Beihilfe zum Völkermord (eBook)

Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier
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2015 | 1. Auflage
344 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-299-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Beihilfe zum Völkermord - Jürgen Gottschlich
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Deutschland strebte mit dem Ersten Weltkrieg die Vorherrschaft im Orient an und zog dazu seinen Bündnispartner Osmanisches Reich in den Krieg hinein. Dessen Armee wurde von deutschen Militärs geleitet, die alle Armenier im Land als Spione und Verräter ansahen, da diese angeblich mit dem russischen Feind kollaborierten. Aus der eingeleiteten Umsiedlung der armenischen Bevölkerung in Richtung syrische Wüste wurde von türkischer Seite schnell ein Völkermord. Ihm fielen mehr als eine Million Menschen zum Opfer, was die deutsche Regierung als »hart, aber nützlich« akzeptierte. Bedenken von Diplomaten und Kirchenvertretern wurden beiseite gewischt.
Jürgen Gottschlich ist an die Orte der damaligen Ereignisse gereist, hat Nachkommen der betroffenen Familien befragt sowie deutsche und türkische Archive durchforscht. Entstanden ist eine spannende historische Reportage, die die ganze Dimension der deutschen Verstrickung in den Genozid offenlegt und die Auseinandersetzungen um dieses umstrittene Geschehen bis in die Gegenwart verfolgt.


Jürgen Gottschlich, Jahrgang 1954, studierte Philosophie und Publizistik, war Mitbegründer der tageszeitung und ist seit 20 Jahren Korrespondent der taz in Istanbul. Im Ch. Links Verlag erschienen u.a. »Türkei. Erdogans Griff nach der Alleinherrschaft« (2016) und »Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier« (2015).

Jürgen Gottschlich: Jahrgang 1954, Studium der Philosophie und Publizistik in Berlin; 1979 Mitbegründer der taz, bis 1993 dort als Journalist tätig, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur; ab 1980 regelmäßige Reportagereisen in die Türkei; 1994 stellvertretender Chefredakteur der Wochenpost; seit 1998 Korrespondent für verschiedene Zeitungen in Istanbul.

»Die stinkenden schwarzbärtigen Halbwilden«


Wie sich der deutsche Offizier Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg im Kampf gegen die Armenier bewährt

Der Mann ist nervös. Unruhig rutscht er hinter dem Steuer des klapprigen Golfs hin und her und kaut unentwegt auf seiner Unterlippe. Dabei ist die Schotterstraße, auf der der Wagen sich dahinquält, nicht dazu angetan, die Lippen zwischen die Zähne zu nehmen. Die Schlaglöcher rütteln das Auto heftig durch, es ist also Vorsicht geboten mit allem, was einem zwischen die Zähne kommt.

Doch Ahmed, so heißt der junge Mann am Steuer, denkt offenbar weniger an die Gefahren der Schotterpiste als vielmehr an das Ziel der Reise. »Warum Süleymanli«, möchte er gern wissen. »Da gibt es doch nichts zu sehen.«

Unser Ziel ist ein abseits gelegenes Bergdorf im Südosten der Türkei. Der Name der Häuseransammlung, die nach einer halben Stunde Fahrt am Berghang auftaucht, Süleymanli, ist ein neuer Name, den kaum einer kennt. Früher hieß der Ort Zeitun, und Zeitun hat in der Türkei einen dunklen, unheilvollen Klang. Offenbar bis heute, wie ich schon früher an diesem Tag erleben konnte.

Auf dem Busbahnhof in Kahramanmaras wurde ich nach der Frage, wo denn der Minibus nach Süleymanli abfahre, misstrauisch gemustert. Erst nach mehreren vergeblichen Anläufen fand sich ein Platzanweiser, der auf einen entfernteren Bahnsteig deutete und unwillig murmelte: »Ja, ja, dort geht der Bus nach Süleymanli, es dauert aber noch ein wenig.«

Wie üblich fuhr der Minibus nicht nach Plan, sondern der Fahrer wartete einfach, bis er voll war. Auch wenn man von Istanbul im Verkehr einiges gewohnt ist, staunt man immer wieder darüber, was in der tiefen Provinz unter einem vollen Bus verstanden wird. Als wir endlich losfuhren, stapelten sich die Leute förmlich – nicht nur auf den Sitzen, sondern auch auf jedem freien Flecken im Gang.

Es war ein wolkenverhangener, regnerischer Tag im Februar. Mühsam quälte sich der überladene Minibus Kilometer um Kilometer immer weiter hinauf in die Berge. Die Sicht war schlecht und durch die verdreckten Scheiben noch weiter eingeschränkt. Als wir dann nach gut zwei Stunden am Endhaltepunkt anlangten, hielten wir auf einem von hässlichen Ferienapartments umstellten Platz, der ganz und gar nicht nach dem historischen Süleymanli / Zeitun aussah.

Wir sind auch nicht in Süleymanli, sondern in Ilica, einem expandierenden Ferienort, in den die Bewohner von Kahramanmaras oder Gaziantep im Sommer vor der Hitze der Ebene fliehen. Wie die meisten Ferienorte außerhalb der Saison macht auch Ilica einen ziemlich trostlosen Eindruck: fast alle Häuser leer, die meisten Cafés geschlossen und wenig Betrieb auf der Straße. »Süleymanli, na ja, das ist noch ein paar Kilometer weiter rauf in die Berge. Bis dahin fährt der Bus aber nicht«, meint der Fahrer mit der Verwunderung des Ortskundigen über den Fremden. »Da ist doch der Weg viel zu schlecht.« »Gibt es ein Taxi?« »Taxi, nein, aber vielleicht einen Bekannten mit einem Auto, der sich ein paar Lira verdienen will.«

Der Fahrer winkt einen Mann herbei, der sich erst einmal nach dem Woher und Wohin erkundigt, dann aber bereit scheint, ein Auto zu besorgen. Doch statt zu seinem Auto gehen wir in einen Laden, dessen Fensterfront mit alten Zeitungen zugeklebt ist. Dahinter verbirgt sich eine Metzgerei. Um einen langen Tisch, auf dem in der Saison wahrscheinlich Lämmer und Schafe zerlegt werden, hocken zehn Männer und trinken Tee. Ein zahnloser Alter erzählt, er sei aus Süleymanli. »Willst du wirklich dahin?«

Während der alte Mann abfällige Bemerkungen über den angeblichen Ort seiner Herkunft vor sich hin murmelt, telefoniert der Gastgeber offenbar mit einem Offiziellen. »Jawohl, Kommandant«, sagt er, »ein Fremder aus Istanbul, aber eigentlich aus Almanya. Will nach Süleymanli.« Es bleibt unklar, was der Kommandant am anderen Ende der Leitung sagt, aber offenbar kann er keine Bedrohung für die nationale Sicherheit erkennen. »Tamam«, sagt der Gastgeber nur noch und grinst etwas verlegen, als er merkt, dass ihn alle anschauen. »Her sey yolunda«, also alles okay.

Wir hocken trotzdem noch weiterhin in der Metzgerei herum, bis endlich ein junger Mann hereinkommt, der sich als Ahmed vorstellt und dann einen Autoschlüssel in die Hand gedrückt bekommt. Es ist der Schlüssel zu dem klapprigen Golf, mit dem wir dann aufbrechen. Ahmed kommt aus einem Dorf ganz in der Nähe von Süleymanli. Sein Vater züchtet Schafe, er hilft dabei, aber im Winter ist nicht viel zu tun. Er hockt deshalb meistens in Ilica und schlägt dort mit anderen jungen Männern die Zeit tot. Das sei immer noch besser, als im Dorf darauf zu warten, dass der Frühling kommt.

Als die ersten Häuser von Süleymanli am Berghang auf der anderen Seite einer Schlucht, in die wir gerade hinunterrutschen, auftauchen, spricht Ahmed dann aus, was ihm wahrscheinlich schon die ganze Zeit im Kopf herumgeht: »Ermeni? Du kommst wegen der Ermeni?« Der fortdauernde Unwille, einen Fremden nach Süleymanli zu befördern, der sich bereits in Kahramanmaras zeigte, sich in Ilica fortsetzte und Ahmed nervös im Auto zappeln ließ, hat seinen Grund genau in diesem Stichwort: »Ermeni«, türkisch für Armenier.

Obwohl unter türkischen Intellektuellen mittlerweile offen über den Genozid am armenischen Volk im Jahr 1915 diskutiert wird, ist das Thema in der einfachen Bevölkerung immer noch tabuisiert oder doch zumindest mit einem erheblichen Unbehagen verbunden. Man wird nicht gern darauf angesprochen, man will nicht daran erinnert werden. Dabei ist den meisten Einwohnern der heutigen Türkei durchaus klar, dass damals etwas schiefgelaufen sein muss. Vor allem in Gegenden, in denen vor hundert Jahren viele Armenier gelebt haben, gibt es ein über die Generationen tradiertes Wissen über Vertreibung, Tod und Verschwinden der früheren Nachbarn.

Auch Ahmed weiß, dass Süleymanli, als es noch Zeitun hieß, einmal ein armenisches Städtchen war und dass hier schwere Auseinandersetzungen stattfanden, die mit der kompletten Vertreibung der armenischen Bevölkerung endeten. Auch wenn er wahrscheinlich nicht genau weiß, dass unterhalb der schroffen Felsen und der Zitadelle von Zeitun mit dem Deportationsbefehl für die Einwohner der Stadt im März 1915 der Völkermord begann, weiß er doch, dass Zeitun ein Ort von »Unruhestiftern« war. Auf der Einfahrt in das Dorf zeigt er auf einen schönen Brunnen, der erst kürzlich restauriert worden ist. »Das«, meint Ahmed, »ist alles, was von den Armeniern in Zeitun übrig geblieben ist.«

Als wir durch die Gassen des Dorfes laufen und vergeblich nach weiteren Hinweisen auf die früheren Bewohner suchen, erklärt Ahmed dann, warum jetzt keine Armenier mehr hier leben. In Zeitun habe es einen Aufruhr gegen den Sultan gegeben, so habe er gehört. Rebellen, die das bis dahin friedliche Zusammenleben von Armeniern und Türken zerstört hätten. Schließlich habe die Armee eingreifen müssen, um die Aufrührer zu vertreiben. Seitdem gebe es in Zeitun keine Armenier mehr, und seitdem heiße das Dorf auch nicht mehr Zeitun, sondern Süleymanli, benannt nach dem damaligen türkischen Kommandanten. Alles okay also?

Blick auf das ehemalige Zeitun, heute Süleymanli, Aufnahme von 2013

Der gelangweilte Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg


So ähnlich wie Ahmed es gehört hat, sah vor hundert Jahren auch der deutsche Offizier Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg, der im Ersten Weltkrieg zur Unterstützung der türkischen Verbündeten ins Osmanische Reich abkommandiert war, die Lage in Zeitun. In einem Brief an seinen Vater vom 30. März 1915 schrieb er:

»Mir geht es bis auf einen tüchtigen Schnupfen, den ich mir neulich im Libanon geholt habe, ganz gut. Militärisch ist ja leider so wenig los wie drüben bei der Kavallerie-Division, aber zu tun gibt es genug und Ärger soviel man haben will. Da liegt im Norden meines Bezirks ein Nest namens Zeitun, der Hauptsitz der in der Gegend hausenden Armenier.

Die haben sich nun wieder einmal etwas mausig gemacht. Einige Räuberbanden haben sich auf unseren Etappenstraßen herumgetrieben, ein paar Transporte angegriffen, einige Gendarmen totgeschossen u. s. w.

Als sie verfolgt wurden, haben die Einwohner ihnen Schutz gewährt und hatten die Frechheit, der Regierung zuzumuten, die Kerls zu begnadigen, dann würden sie Ruhe halten, andernfalls würden sie sich einer Verhaftung der Kerls widersetzen. Es hatten sich auch schon in der Umgebung von Zeitun ein paar Tausend angesammelt. Ich wollte nun die Sache mit einem Schlag beenden, um nicht größere Unruhe zu haben, und habe 4 Bataillone, ein paar Schwadronen und eine Batterie hingeschickt, die von verschiedenen Seiten vorgehend Zeitun umschließen und die Bande entwaffnen sollten. Das ist auch so ziemlich gelungen. Es gab nur ein kleines Gefecht um eine Kirche, wo ein Teil sich verschanzt hatte, im Übrigen sahen die Armenier doch, daß es Ernst würde, und gingen gutwillig auseinander, so daß ich hoffen kann, daß die weitere Verfolgung der Räuber ungestört vor sich geht.«1

Die »Hoffnung«, die Major Wolffskeel in dem Brief an seinen Vater zum Ausdruck bringt, erfüllt sich auf dem Schlachtfeld jedoch nicht. Obwohl er gegen die vermeintlichen »Räuber« vier Bataillone, das sind bis zu 4000 Soldaten, nach Zeitun schickt, gelingt es den »Räubern«, sich in einem verlassenen Derwisch-Kloster unweit von Zeitun zu verschanzen und den Soldaten fortdauernden Widerstand zu leisten.

Die Gegend um Zeitun eignet sich allerdings auch besonders gut, um sich...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2015
Reihe/Serie Politik & Zeitgeschichte
Zusatzinfo 77 s/w-Abbildungen und 4 Karten/Tabellen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Armenien • Deutschland • Ernst Jäckh • Erster Weltkrieg • Europa • Friedrich Bronsart Schellendorf • Genozid • Geschichte • Griechenland • Hans Freiherr von Wangenheim • Hans Humann • Henry Morgenthau • Ismael Enver • Osmanisches Reich • Syrien • Talaat • Türkei • Völkermord • Wilhelm Colmar von der Goltz • Wilhelm II.
ISBN-10 3-86284-299-1 / 3862842991
ISBN-13 978-3-86284-299-5 / 9783862842995
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