis zum Januarende Paulus mit seinem Stabe hauste; der Theaterplatz; die schartige Zackenlinie der Zarizaschlucht. Der Betonklotz des Getreidesilos. Und rundum und weiter bis zum südlichen Stadtrand die geschwärzten Kamine der niedergebrannten Holzhäuser, wie die geborstenen Grabsteine eines verfallenden Friedhofs.
Auf der südlichen Ausfallstraße aber, die nach Beketowka, Sarepta und Kraßnoarmejsk führt, wieder marschierende Kolonnen. Kleine, breite Marschblöcke in größeren Abständen, die sich langsam, sehr langsam, fast wie Schafherden, nach Süden bewegen.
»Seht ihr noch was?« fragt der Beobachter.
»Nein«, sagt der Funker, sagt der Mechaniker.
»Und du, Schorsch?«
»Nichts mehr, Franz!« sagt der Pilot. »Ich denke, wir stiften heimwärts.«
»Nichts, gar nichts mehr«, sagt der Beobachter, und durch das Kehlkopfmikrophon klingt seine Stimme wie abgewürgt. »Es ist aus.«
Der Pilot dreht zum Rückflug ein, der Sonne zu, die als ein breites, blutrotes Ei am kalten Westhorizont klebt. Und während er die Maschine wieder auf größere Höhen bringt – denn am Donez, wo inzwischen die Front verläuft, ist mit starkem Flakbeschuß zu rechnen –, diktiert der Beobachter die Bordmeldung: »Meldung sowieso, sowieso, 14.46 Uhr: Nur schwache Bodenabwehr. Feindkolonnen im Zug durch die Stadt. Planloses Feuerwerk mit Leuchtspur- und Signalmunition. Keine Kampftätigkeit mehr. Über Stalingrad Nebel und roter Dunst.«
Der Kriegsgefangene Franz Breuer liegt auf dem Rücken im Schnee. Es ist schöner weißer, unberührter Schnee. Er streicht sich eine Handvoll davon in den Mund. Das erfrischt, das stillt Hunger und Durst.
Zehn Minuten Pause, dann wird es weitergehen. Dann wird die Kolonne von etwa hundert Gefangenen sich wieder in Bewegung setzen zum Marsch nach Süden. Nach Beketowka, Sarepta und Kraßnoarmejsk. Nach jenem sowjetischen Brückenkopf auf dem Westufer der Wolga, der nie eingenommen werden konnte und von dem aus einer der russischen Stoßkeile antrat zur Einschließung der 6. deutschen Armee. Große Auffanglager sollen dort sein …
Gefangen seit vorgestern Mittag.
Kein Schritt mehr allein, aus eigenem Antrieb. Preisgegeben fremdem Willen. Eigentlich hat der Gedanke wenig Beunruhigendes. So war es schon jahrelang, schon seit jenem Julitag 39, als die braune Karte mit dem Gestellungsbefehl kam. Nur daß jetzt andere befehlen. Nein, das ist es nicht. Auch nicht der Hunger. Ihn hat man in den letzten Monaten ertragen gelernt. Und hier soll es 400 Gramm Brot geben! 400 Gramm Brot pro Tag, unvorstellbar …
Breuer starrt in den blaßblauen Himmel hinauf. Hoch droben zieht ein Flugzeug seine Bahn, klein und durchsichtig, eine Amöbe im unendlichen Tropfen der Welt. Ein Fernaufklärer. Merkwürdig, mit diesem fernen deutschen Aufklärer verbindet nichts mehr.
»Dawaj! Pa-idjom!«
Die Posten stoßen die Liegenden mit der Stiefelspitze an, helfen auch hier und da mit dem Gewehrkolben sachte nach. Sie sind...
Erscheint lt. Verlag | 9.3.2017 |
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Zusatzinfo | mit zahlr. s/w Abbildungen |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Bund deutscher Offiziere • Durchbruch bei Stalingrad • Gefangenschaft • Hitler • Nachkriegszeit • Russland • Sowjetunion • Stalingrad • Wehrmacht • Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-462-31699-0 / 3462316990 |
ISBN-13 | 978-3-462-31699-5 / 9783462316995 |
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