Mein Jahr im Wasser (eBook)

Tagebuch einer Schwimmerin
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
336 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-7933-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Jahr im Wasser -  Jessica J. Lee
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Niemals hätte Jessica J. Lee gedacht, dass ausgerechnet die Seen rund um die deutsche Hauptstadt ihrem Leben eine neue Wendung geben würden. Geboren und aufgewachsen in Kanada, hat sie später viele Jahre in England verbracht. Berlin mutet ihr zunächst unwirtlich an. Als Lichtblick erscheinen ihr die unzähligen Seen rund um die Stadt. Und die passionierte Schwimmerin beschließt: 52 der über 3000 im Brandenburger Land versteckten Gewässer wird sie im Laufe eines Jahres testen - ganz egal, ob die Augusthitze über dem Nymphensee brütet oder die klirrende Kälte den Schlachtensee gefrieren lässt ... Mit zarter Lakonie erzählt »Mein Jahr im Wasser« von Verlorenheit und Fremdheit, von frühen Verletzungen und kindlichen Ängsten, aber auch von seidig-klarem Wasser auf der Haut und der meditativen Wirkung, die das Schwimmen in offenen Gewässern haben kann. Am Ende lösen sich nicht alle Probleme, aber es wächst ein Gefühl von Zuhause quer über alle Kontinente hinweg.

Jessica J. Lee, geboren 1986 in Ontario (Kanada), hat Landschaftsgeschichte studiert und in diesem Fach auch promoviert. Anlässlich ihrer Doktorarbeit über den berühmten Londoner Hampstead Heath betrieb sie ausgedehnte Feldforschungen und entdeckte bei den Winterschwimmern im Park ihre eigene Passion für das eiskalte Wasser. Die kanadisch-britische Autorin lebt und schwimmt seit 2014 in Berlin.

Herbst


Durchmischung: Die obere

Wasserschicht des Sees kühlt ab

und sinkt auf den Grund. Während

des Jahreszeitenwechsels mischt

der Wind den See durch, bis

Vollzirkulation erreicht ist.

Ein Lichtbecken


Es ist Ende September, aber so freundlich, dass es mich zum Wasser drängt. Mir ist nach einem Ausflug. Einem Tag der Abgeschiedenheit, um mir über meine Gefühle angesichts des Jahreszeitenwechsels und der Fertigstellung eines Großteils meiner Arbeit klar zu werden. Der Sommer war so heiter und betriebsam gewesen, dass ich immer mehr unter Termindruck geriet, geradezu süchtig war nach der Ausschüttung von Adrenalin, die mit ganztägigen Touren auf dem Rad und zu den Seen einhergeht. Zu den Seen zu gelangen war mir zur Aufgabe geworden, und der Takt, den ich gefunden hatte, funktionierte bei warmem Wetter besonders gut, da ich im sommerlichen Sonnenschein noch stundenlang unterwegs sein konnte. Doch jetzt, im Herbst, geht mir allmählich die Tragweite meiner Entscheidung auf.

Das halbe Jahr über ist Berlin ein düsterer Ort. Zwar herrscht nicht die immerwährende Nacht des hohen Nordens, aber doch ein allmählich sich festsetzendes Grau. Zur Herbstmitte hin, wenn die Uhren umgestellt werden, geht die Sonne gegen 16.00 Uhr unter, im Mittwinter bereits um 15.30 Uhr. Selbst bei Tageslicht wirkt ein Großteil der sehr eben liegenden Stadt düster. In den letzten Wochen war ich meist allein und oft erschöpft. Als hätte sich mit der abnehmenden Wärme und der sich festsetzenden Kälte auch in mir etwas festgesetzt und als wäre all meine Kraft erforderlich, es wieder ans Licht zu zerren. Nicht Depression – die kenne ich auch, das ist es nicht –, sondern Traurigkeit. Die Art von Trauer, die mit dem Wechsel der Jahreszeiten zusammenhängt und mit der Erkenntnis, dass die Zeit vergeht und ich noch immer hier bin und diesen Plan verfolge. In schweren Wellen brandet Heimweh heran – nach Freunden, nach vertrauten Orten – und verwandelt Alleinsein in Isolation. Im Sommer hatte ich mit all meinen Schwimmausflügen zu den Seen einen Rhythmus gefunden, doch den innersten Kern meiner Verstimmung hatte ich gemieden. An jenem Tag an der Krummen Lake, als ich mich vor dem Schwimmen gefürchtet hatte, da war er aufgetaucht. Dieser kleine Splitter Einsamkeit und Furcht. Im Herbst, das weiß ich, werde ich meinen Frieden damit machen müssen.

Ich nehme den Zug nach Spandau, westlich des alten Olympiastadions aus den dreißiger Jahren, und radele von dort zum Sacrower See. Die Strecke ist einfach, eine Vorstadtstraße, die mich an einer Stelle an Orte aus meiner Kindheit erinnert: an einer Ecke eine Esso-Tankstelle, an der anderen ein KFC. Als wären uns diese Orte, wo immer sie auftauchen, bestens bekannt. Geborgenheit und Kummer in Lokalitäten des Kommerzes gezwängt.

Hinter den Wohnsiedlungen erscheinen Felder und Bäume, nur gelegentlich von einem Dorf unterbrochen. Schließlich wird die ruhige Straße zu einem Schotterweg und dann zu Wald. Auch die Stille stellt sich nach und nach ein, und als ich den Wald erreiche, ist das Affengeschnatter endlich verstummt. Diese Woche habe ich rund um die Uhr gearbeitet, auf einen Abgabetermin hin, und um einen klaren Kopf zu bekommen, bin ich auf diesen Schwimmausflug dringend angewiesen. Ich bin auf der Suche.

Der Wald, der See und die ruhigen Straßen, die hier verlaufen, liegen etwas beklommen am Stadtrand, fast lieblos an die Havel gequetscht. Ich schiebe mein Rad in den Wald und die Straße entlang zu den Schildern, die darauf hinweisen, dass hier einst die Grenze verlief, und wie ich so zwischen den Bäumen hindurchwandere, merke ich, dass die Strecke Teil des Berliner Mauerwegs ist, der entlang der deutsch-deutschen Grenze des Kalten Kriegs verläuft. Der Mauerweg wurde zwischen 2002 und 2006 angelegt und gehört zu den Projekten, mit denen die Stadt Berlin und Privatinitiativen versuchen, den ehemaligen Grenzstreifen zu nutzen. Ein Birkenhain ist bis dicht an die Straße vorgerückt und erobert sich das Terrain zurück. Wie so vieles in der Stadt ist alles gedämpft und eingehüllt in gänzlich entrückte Traurigkeit, doch wo die Bäume sich lichten, zeigt sich strahlendstes Blau. Dort hinten liegt das Wasser.

Ich schiebe mein Rad über den Sandweg, als ein Vater mit seinem Sohn mich überholt. Sie halten kurz an, um sich nach meinem Rad zu erkundigen. Ich plaudere eine Weile mit dem Vater, dann fällt mir auf, dass ich über mein Fahrrad spreche wie über eine Freundin. Sie ist phantastisch, sage ich, absolut zuverlässig. Die beiden wünschen mir einen schönen Tag und radeln weiter, genießen ihren Sonntag. Etwas an der ungezwungenen Art, wie sie ruhig nebeneinander herradeln, rührt mich. Ich rücke mein Rad näher an mich heran, der dunkelgrüne Rahmen glüht geradezu im Licht der Kiefern, und als die beiden um eine Biegung verschwinden, verlasse ich den Pfad, um ein Plätzchen zum Schwimmen zu finden.

Dort vorn beschattet eine Erle eine winzige Sandbucht; an der lasse ich mich nieder und taste mich ins durchsichtige Nass vor. Das Wasser ist von jener gläsernen Klarheit, von der Schwimmer regelmäßig erzählen, dass man sie nur zu Beginn der jahreszeitbedingten Umschichtung erlebt. Man bemerkt sie nur, wenn man wirklich oft im See schwimmt, sodass man den Zeitpunkt wahrnimmt, da die sommerlichen Schwebeteilchen absinken und an der Oberfläche nur klarstes Wasser zurücklassen. So bleibt es nicht, doch im Herbst ist das Wasser ein paar magische Momente lang kristallklar, es ist, als schwimme man durch einen Edelstein.

Was an Restsommerwärme noch übrig war, hat sich schnell verflüchtigt, und die Wasseroberfläche ist kühl, also schwimme ich hinaus in die Sonne und ziehe rückenschwimmend meine Kreise, bis ich müde werde. Hier draußen ist kein Mensch, und zum ersten Mal seit langem fühle ich mich vollkommen entspannt, ohne jeden Hauch von Angst. Mir stockt der Atem, als ich daran denke, dass es diesen Ort schon immer gegeben hat, hier im Grenzgebiet. Der Sacrower See lag im Osten, genau neben der Mauer. Wer hat damals hier gebadet?

Ich schwimme ans Ufer und trockne mich ab, bevor ich den Waldweg entlanggehe, der das Ostufer des Sees berührt. Bald stoße ich auf eine weitere Lichtung mit einem noch größeren, noch sonnigeren Strand, und dort sitzen Vater und Sohn und lesen einander in der Nachmittagswärme Comics vor. Lächelnd lehne ich mein Rad an einen Baum und mache mich wieder bereit fürs Wasser. Dieses Ende des Sees fühlt sich irgendwie anders an, offener und wärmer, also paddele ich hinaus und lasse mich eine Weile in der Sonne treiben, bis Wolken aufziehen und mir kalt wird. Wir haben fast Oktober.

Wieder warm angezogen, verabschiede ich mich von Vater und Sohn und mache mich auf den Rückweg. Durch den Wald gibt es eine Abkürzung, sodass ich nicht die ganze Strecke zurückmuss. Ich schiebe mein Fahrrad und nicke den Sonntagsspaziergängern zu, die mir unterwegs begegnen. Heute Nachmittag ist auf dem Mauerweg viel los, aber das Schwimmen hat etwas in mir zurechtgerückt, und ich bin dankbar dafür, allein sein zu können.

Zum Waldrand hin blitzt etwas Blassrosanes im Grün auf. Erdorchideen, denke ich zuerst, doch als ich genauer hinschaue, erkenne ich einen Strauch Indisches Springkraut, ein invasiver Neophyt, der sich hier etabliert hat. In anderen Gegenden Deutschlands werden die Leute angehalten, die Stängel zu verzehren, um die Pflanze auszurotten. Die dünnen, zahnblätterigen Stängel können meterhoch werden und rauben anderen Pflanzen das Licht, bei der leisesten Erschütterung platzen die Samen aus den Schoten und verteilen sich überall. Aber dieses Exemplar ist klein. Rosa Blüten im September sind erstaunlich, und so bleibe ich stehen, um mir die lippigen Blüten anzusehen. Nur wenige Pflanzen ziehen einen solchen Hass auf sich, aber ich kann nicht umhin, sie wunderschön zu finden. Ich bücke mich, um sie eingehender zu betrachten.

Die Fliegen, die meine Füße umsummen, ignoriere ich. Jetzt habe ich von dem Springkraut genug gesehen und trete einen Schritt zurück, doch das Insektengebrumm wird lauter. Als ich hinabblicke, sehe ich, dass der Boden zu meinen Füßen dunkelrot gefärbt ist. Es ist getrocknetes Blut, und überall schwirren Fliegen.

Ich spähe den Weg entlang, aber außer mir ist da niemand. Woher das Geräusch kommt, kann ich nicht sehen, aber ich höre Fliegen, eine Unzahl von Fliegen. Eigentlich sollte ich weitergehen – da vorne ist schon die Straße –, doch ich bleibe wie angewurzelt stehen und recke den Hals, um die Quelle dieses Insektenrauschens auszumachen. Im Gebüsch muss es sein. Irgendjemand hat, was immer hier gestorben ist, vom Pfad ins Gebüsch gezerrt, und wie in einem grauenvollen...

Erscheint lt. Verlag 3.4.2017
Übersetzer Nina Frey, Hans-Christian Oeser
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reisen Reiseberichte
Schlagworte Abenteuer • Badeseen • Berlin • Brandenburg • Einsamkeit • nature memoir • Schwimmen • See • Theodor Fontane • Wasser • Winterschwimmen
ISBN-10 3-8270-7933-0 / 3827079330
ISBN-13 978-3-8270-7933-6 / 9783827079336
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