Personzentrierte Psychotherapie und Beratung (eBook)

Störungstheorie - Beziehungskonzepte - Therapietechnik

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 2. Auflage
404 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61922-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Personzentrierte Psychotherapie und Beratung -  Jobst Finke
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Das Lehrbuch führt in die personzentrierte Persönlichkeitstheorie und in die allgemeine wie auch spezielle Störungstheorie ein. Dabei erweitert es die Ideen von Carl Rogers im Rahmen aktueller Psychotherapie(-forschung). Unterschiedliche Beziehungskonzepte werden als Basis einer differenzierten Therapietechnik beschrieben und mit Fallbeispielen häufiger Störungsformen (Angst-, depressive, somatoforme, Ess-, Persönlichkeitsstörungen) praxisnah veranschaulicht. So entsteht jeweils ein plastisches Bild von der 'inneren Welt' der Klientinnen und Klienten. Schritt für Schritt wird die therapeutische Orientierung an 'Schlüsselthemen' in Beispieldialogen erklärt. Die Arbeit mit existenziellen Fragen und Träumen sowie Focusing, Gruppen-, Paar- und Familientherapie runden das umfassende Lehrbuch ab. Wer in Beratung und Psychotherapie personzentriert arbeiten will, braucht dieses Buch!

Dr. med. Jobst Finke, Essen, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Neurologie-Psychiatrie, ist in eigener Praxis, Supervision und als Ausbilder u.a. für Gesprächspsychotherapie (GwG, ÄGG) tätig.

Dr. med. Jobst Finke, Essen, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Neurologie-Psychiatrie, ist in eigener Praxis, Supervision und als Ausbilder u.a. für Gesprächspsychotherapie (GwG, ÄGG) tätig.

1Zu den ideengeschichtlichen Voraussetzungen der Personzentrierten Psychotherapie

1.1Intuition und Vielfalt gegen rationales Planen und klassifizierendes Ordnen

„Keine Theorie kann ohne Kenntnis ihrer kulturellen und persönlichen Grundlage richtig verstanden werden“ (Rogers 1959/1987, 11). Dieser Aussage von Carl R. Rogers, dem Begründer der Personzentrierten Psychotherapie (PZT) bzw. der Gesprächspsychotherapie (GPT), nachdrücklich zustimmend, sollen vor allem einige dieser kulturellen Grundlagen hier skizziert werden.

Das uns hier interessierende Verfahren wurde von Rogers (1902–1987) zunächst „Nicht-direktive Beratung“, dann aber bald „Klienten-zentrierte Therapie“ (Rogers 1951/1973a) genannt. Mit diesen Namen wollte Rogers jeweils auch eine „Gegenzentrierung“ (Waldenfels 1991) zu jenen Ansätzen anzeigen, die er als direktiv, d. h. den Klienten nach den Zielvorstellungen des Therapeuten/Beraters lenkend, also als „Therapeuten-zentriert“ ansah. Nicht nur in der Psychoanalyse der 1920er bis 1950er Jahre, sondern auch in der damals sich gerade entwickelnden Lebens- und Erziehungsberatung (Rogers 1942/1972), bestand noch eine starke Orientierung am Leitbild der modernen Wissenschaft, wie es sich besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Diese Orientierung implizierte auch das Leitbild des unbeirrbaren, souveränen Forschers, des ebenso umsichtig wie objektiv und kompetent operierenden Experimentators. Diesem Ideal hatte in der Psychotherapie bzw. der Beratung der Therapeut bzw. der Berater insofern zu entsprechen, als von ihm erwartet wurde, dass er ebenso professionell wie souverän den vermeintlich in Ratlosigkeit und Irrtum befangenen Patienten zu Einsicht und angemessenem Verhalten führt. Der Therapeut/Berater wird also in der frühen Beratungspraxis der 1930er und 1940er Jahre (!) ganz selbstverständlich in der Rolle des allwissenden Experten gesehen, der die Problematik des Patienten systematisch analysiert und daraus fundierte Ratschläge oder erhellende Deutungen ableitet.

Bei der Frage, was nun im Ansatz von Rogers das Revolutionäre, das umwälzend Neue in den psychotherapeutischen Diskursen war, muss man sich diese Zeitumstände vor Augen halten. Die Entschlossenheit von Rogers, so etwas wie die Empathie zum zentralen Moment eines psychotherapeutischen Unternehmens zu machen, bedeutete beim Erscheinen seines Schlüsselwerkes „Client-Centered Therapy“ (Rogers 1951/1973a) etwas geradezu Unerhörtes. Die Vorstellung, dass nicht kenntnisreiche Ratschläge oder umfassende Interpretationen eines vermeintlich objektiv beobachtenden und mit einem unbeirrbaren Wahrheitsanspruch analysierenden und urteilenden Experten Heilung bringen sollten, sondern dass nur das intensive Sich-Einfühlen in die innere Welt des Klienten, das Nachempfinden seines Erlebens der entscheidende Wirkfaktor von Psychotherapie sein sollte, widersprach allen Denkgewohnheiten von wissenschaftlich begründeter Therapie. Ja, wurde nicht hierdurch auch die Bedeutung von objektiv urteilender Vernunft und rationalem Wissen zumindest für die Psychotherapie infrage gestellt? Wenn der Therapeut sich darauf beschränkt, nur das nacherlebende Alter Ego seines Klienten zu sein (Rogers 1951/1973a), wenn er, sein eigenes Selbst beiseite stellend (Rogers 1951/1973b, 47), nur aus der Rolle eines einfühlsamen, Anteil nehmenden Doppelgängers seines Klienten fungiert, kann dann der letztere davon überhaupt profitieren? Erfordert nicht die Korrektur dysfunktionaler Einstellungen und maladaptiver Interaktions- und Verhaltensmuster eine objektiv urteilende Distanznahme zum Erleben des Klienten?

Rogers würde diese Bedenken vielleicht mit der Begründung zurückweisen, dass zahlreiche Therapiestudien, seine eigenen und die seiner Schüler und Anhänger (Zusammenstellungen z. B. bei Frohburg 2009; Bierman-Ratjen/Eckert 2017), die Wirksamkeit seines Konzeptes belegen, in dem der Therapeut nicht als der allwissende Experte und der objektiv urteilende Beobachter fungiert, sondern als der anteilnehmende Begleiter des inneren Erlebens seines Patienten, den er lieber „Klient“ nennen möchte, um so auf dessen Autonomie und Selbstbestimmtheit zu verweisen. Damit weist Rogers implizit auch die tradierte Rollenaufteilung zwischen Therapeut und Patient zurück, die als eine Subjekt-Objekt-Beziehung das Paradigma der neuzeitlichen, „modernen“ Wissenschaft spiegelt: Das Subjekt (Therapeut) als Denkendes und das Objekt (Klient) als Gedachtes (Engelmann 1991). Die Kritik an solchen Denkmustern moderner Wissenschaft wird seit Lyotard (1979/1986) die „Postmoderne“ genannt, manchmal ist auch, besonders in Frankreich, vom „Poststrukturalismus“ die Rede.

Auch einen gewissen Anti-Rationalismus, wie er für die Postmoderne typisch werden sollte, könnte man manchmal bei Rogers herauslesen, wenn er seine Skepsis gegenüber einer wissensbasierten Erkenntnisvermittlung in der Psychotherapie deutlich macht:

„Das Misslingen eines jeden solchen intellektuellen Ansatzes hat mich zu der Erkenntnis gezwungen, dass wirkliche Veränderung durch Erfahrung in einer Beziehung zustande kommt“ (Rogers 1961/1973b, 46).

Rogers sieht das Wirkprinzip von Psychotherapie also nicht so sehr in der scharfsinnigen Analyse von Problemen, sondern er sieht es vor allem in der korrigierenden emotionalen Beziehungserfahrung, wie dies der Analytiker Alexander nannte (Alexander/French 1946). Einem solch rationalitätskritischen Ansatz entsprechend beschreibt Rogers auch sein eigenes therapeutisches Vorgehen:

„Ich lasse mich ein in die Unmittelbarkeit der Beziehung; mein ganzer Organismus, nicht nur mein Bewusstsein, übernimmt die Beziehung und sensibilisiert sich darauf hin. Ich reagiere nicht bewusst auf eine planvolle oder analytische Art, sondern einfach unreflektiert auf das andere Individuum“ (Rogers 1961/1973b, 199).

Rogers will als Therapeut also nicht reflexions-, sondern intuitionsgeleitet reagieren.

Diese Zitate zeigen an, dass Rogers den Geist der Postmoderne in der Psychotherapie um 20 bis 30 Jahre vorweggenommen hat, bevor diese Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren in den philosophischen und überhaupt geisteswissenschaftlichen Diskursen bestimmend wurde. (Einige Philosophen, so etwa Heidegger sowie Horkheimer und Adorno, haben freilich schon spätestens seit den 1940er Jahren im Sinne einer Modernitätskritik argumentiert.) Bei der Postmoderne handelt es sich um die Kritik am modernen Zweckrationalismus mit seiner Tendenz zur Instrumentalisierung der Vernunft; einer Vernunft, die die Tendenz zeigt, die Welt als Totalität zu durchschauen, um sie letztlich beherrschbar zu machen. Wegen dieser der Vernunft unterstellten Machtförmigkeit wurde in den postmodernen Diskursen auch vom repressiven Charakter der Vernunft gesprochen (Horkheimer/Adorno 1944/1969; Habermas 1996). Mit der Anwendung solcher Vernunft geht auch eine die Moderne kennzeichnende Subjekt-Objekt-Spaltung einher. Durch diese Spaltung, so die Kritik der Postmoderne, werde nicht nur die äußere, sondern auch die innere Natur des Menschen, also seine Psyche, zum Objekt emotional teilnahmsloser Beobachtung und kühl-distanzierter Forscherhaltung wie aber auch technischer Zurichtung und repressiver Überwältigung gemacht (Foucault 1988).

Bei Rogers finden wir diese Züge der Postmoderne, anders als in seiner Persönlichkeits- und Störungstheorie, in seiner Therapietheorie, schon insofern er hier ein Grundaxiom der modernen Wissenschaft zumindest für die Psychotherapie zurückweist, nämlich das Axiom, dass man die zu ändernden Phänomene in ihrem Bedingungsgefüge erst durchschaut bzw. intellektuell erfasst haben müsse, um sie verändern zu können. Aus dieser Kontra-Position ergibt sich dann auch der Verzicht auf eine Diagnostik (im Sinne einer „Status-Diagnostik“) und andere Urteils- und Ordnungsbildungen in der Psychotherapie. Rogers befürchtete, dass die Einmaligkeit des Klienten hinter dem diagnostischen Etikett verschwinden, d. h. durch die klassifizierende Gruppenzuordnung des Individuums nivelliert würde. Analoges findet sich auch in den postmodernen Diskursen zur Psychiatrie. Das Denken der wissenschaftlichen Moderne bedeutet nach Lyotard (1979/1986) einen Ausschluss von Heterogenität, bedeutet eine Reduktion von Vielheit zu Gunsten von Allgemeinheit und rational fassbarer Regelhaftigkeit. Denn der modernen Wissenschaft gehe es immer um die Gültigkeit von „allgemeinen“ Sätzen und Regeln, wobei das Individuelle, Vielgestaltige in Forschungsprojekten so zugerichtet werden müsse, dass es sich schließlich den auf Allgemeinheit zielenden wissenschaftlichen Erfassungsprozeduren füge und zu „verallgemeinerbaren“ Aussagen führe. Dies zeigt sich in dem für die Moderne typischen Klassifizieren und Kategorisieren vieler Phänomene. In Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie ist hier auf die jeweils eine umschriebene Allgemeinheit herstellende Gruppenzugehörigkeit der einzelnen Störungsdiagnosen sowie auf die entsprechenden genannten...

Erscheint lt. Verlag 8.7.2024
Reihe/Serie Personzentrierte Beratung & Therapie
Co-Autor Heinke Deloch, Gerhard Stumm
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Sucht / Drogen
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Angst • Angststörung • Echtheit • Empathie • Essstörung • experiencing • Felt Sense • Focusing • Gesprächspsychotherapie • GwG • Inkongruenz • nicht-direktiv • Persönlichkeitspsychologie • Persönlichkeitstheorie • Rogers
ISBN-10 3-497-61922-1 / 3497619221
ISBN-13 978-3-497-61922-1 / 9783497619221
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