Durchbruch bei Stalingrad (eBook)

Roman

(Autor)

Carsten Gansel (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
704 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31700-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Durchbruch bei Stalingrad -  Heinrich Gerlach
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Die 1949 vom russischen Geheimdienst konfiszierte und nun in russischen Archiven wiederaufgespürte Urfassung des großen Antikriegsromans. Gefunden, herausgegeben und mit einem dokumentarischen Anhang versehen von Carsten Gansel Heinrich Gerlachs großer Antikriegsroman: Direkt nach der Schlacht um Stalingrad im sowjetischen Kriegsgefangenenlager geschrieben, durch verschiedene Arbeitslager gerettet, aber letztendlich vom russischen Geheimdienst konfisziert - jetzt nach fast 70 Jahren erstmals veröffentlicht. Dieses Buch hat eine der außergewöhnlichsten Publikationsgeschichten seit je: Heinrich Gerlach, als deutscher Offizier in der Schlacht um Stalingrad schwer verwundet, begann in sowjetischer Gefangenschaft einen Roman zu schreiben, der das Grauen von Stalingrad, die Sinnlosigkeit des Krieges, vor allem aber die seelische Wandlung eines deutschen Soldaten unter dem Eindruck des Erlebten ungeschminkt darstellen sollte. Zudem war er im Herbst 1943 Gründungsmitglied des Bunds Deutscher Offiziere, der aus der Kriegsgefangenschaft heraus zur Beendigung des sinnlosen Kampfes aufrief.Gerlach rettete sein Manuskript durch viele Arbeitslager. 1949 aber entdeckte und beschlagnahmte der russische Geheimdienst den 600 Seiten starken Roman. Erst im Frühjahr 1950 war Gerlach wieder zurück in Deutschland - ohne den Roman. Sämtliche Versuche, ihn aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, scheiterten - bis Gerlach auf eine ungewöhnliche Idee kam. Unter Hypnose konnte er Teile des Buches wieder erinnern. 1957, mehr als ein Jahrzehnt nach seiner Gefangennahme, erschien das Buch unter dem Titel Die verratene Armee - und wurde zum Millionenseller. Carsten Gansel ist nun in Moskauer Archiven ein sensationeller Fund gelungen: das von der Veröffentlichung stark abweichende Originalmanuskript von Gerlachs Durchbruch bei Stalingrad. Vom Herausgeber mit einem reichen dokumentarischen Anhang versehen, liegt es nach 70 Jahren hiermit zum ersten Mal gedruckt vor.

Heinrich Gerlach (1908-1991) war während des Zweiten Weltkriegs als Offizier in Stalingrad. Nach seiner Gefangennahme wurde er Mitglied des Bundes Deutscher Offiziere und des Nationalkomitees Freies Deutschland. 1950 kam er nach Deutschland zurück und war als Lehrer in Norddeutschland tätig. 1957 erschien sein Millionenbestseller Die verratene Armee, 1966 Odyssee in Rot, seine Erinnerungen an die Zeit der Kriegsgefangenschaft.

Heinrich Gerlach (1908–1991) war während des Zweiten Weltkriegs als Offizier in Stalingrad. Nach seiner Gefangennahme wurde er Mitglied des Bundes Deutscher Offiziere und des Nationalkomitees Freies Deutschland. 1950 kam er nach Deutschland zurück und war als Lehrer in Norddeutschland tätig. 1957 erschien sein Millionenbestseller Die verratene Armee, 1966 Odyssee in Rot, seine Erinnerungen an die Zeit der Kriegsgefangenschaft. Carsten Gansel, Jahrgang 1955, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik in Gießen. Bei Galiani hat er bereits das von ihm in Russland aufgespürte Manuskript Heinrich Gerlachs Durchbruch bei Stalingrad (2016) sowie dessen Odyssee in Rot (2017) herausgegeben. 2020 erschien mit Wir Selbst von Gerhard Sawatzky eine weitere literarische Entdeckung von Gansel.

II. Kapitel: Unwetter am Don


Grau dämmerte der 19. November herauf. Der Gefreite Geibel warf sich auf seinem Lager hin und her. Ihn quälte ein scheußlicher Traum. Er saß in seinem Laden in Chemnitz, der dem letzten Bunker vor Stalingrad auffallend ähnlich sah, und sortierte emsig und schwitzend Erbsen aus einem Sack in einen Emailletopf. Jede Erbse, die er in den Topf fallen ließ, rauschte nieder wie eine Bombe und zerplatzte mit einem Knall am Boden zu nichts. Und Geibel wunderte sich, daß der Topf sich nicht füllte, obwohl der Sack schon zur Hälfte leer war. Plötzlich stand ein Mann vor ihm, auf dem Kopf einen goldenen Stahlhelm, unter dem eine schwarze Haarsträhne hervorsah, und blickte ihn groß und durchdringend an. Und Geibel wußte sofort, daß es Rembrandt war. »Ich habe Flugzeuge und U-Boote«, sagte der Fremde drohend, »aber mir fehlen noch Heringe!« »Aber bitte, mein Herr!« beeilte sich Geibel zu erwidern. »Wir haben ausgezeichnete Matjesheringe, zart wie Butter.« Und er wies auf das große Faß, über dessen Rand die Heringe ängstlich ihre Köpfe steckten. »Ich nehme das ganze Faß!« erklärte der Mann mit dem Goldhelm und griff mit beiden Händen in die Tonne. Die Heringe, plötzlich sehr menschlich aussehend, schrieen auf vor Entsetzen, aber der Fremde stopfte sich einen riesigen Berg von Fischen in das weit aufgerissene Nilpferdmaul und verschlang ihn. Geibel durchfuhr ein heißer Schmerz. »Es macht 57,30 RM«, sagte er traurig. – »Sind das alle Heringe?« fragte der Fremde und sah sich gierig im Laden um. »Alle, die es in Deutschland gibt!« antwortete Geibel entschlossen. – »Das genügt mir nicht!« schrie Rembrandt. »In Europa muß es noch viel mehr Heringe geben!« Sein Gesicht wurde riesengroß und verzerrte sich zu einer scheußlichen Fratze. »Sie wissen zu viel!« rief er höhnisch. »Ich muß Ihren Kürbis haben!« – Geibel wurde von wahnsinniger Furcht gepackt. »Der Kürbis ist unverkäuflich«, beteuerte er zitternd, »es ist ein Ausstellungsstück. Wir haben andere, auch sehr schöne Kürbisse, das Pfund zu 35 Pf.!« – »Ich will aber diesen Kürbis!« schrie der Fremde und griff mit seinen langen grünlichen Fingern nach Geibels Hals. »Niemand darf etwas wissen, verstehen Sie? Niemand!« Verzweifelt schlug Geibel um sich. Er wußte: Wenn er seinen Kürbis verliert, ist es aus mit ihm. Mit der linken Hand fuhr er der Fratze in die schwammigen Augen, während er mit der rechten den Telefonhörer ergriff, um das Überfallkommando anzurufen, »Hilfe!« schrie er in höchster Not. »Hilfe!!!« – –

Geibel fuhr hoch, von einem schmerzenden Stoß in der Seite geweckt, der von einem Ellbogen herrührte.

»Ich werde dir Hilfe, verdammter Kerl!« wetterte Lakosch, »Phantasiert hier und macht alle Leute wach, und währenddem klingeln die sich tot!«

Wieder klingelte es. Es war der Fernsprecher, den Geibel über Nacht neben seinem Schlafplatz stehen hatte. Er merkte erstaunt, daß er den Hörer bereits in der Hand hielt.

»Geschäftszimmer Ic, Gefreiter Rembrandt!« meldete er sich, noch ganz verstört. Lakosch bekam einen Lachanfall, der von dem noch schlafenden Unteroffizier Herbert durch ein empörtes Zischen gerügt wurde.

»Gute Nacht, Sie Tüte!« tönte es aus dem Apparat. »Hier Ia, Unteroffizier Schmalfuß! Oberleutnant Breuer soll sich sofort marschfertig beim ›Ia‹ melden! Ohne Wagen!«

»Oberleutnant Breuer sofort ohne Wagen beim ›Ia‹ melden!« wiederholte Geibel mechanisch. »Jetzt mitten in der Nacht?« setzte er erstaunt hinzu. »Ja wieso, ist denn was los?«

»Quatschen Sie nicht so dämlich!« antwortete barsch die Stimme.

»Erstens ist es acht Uhr, und zweitens ist was los! Die Russen greifen an!«

Im Augenblick war Geibel munter. Er warf den Hörer hin, ohne abzuläuten, sprang auf und stürzte ins Nebenzimmer.

»Aufstehen!« brüllte er, »Aufstehen, Herr Oberleutnant! Die Russen greifen an!«

»Nun ja doch!« gähnte Oberleutnant Breuer. »Ist ja gut! Deswegen brauchen Sie doch nicht so zu schreien!«

Also doch! dachte er noch im Halbschlaf. Eins zu null für die Rumänen! Er zog sich mit einiger Eile an und goß im Stehen eine Tasse kalten Tee herunter, während Lakosch schnell noch zwei Klappschnitten mit Büchsenleberwurst zum Mitnehmen schmierte.

»So ein Pech, daß der Schwindel gerade heute anfängt!« verabschiedete sich Breuer. »Also kümmern Sie sich mal um den Film, Herr Fröhlich! Wahrscheinlich sind wir bis fünf Uhr längst wieder zurück.«

 

 

Langsam fraß sich das Licht des Morgens durch die dicken Nebelschwaden, die über der Donniederung und den Höhenzügen vor Kletskaja lagerten. Weiß schimmerte die weite Schneefläche, vielfach durchschnitten von dem Schwarzbraun der Wege und Fahrspuren und den schlecht ausgebauten rumänischen Gräben. Die Beobachter bei den Maschinengewehrständen blickten unter ihren Zeltbahnen gelangweilt über die Drahthindernisse hinweg in die wogende Milchbrühe. Die Sicht nach dem Don hin betrug in der Halbdämmerung knapp hundert Meter. Die Nacht war ruhig verlaufen. Auch jetzt herrschte auf der Feindseite tiefe Stille. Kein Schuß, kein Laut, kein Motorengeräusch. Wer sollte bei diesem Wetter auch Lust zum Kriegführen haben!

Durchgefroren und froh der Bewegungsfreiheit, die der Nebel gewährte, kamen die ersten Infanteristen aus ihren Bunkern und Schlupflöchern gekrochen, schlugen die Arme nach Kutschermanier übereinander und liefen mit kurzen Schritten ein Stück über die Felder. Bald standen kleine Gruppen außerhalb der Gräben zusammen, rauchten und schwatzten. Schwatzten sich ihren Ärger von der Leber.

Es war nämlich so: Die rumänischen Divisionen wurden nur für einen Zeitraum von sechs Monaten an die Ostfront geschickt. Einen längeren Einsatz konnte die rumänische Heeresleitung ihren Soldaten, die ohnehin schon lustlos genug kämpften, nicht zumuten. Für die Infanteriedivision, die den Mittelabschnitt der Front vor Kletskaja besetzt hielt, war schon seit längerem der 18. November als Tag der Ablösung vorgesehen gewesen. Seit Wochen hatten die Soldaten diesen Tag herbeigesehnt. Ihre Gedanken waren nicht mehr in der grausamen fremdländischen Gegenwart, sie waren vorausgeeilt in die Heimat zu Frau und Kind, zu den fruchtbaren Niederungen der Dobrudscha, den wilden Karpatenwäldern, den Freuden des leichtlebigen Bukarest. Infolge irgendwelcher Transportschwierigkeiten war jedoch die ablösende Division noch nicht eingetroffen. Durch ein Versehen deutscher Versorgungsstellen hatte man aber die für die Wartenden bestimmte Verpflegung für die letzten zwei Tage bereits der neuen Truppe zugeleitet. Kein Wunder also, daß die Männer heute schimpften und fluchten. Auf den erbärmlichen Fraß, auf den scheußlichen russischen Winter, von dem man nun zu guter Letzt doch noch etwas abbekam, und überhaupt auf diesen elenden Krieg, den sie nicht gewollt hatten und der nicht der ihre war.

Da –! Plötzlich zischt und schwirrt es böse und unheimlich, schwillt gräßlich an über den ganzen Frontabschnitt hinweg… Schreckensschreie, Warnrufe. Und schon bricht das Unwetter los. Urplötzlich steht da ein Wald von Stichflammen auf der dröhnenden Erde, Splitterhagel fegt pfeifend daher, Wolken schwefeligen Qualms wälzen sich über die Fläche. So plötzlich dieser Feuerüberfall, so unerwartet in der trägen Ruhe des Morgens, daß hier selbst der immer wache Instinkt des Frontsoldaten versagt. Ein Teil nur der ahnungslos herumstehenden Männer hat die drohende Warnung des Rauschens erfaßt und ist blitzschnell in Deckung gesprungen. Die übrigen sind niedergemäht, ehe noch ihr Bewußtsein begriffen hat.

Die Beschießung nimmt an Stärke zu. Zu der Unzahl von »Stalinorgeln« gesellen sich Geschütze aller Kaliber. Eine Wand von haushohen Erdfontänen schießt empor, schiebt sich über die berstenden Minenfelder im Vorgelände hinweg, zerfetzt die Drahthindernisse, befällt die Gräben und Maschinengewehrnester, Holzteile, Waffen und Menschenleiber mit sich emporwirbelnd, und rollt auf die rückwärtigen Artilleriestellungen zu. Das brodelt und rauscht und heult und kracht… Die Erde selbst, zerrissen und zerfetzt, duckt sich unter dem höllischen Ausbruch der Materie. Was ist der Mensch –?

Die Artillerievorbereitung dauert etwa anderthalb Stunden und bricht dann ebenso plötzlich ab, wie sie begonnen hat. Vereinzelte Nachzügler gurgeln noch durch die Luft und detonieren irgendwo weiter hinten. Als die Rauchschwaden sich verziehen, ist die Landschaft aufgerissen wie ein von Riesenhänden umgepflügter Acker. Von den Stellungen der Rumänen ist nicht mehr viel übrig. Tote ringsum, und in die plötzliche Stille klingt das Wimmern und Stöhnen der Verwundeten.

Die Überlebenden in ihren Löchern krallen die Hände in den nassen Boden, pressen die verzerrten Gesichter in den Lehm, gegenwärtig, daß jeden Augenblick die Hölle von neuem sich öffnet. Sie beginnen wieder zu denken, und es ist bei allen nur ein Gedanke: Schon lag das alles hinter uns, schon winkte die Heimat! Und jetzt, jetzt noch zu guter Letzt hier elend verrecken für diese aufgeblasenen Hakenkreuzanbeter? Aus blitzartigem Gedanken erwächst ohne Worte...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2017
Zusatzinfo mit zahlr. s/w Abbildungen
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Anti-Kriegsroman • Deutsches Reich • Die verratene Armee • dokumentarischer Anhang • Kriegsgefangenschaft • Offizier • Original-Manuskript • Stalingrad-Schlacht • Trauma-Verarbeitung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-462-31700-8 / 3462317008
ISBN-13 978-3-462-31700-8 / 9783462317008
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