Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit (eBook)

Essay zur Geschichtstheorie
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
384 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490134-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit -  Achim Landwehr
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Was ist Geschichte, und woher wissen wir, wie die Vergangenheit beschaffen war? Der Historiker Achim Landwehr präsentiert mit seinem neuen Buch ?Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit? ein Grundlagenwerk der Geschichtstheorie. In einer klugen geschichtsphilosophischen Wendung zeigt er, wie wir unsere Vergangenheit selbst erschaffen. Denn was Historiker als »Quellen« bezeichnen, die Zeugnisse vergangener Welten, sind bloß Ausschnitte, Schnipsel, die interpretiert sein wollen. Für alle, die wissen wollen, was es mit der Geschichte jenseits der Ereignisse auf sich hat, erklärt Achim Landwehr, warum die Wirklichkeit unfassbar ist und wir der Historie nicht entkommen können. Nicht zuletzt entwickelt er ein neues Zeitmodell des Historischen. Dabei setzt er ungewöhnliche Akzente - und macht deutlich, dass auch in der Geschichte »alles fließt«.

Achim Landwehr, geboren 1968, lehrt Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Einführung ?Historische Diskursanalyse? (2009) ist ein wichtiges Standardwerk für Studierende. Bei S. Fischer erschien von ihm 2014 ?Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert?. 2012 erhielt er für seinen Beitrag ?Die Kunst, sich nicht allzu sicher zu sein: Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung? den Essaypreis der Zeitschrift »Werkstatt Geschichte«. Er betreibt einen Geschichtsblog unter www.achimlandwehr.wordpress.com

Achim Landwehr, geboren 1968, lehrt Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Einführung ›Historische Diskursanalyse‹ (2009) ist ein wichtiges Standardwerk für Studierende. Bei S. Fischer erschien von ihm 2014 ›Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert‹. 2012 erhielt er für seinen Beitrag ›Die Kunst, sich nicht allzu sicher zu sein: Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung‹ den Essaypreis der Zeitschrift »Werkstatt Geschichte«. Er betreibt einen Geschichtsblog unter www.achimlandwehr.wordpress.com

Ein grandioses Werk.

Wer sich […] auf den Band einlässt, wird viele als selbstverständlich genommene erkenntnistheoretische und methodologische Grundpositionen der Geschichtswissenschaft intelligent hinterfragt finden

Vergangenheit


Wir brauchen die Vergangenheit nicht zu zerstören: sie ist fort; jeden Augenblick könnte sie wiederkehren, Gegenwart scheinen und sein. Wäre es eine Wiederholung? Nur wenn wir dächten, wir besäßen sie, aber da wir’s nicht tun, ist sie frei und wir ebenso.

John Cage[1]

Beschreibungen astronomischer Phänomene in weit entfernten Galaxien folgen einer ganz eigenen Rhetorik. Seit es für Weltraumteleskope möglich ist, Aufnahmen von bisher unbekannter Qualität aus den entferntesten Ecken des Universums zur Erde zu übermitteln, erreicht die Poetik der Beschreibungen von planetarischen Nebeln, Supernovas oder Exoplaneten eine neue Qualität. Das Schwärmen in Farben, die im wörtlichen Sinn nicht von dieser Welt sind, die Häufung metaphorischer Beschreibungen (Weiße Löcher, Blaue Riesen, Dunkle Materie), die Bezeichnung von Sternenkonstellationen, die teils der antiken Mythologie, teils einem nüchternen Katalogisierungssystem entstammen – all das hat eine ganz eigene Textgattung hervorgebracht.

Ein wesentlicher Bestandteil dieser Astropoetik sind die schier endlosen zeitlichen Dimensionen, die nur noch in Millionen und Milliarden von Lichtjahren beziffert werden können und die jede menschliche Vorstellungskraft übersteigen. Frappierend sind diese Zeitangaben, weil alles, was wir hier auf Erden von den Sternen sehen können und was uns von den Weltraumteleskopen übermittelt wird, bekanntermaßen nichts ist als Licht – sehr altes Licht, das einen sehr langen Weg und damit auch sehr viel Zeit hinter sich gebracht hat.[2]

Auch wenn wir es mit Zeitdimensionen gänzlich anderer Größenordnung zu tun haben, so scheint es doch die eine oder andere Parallele zwischen Astronomie und Geschichtsschreibung zu geben. Auch Sternengucker haben es offensichtlich nicht mit aktuellen, sondern mit teils unfassbar alten Zuständen zu tun. Die Gegebenheiten im Universum, die uns hier und heute als gegenwärtig erscheinen, gehören einer Vergangenheit an, die in dieser Form nicht mehr existiert. Astronomie und Geschichtswissenschaft beschäftigen sich also mit Phänomenen, die in der Gegenwart wahrgenommen werden, aber in der Vergangenheit geschehen sind. Das bietet nun insbesondere für Zeitreisende ungeahnte Möglichkeiten. Schon ein Blick ins All könnte genügen, um sie dort tatsächlich zu sehen: die Vergangenheit! Das Universum könnte der einzige, dafür aber unendlich große Raum sein, in dem wir dieser Vergangenheit tatsächlich ansichtig werden können: die Reise in outer space als Bewegung back in time.

Jede Beschreibung unserer eigenen oder einer der unzählbar vielen anderen Galaxien müsste daher konsequent in der Vergangenheitsform gehalten sein. Was dort jeweils durch bildgebende Verfahren zum Vorschein gebracht wird, ist nicht, sondern war einmal. Ebenso konsequent müsste jede Beschreibung ihre eigene Standortgebundenheit zum Thema machen, müsste also immer unterstreichen, dass sie von einer staubkorngroßen Erde unter bestimmten perspektivischen Voraussetzungen vorgenommen wird. Wir sehen also nicht das Weltall von irgendwo anders her, sondern wir erstellen Modellierungen des Universums, die unserem irdischen Kenntnisstand entsprechen. Betrachtet man den Duktus astronomischer Beschreibungen, funktionieren diese aber durchaus anders. Sie sind zumeist im Präsens gehalten und nehmen nicht selten eine Art gottgleicher Perspektive ein, die ›von außen‹ auf die Zustände schaut. Aber wo sollte dieses Außen sein? Und wann ist das Jetzt, von dem da beständig die Rede ist?

Den Blick in den Abendhimmel als Reise in die Vergangenheit zu verstehen, stellt sich letztlich als eine anthropozentrische Sicht der Dinge dar, bei der man sich eigentlich auf die kleinen menschlichen Fingerchen klopfen müsste, weil mal wieder alles und jedes auf den Homo sapiens mit all seinen Unzulänglichkeiten gebündelt wird. Was soll denn beispielsweise eine Reise ins Weltall bewirken – wo wir doch schon längst da sind und auf unserer blauen Murmel in diesem Universum herumschwirren? Und was soll es heißen, dass wir beim nächtlichen Blick an den Himmel in die Tiefen der Vergangenheit sehen können? Sehen wir tatsächlich den vergangenen Zustand erloschener Sterne – oder erblicken wir nicht vielmehr das Licht als Medium, das den Raum durchquert hat und nun in unserer Gegenwart für uns eine bestimmte Bedeutung gewinnt? Sehen wir also tatsächlich in die Vergangenheit hinein? Oder sehen wir, wie die Vergangenheit zu uns kommt?[3]

 

Nicht nur Außenstehende, sondern auch manche Angehörige der historischen Zunft sollen ja tatsächlich zu der Ansicht neigen, der Gegenstand der Geschichtsschreibung sei die Vergangenheit. Das ist natürlich Unsinn. Ohne Zweifel richtet sich das historische Interesse auf Geschehnisse der Vergangenheit, auf die Beschaffenheit früherer Gesellschaften oder auf das Leben untergegangener Kulturen. Aber eigentliche Gegenstände der historischen Forschung können diese und viele andere Aspekte nicht sein – einfach deswegen, weil sie nicht mehr existieren. Wenn sich die Geschichtsschreibung daher nicht mit der Vergangenheit beschäftigen kann, weil diese nun einmal unweigerlich vergangen ist, dann unterscheidet sich die historische Forschung von allen anderen Wissenschaften dadurch, dass sie sich mit dem beschäftigt, was es nicht (mehr) gibt.[4]

Um dieses Dilemma zu umgehen, werden Hilfsmittel benutzt, die es ermöglichen sollen, die nicht mehr vorhandene Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Es sind Hilfsmittel wie Texte, Bilder, Gebäude, Zeitzeugen oder Dinge, die den eigentlichen Gegenstand historischer Arbeit bilden.[5] Es sind diese Krücken, mit denen Historiker mehr oder weniger geschickt versuchen, in die Vergangenheit zu humpeln – um dann immer wieder festzustellen, dass das Material ihnen unüberwindbare Grenzen auferlegt, dass sie nicht weiter kommen als bis in die Räumlichkeiten von Archiven, Bibliotheken und Museen oder bis zu den Aussagen von Überlebenden. Die Vergangenheit mag für manche ein Sehnsuchtsort sein. Zu erreichen ist er nicht.

Historisches Arbeiten, unabhängig davon, ob es sich in akademischen oder anderen Kontexten bewegt, hat es demnach nicht mit einer ›Vergangenheit als Vergangenheit‹ zu tun, sondern mit einer gegenwärtigen beziehungsweise vergegenwärtigten Vergangenheit.[6] Damit handelt es sich bei dieser Vergangenheit um etwas entscheidend anderes als das, was einst tatsächlich geschehen ist.

Schlechte Karten also für alle Möchtegern-Zeitreisenden, denn der Weg ist versperrt: Wie soll man auch an ein Ziel gelangen, das es nicht mehr gibt? Diese Einsicht hat aber auch ihr Gutes, weil sie einer potentiellen Gefahr und einem gerne kolportierten Vorurteil entgegenwirkt, dass sich nämlich alle historisch Interessierten in der Vergangenheit verlieren könnten: Lauter Don Quijotes, die sich in ein idealeres Gestern hineinphantasieren. Nun kann man sich aber schwerlich in etwas verlieren, das nicht mehr vorhanden ist. Man müsste im Gegenteil davon sprechen, dass das Interesse am Gestern nicht nur einem spezifischen Interesse am Heute entspringt, sondern insgesamt ein sehr gegenwärtiges ist – dass es sich bei der Geschichtswissenschaft also um eine Gleichzeitigkeitswissenschaft handelt. Don Quijote ist nicht nur deswegen eine sehr gegenwärtige Figur, weil er unter seinen Zeitgenossen große Aufmerksamkeit erregte und zu erheblicher Bekanntheit gelangte, sondern weil er seine ›Zeitgenossen‹ auf ihre ›Zeitverhältnisse‹ aufmerksam machte. Er führte ihnen vor Augen, wie sie sich in ihrer Gegenwart zur Vergangenheit verhielten (indem sie beispielsweise Ritterromane in gesundheitsgefährdender Zahl konsumierten).

 

›Geschichte‹ zu haben, ›Geschichte‹ zu betreiben, ›Geschichte‹ zu machen und ›Geschichte‹ zu erforschen kommt nicht der Reise in einer Zeitmaschine gleich, eben weil der Gegenstand all dieser Praktiken nicht die Vergangenheit ist. Das wird auch deutlich anhand der historischen (nicht physikalischen) Wurmlöcher, die wir zu bohren versuchen, um in einer anderen Zeit anzukommen. Das Bohren kann man dabei durchaus wortwörtlich nehmen. Wenn beispielsweise die Tiefen der Gletscher oder des arktisch-antarktischen Eises daraufhin untersucht werden, wann sich welche klimatischen Veränderungen vollzogen haben; wenn die Entdeckung von Dinosaurierskeletten, die Millionen von Jahren alt sind, nicht nur die Erkenntnisse über die Geschichte des Lebens auf unserem Planeten verändert, sondern auch unmittelbar zu verlebendigenden Rekonstruktionen im Naturkundemuseum führen; wenn der als Ötzi bekannten Gletschermumie aus der Jungsteinzeit eine ganze Biographie zugeschrieben werden kann – dann müssen wir doch den berechtigten Eindruck haben, hier einen zumindest ausschnitthaften Blick in die Vergangenheit erhaschen zu können. Aber ebenso wie beim Sternenlicht, das endlose Lichtjahre unterwegs war, um uns vom vergangenen Zustand des Universums zu künden, dürfen wir weder die Bewegungsrichtung noch unsere eigene Beobachtungsposition übersehen. Es sind nicht nur wir, die wir uns früheren Zeiten interessiert zuwenden, sondern es sind ebenso die Überbleibsel aus früheren Zeiten, die auf uns zukommen. Und diese Überbleibsel kommen abgetrennt von ihrem ursprünglichen Zusammenhang auf uns zu – um durch uns in einen neuen Zusammenhang gestellt zu werden. Insofern ist die Frage nicht nur, was uns das aus der Vergangenheit Überkommene über diese Vergangenheit sagen kann, sondern...

Erscheint lt. Verlag 22.9.2016
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Archiv • Epistemologie • Ereignis • Erkenntnistheorie • Ethik • Geschichtsphilosophie • Geschichtstheorie • Geschichtswissenschaft • Historie • Kritik • Material • Überlieferung • Wahrheit • Wirklichkeit • Zeit
ISBN-10 3-10-490134-1 / 3104901341
ISBN-13 978-3-10-490134-3 / 9783104901343
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