So wenig Buchstaben und so viel Welt -  Hugo Loetscher

So wenig Buchstaben und so viel Welt (eBook)

Reise-Essays und Reportagen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
480 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61485-5 (ISBN)
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Hugo Loetscher war ein Schriftsteller, der »erfahren wollte, was mir als Welt zugefallen war«. Von der Schweiz aus brach er in alle Himmelsrichtungen auf, oft im Auftrag von Zeitungen und Magazinen, für die er kenntnis- und geistreiche, literarisch funkelnde Essays und Reportagen schrieb. Loetschers Blick für die Gleichzeitigkeiten und Mischformen einer globalisierten Welt ist ungemein modern, sein Stil immer originell und überraschend. Dieser Band ist ein wunderbarer Ausgangspunkt, um einen der großen Schweizer Autoren und Publizisten neu- oder wiederzuentdecken.

Hugo Loetscher (1929 - 2009) wurde mit Romanen wie ?Abwässer? und ?Der Immune? zu einem der bekanntesten Schweizer Schriftsteller und Publizisten. Als Journalist bereiste er regelmäßig Lateinamerika, Südostasien und die USA und war Gastdozent an internationalen Universitäten. Hugo Loetscher, der in Zürich lebte, war Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung und wurde 1992 mit dem Großen Schiller-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.

Hugo Loetscher (1929 – 2009) wurde mit Romanen wie ›Abwässer‹ und ›Der Immune‹ zu einem der bekanntesten Schweizer Schriftsteller und Publizisten. Als Journalist bereiste er regelmäßig Lateinamerika, Südostasien und die USA. Ein besonderes Interesse hatte er immer für das Medium Fotografie. Hugo Loetscher, der in Zürich lebte, war Gastdozent an Universitäten in der Schweiz, den USA, Deutschland und Portugal sowie Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. 1992 wurde er mit dem Großen Schiller-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.

Die Faszination der Gleichzeitigkeit menschlicher Möglichkeiten

1994

Unvorstellbar von Städten zu reden, ohne dass mir gleich das Wort »urban« einfällt. Allerdings in einer Bedeutung, die es immer mehr verliert, wenn überhaupt noch besitzt.

»Urban« hieß einmal »kultiviert«, »verfeinert« oder »weltmännisch«. Heute jedoch bezeichnet das Wort alles, was generell die Verhältnisse der Stadt und ihren Problembereich ausmacht.

Wenn Christo »urbane Projekte« plant, hat dies nichts mit »Kultiviertheit« zu tun, sondern damit, dass er nicht Landschaftliches, sondern Bauobjekte verpacken will, die sich in einer Stadt befinden – ob den Pont-Neuf in Paris oder das Reichstagsgebäude in Berlin.

In Wörterbüchern lässt sich der Bedeutungswandel nachschlagen. Heinsius, der für die Geschäfts- und Lesewelt im letzten Jahrhundert Konversationswörter auf‌listete, verstand unter urbanisieren »feinsittig machen«. Man würde auf unseren Bauämtern Verlegenheit hervorrufen, fragte man die Beamten, wie sie es bei ihrer Arbeit mit der Feinsittigkeit hielten. Sie könnten ihrerseits Wörterbücher konsultieren; noch immer fänden sie für urban »kultiviert« und als zweite Bedeutung »städtisch«; urbanisieren hieße ganz in ihrem Sinn »einen Ort oder eine Ansiedlung städtisch machen«. Damit dürfte klar sein, dass man Baurechte vergeben und Zonen festlegen kann, ohne feinsittig sein zu müssen.

Dass das Wort urban schlechthin für »kultiviert« steht, mag einen merkwürdig berühren, wenn man an ein heutiges Schlagwort denkt wie die »Unwirtlichkeit der Städte«, konfrontiert mit der alarmierenden Frage: ob Städte überhaupt noch bewohnbar sind.

Der Satirejournalist Juvenal hat als einer der Ersten den Unerträglichkeitskatalog einer multikulturellen Metropole in Verse gebracht. Das Verkehrschaos (»Wagen biegen in scharfer Wendung um die Straßenecken, und die Treiber schimpfen laut, wenn ihre Herde nicht weiterkann«) und die Kriminalität (»kein Verbrechen und keine Untat der Willkür fehlt«); schuld daran sind die Zuwanderer aus dem Orient (»Zu unseren Hügeln strömte Sybaris, Rhodos, Milet und in frecher Trunkenheit Tarent«), und in dieser »vergriechten Stadt«, im Rom des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, sind selbst die Prostituierten nicht mehr einheimisch-bodenständig: Es ist am besten, man flieht aufs Land, denn dort »kann man ein ganzes Haus kaufen für das, was man in Rom als Miete für eine Wohnung bezahlt«, demnach empfiehlt Juvenal: »Verliebe dich in deine Hacke … und lebe als Hüter eines gepflegten Gemüsegartens.«

Nicht dass einem die Klagen von einst über die eigenen Leiden hinweghelfen, aber sie zeigen, dass man mit ihnen nicht allein dasteht und nicht einmal so originell ist. Um sich ein komplexeres Bild von der guten alten Zeit zu erwerben, lohnt es sich, in einem Verbrecherlexikon nachzulesen. Die europäischen Großstädte sind erst Anfang letzten Jahrhunderts zu der Einrichtung gekommen, die wir Kriminalpolizei heißen. Um London als Beispiel zu nehmen: Die Stadtbürger hatten vorher selber für Sicherheit und Habe zu sorgen; sie engagierten zu ihrem Schutz thief-takers; diese »Dieb-Schnapper« verstrickten sich ihrerseits in Korruption wie die später halbamtlichen runner, welche Bürger als eine Art Privatdetektive mieteten. Als Scotland Yard 1829 geschaffen wurde, schätzte man in London die Zahl derer, welche ausschließlich von Raub und Diebstahl lebten, auf 30000. Mit den Bobbys kam London zu der Kriminalpolizei, wie sie Paris seit Kurzem mit der »Sûreté nationale« besaß, einer eigenen Abteilung für Verbrechensbekämpfung innerhalb einer Polizeiorganisation, die bis anhin vorwiegend politisch für Ordnung gesorgt hatte. Der Mann, der die Sûreté organisierte, ein ehemaliger Straf‌fälliger, engagierte Exkriminelle, überzeugt, dass man am wirkungsvollsten auf Verbrecher Verbrecher ansetzt – eine homöopathische Methode, die eine eigene Form der Resozialisierung darstellt.

Einem jüngeren Bericht der Schweizerischen Vereinigung städtischer Polizeichefs ist zu entnehmen, dass sich die Gewaltkriminalität auf städtische Gebiete konzentriert. Daraus kann nicht geschlossen werden: je weiter weg von der Stadt, umso größer die Unschuld; mangelnde Gelegenheit war noch nie Ausweis von Tugend. Die Untersuchung bestätigt vielmehr, dass städtische Gebiete für Kriminalität und Dunkelagieren jeglicher Art günstigere Voraussetzungen schaffen.

In dem Maße, wie »städtisch« als »urban« für »kultiviert« stand, bezeichnete der Gegensatz »bäuerlich« oder »bäuerisch« das »Unkultivierte« – das Ungehobelte und Grobe, und dies in allen europäischen Sprachen. Der Norditaliener beschimpft nach wie vor den Südländer als Bauerntölpel, als terrone. Der Bauer erlebte auf der Bühne und zwischen Buchdeckeln die unterschiedlichsten Travestien, stets eine komische Figur, ob als Millionär oder zuletzt als Astronaut. Er, der so leicht hereinzulegen ist, wie der Bauernfänger meint, auch wenn dieser mit Bauernschläue rechnen muss. Aber Bauernfußball spielt man stilistisch nun einmal nicht in der Liga A. Und der Bauer frisst nicht, was er nicht kennt, selbst wenn es Kartoffeln sind; aber hinterher hat der dümmste Bauer die größten. Er mag sich darüber freuen und singen, aber wenn er singt, jauchzt er dazu.

Als Arroganz äußert sich hiermit ein Sprachgebrauch, der Verhältnisse überdauerte, aus denen er hervorgegangen ist. Die Redeweisen spiegeln eine historische Situation, in welcher eine ländliche und eine städtische Gesellschaft gesondert nebeneinander lebten. Die Stadtmauern markierten die Trennungslinie einer sozialen und kulturellen Dualität.

Die Entwicklung hob die Unterschiede auf. Einmal dadurch, dass als Folge der Aufklärung die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde. Zudem glichen sich Ausbildungs- und Arbeitsstil in dem Maße an, als die Landwirtschaft sich technisierte; der Konsum weckte und deckte Bedürfnisse, die sich kaum nach Stadt und Land unterschieden. Und die modernen Kommunikationsmittel bieten den gleichen Informationsstand.

Die Mauern selber fielen, als man die Befestigungsanlagen schleifte, als anstelle der Wehrgräben Ringstraßen angelegt wurden; der Brunnen stand nicht mehr vor dem Tore und das Tor selber in der Stadt. Es galt, der Stadt Platz zu schaffen, und sie machte davon Gebrauch – planlos und spekulierend, weitete sich aus und wucherte in die Region hinein, mit Wohnvierteln, Industriezonen und Niemandsland. Es entstand etwas Neues, das weder Stadt noch Land ist, nicht mehr Stadt, aber städtisches Gebiet, die Agglomeration. Bei diesem Agglomerationsprozess verlor das Zentrum seine Bedeutung. Nicht nur wegen des Wegzugs in die Vororte, was im Falle amerikanischer Städte zur Verslumung der City führte. Das Zentrum wurde relativiert durch das, was sich an neuen Zentren in den städtischen Gebieten heranbildete, sofern die Agglomeration nicht gewillt war, sich als reine Schlafstadt zu verstehen oder sich einer Hierarchie von Mutterstadt und Satellitenstadt zu fügen.

Die Städte machten eine Entwicklung mit, welche darüber hinaus auch die Geografie der politischen Machtzentren veränderte, die ihre Absolutheit verloren. »Verlust der Mitte« geht die konservative Klage; aber es ist ein demokratisierender Prozess.

Soll dies heißen, dass eine Agglomerationskultur im Entstehen ist, sodass neben die Urbanität von einst eine Suburbanität von heute (oder morgen) treten wird – als Ergänzung und Ausweitung oder gar als Ablösung? Sosehr die Stadt die Nicht-Stadt verachtete, sie wertete die Unkultur des Bauern zugleich als Unverdorbenheit und Ursprünglichkeit. Bevor Europa in Amerika den »edlen Wilden« entdeckte, feierte es auf dem eignen Kontinent die edle Unschuld des Landmannes.

Ein Vergil bekundete mit seinem Lehrgedicht Landbau viel praktische Kenntnis. Aber der Großstädter lieferte dem Großstadtmüden das schicke Credo: et ego in Arcadia – das Simple als letztes Raf‌finement, was immer die Boutique dafür verlangt. Auch die, welche nach Vergil behaupteten, sie seien in Arkadien gewesen, waren so wenig wie er in dieser rückständigen Gegend Griechenlands, von wo die Bewohner wegen der misslichen Lebensverhältnisse schon in der Antike in die Städte auswanderten.

Das ländliche Idyll ist eine Erfindung der Städter; dafür liefert die Schweiz europäische Beispiele. Nicht Bergler begannen die Alpen zu besingen. Es war ein Städter wie Albrecht von Haller; er staf‌fierte die Sennen mit Unschuld aus; erst in der zweiten Fassung seiner Gedichte konzedierte er ihnen Sündhaftigkeit. Und ein Städter wie Salomon Gessner machte keinen Hehl daraus, dass Misere und Plumpheit der damaligen Bauern keine Vorlage abgaben für die schöne Dichtung seiner Bestselleridyllen.

Anderseits hat die Stadt stets vom Land geträumt, als sei dies der Garten Eden, aus dem die Bewohner vertrieben wurden und denen nichts anderes übrig blieb, als sich im Schweiß des Angesichtes in Städten einzurichten. Das Land bot als ad-interim-Paradies eine Erholungspause. Der grüne Traum kann sich zur voreiligen Erlösung verführen lassen, zu Idyllen, die nicht außerhalb gesucht werden, sondern im eigenen Innenleben. Dann wird der Hausfrauenurbanismus mobilisiert, der einen Blumentopf hier aufstellt und dort eine Reihe von...

Erscheint lt. Verlag 29.5.2024
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • Afrika • Amerika • Asien • Bildteil • Brasilien • Burri • Daniel • Der Immune • Du • Fotografie • Fotos • Hitsch • Journalismus • Karthago • Lateinamerika • Lusitanische Welt • Magazin • Neue Zürcher Zeitung • Philippinen • Portugal • Reise • Reisebericht • Reisereportage • René • Reporter • Schwartz • Schweiz • Schweizer Autor • Schweizer Literatur • Spiller • Südamerika • Tages-Anzeiger Magazin • Tobias • Toledo • unveröffentlicht • Willy • Zeitung
ISBN-10 3-257-61485-3 / 3257614853
ISBN-13 978-3-257-61485-5 / 9783257614855
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