Spielfilme in der Psychotherapie (eBook)
153 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61022-8 (ISBN)
Dr. Brigitte Fellinger, Retz, Österreich, ist Psychotherapeutin in eigener Praxis für Existenzanalyse und Logotherapie und im stationären Setting einer psychosomatischen Klinik tätig. Zudem bietet sie Fortbildungen zum Thema Filmtherapie an.
Dr. Brigitte Fellinger, Retz, Österreich, ist Psychotherapeutin in eigener Praxis für Existenzanalyse und Logotherapie und im stationären Setting einer psychosomatischen Klinik tätig. Zudem bietet sie Fortbildungen zum Thema Filmtherapie an.
2 Spielfilme als Therapeutikum
2.1 Von der Bibliotherapie zur Filmtherapie
Die Kunst des Erzählens und Vorlesens haben viele Großeltern beherrscht. Heute noch findet eine Renaissance dieser Fertigkeit statt, etwa wenn ehrenamtliche Vorleser in Kindergärten oder auch Altersheimen einerseits zum Lesen verführen, andererseits den Alltag durch das literarische „Entführen“ in andere Welten ermöglichen. Die Anfänge der therapeutischen Nutzung von Literatur, der Bibliotherapie, liegen ebenso wie jene der „Cinematherapy“ (oder eben Filmtherapie) in den USA. In den nächsten Ausführungen beziehe ich mich auf einen Vortrag von Dr. Norman Schmid aus dem Jahr 2017 in der psychosomatischen Klinik Eggenburg über Bibliotherapie. Schon 1916 wurde Literatur als psychologisches Therapeutikum verwendet und durch Crothers wurde der Begriff der Bibliotherapie geprägt (Crothers 1916). Die Wirkweisen der Bibliotherapie sind jenen der Filmtherapie durchaus ähnlich: Sie geben Trost, Mut, zeigen Lösungsmöglichkeiten auf, können helfen, Perspektiven zu verändern, halten einen Spiegel vor, aktivieren Ressourcen, lassen den Alltag für eine gewisse Zeit vergessen und können dem Leben wieder Sinn geben. Beide Interventionen haben dann Berechtigung, wenn sie individuell und prozessorientiert eingesetzt werden. Allerdings verlangt die Literatur, dass das Nichtgeschriebene „zwischen den Zeilen“ selbständig mit eigener Vorstellungskraft ergänzt wird.
„Der literarische Text ist eine Partitur, die von den Leserinnen und Lesern zur Aufführung gebracht wird. Der im Kino dargebotene Film dagegen ist eine Vorführung, die ihre Zuschauer weit stärker an den eigenen Ablauf bindet. Obwohl auch die Zuschauer im Kino das audiovisuelle Geschehen um vieles ergänzen müssen, hier müssen sie vor allem mit dem Gang der Dinge mithalten. Filme sind keine Partituren. Sie sind Darbietungen, denen das Publikum ausgesetzt ist. Ihnen zu folgen, erfordert die Bereitschaft, sich ihnen zu überlassen“ (Seel 2013, 120f.).
Ein Buch kann ich aus der Hand legen, vielleicht um über das eben Gelesene nachzudenken, und dann wieder fortsetzen. Im Zeitalter der DVD kann ich das prinzipiell auch machen, praktisch wird es aber meist so sein, dass ein Film zur Gänze angesehen wird. Während beim Buchlesen das Innehalten und das immer wieder Zwischendurch-Nachdenken und –Reflektieren mit zum Erleben beiträgt, ist das filmische Erleben eine Ganzheit. Ich werde den Sinn eines Filmes nur erfassen, wenn ich ihn zur Gänze ansehe. In der Filmtherapie besteht die Möglichkeit, Schlüsselszenen, die genauer reflektiert werden sollen, nochmals zu zeigen oder explizit darauf in der therapeutischen Auseinandersetzung zu verweisen. Der bedeutsamste Unterschied zwischen diesen beiden Therapiewerkzeugen liegt im haptischen Erfahren eines Buches. Menschen meiner Generation erleben die sinnliche Erfahrung des „Über-einen-Bucheinband-Streichens“, des Auseinanderfaltens der Seiten, vielleicht sogar des Geruches wahrscheinlich noch intensiver, da die jüngeren Generationen einen gänzlich anderen Zugang zum Lesen haben. Natürlich gibt es auch Ausnahmen.
Für viele Patienten mit unsicheren Bindungserfahrungen sind Bücher das, was eigentlich deren Bindungspersonen hätten sein sollen: Trostspender, liebevolle Begleiter und immer dann zur Stelle, wenn Bedarf war. Dank der im wahrsten Sinne des Wortes ständig sprudelnden Quelle der Verfügbarkeit von Spielfilmen, haben Filme die Rolle von Büchern in dieser Hinsicht übernommen. Spielfilme sind Anti-Stressmittel, helfen bei Liebeskummer, laden zum Träumen ein etc. Die Filmtherapie nutzt diese vielfältigen Effekte von Spielfilmen.
In der therapeutischen Praxis soll ja ein möglichst komplettes Orchester an heilenden Interventionen gespielt werden. Einer Kombination aus Bibliotherapie und Filmtherapie steht im therapeutischen Alltag daher nichts im Wege. Es kann durchaus Sinn machen, Literatur zu lesen und die verfilmte Literatur anzusehen.
2.2 Wirkweisen und Faszination des Mediums Film
„Im Hier und Jetzt lädt uns der Kinofilm zu einer Zeitreise in veränderte Konstellationen des Da und Dort sowie des Noch, Nochnicht und Nichtlänger ein“ (Seel 2013, 40).
2.2.1 Schwarz-weiß, Farbe, Licht, Bild
Ich darf Sie gleich zu Beginn zu einem Experiment einladen. Jene, die traumatherapeutisch arbeiten, kennen Ansätze davon aus der Screentechnik. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an einem Wohlfühlort und lassen Ihre Augen über die vor Ihnen liegende Landschaft wandern. Nehmen Sie nur wahr, was Sie alles sehen können, jedes kleine Detail. Und nun nehmen Sie die Farbe aus Ihrem Landschaftsbild. Wie wirken die einzelnen Details nun in Schwarz-weiß auf Sie?
Versuchen Sie, alle Schattierungen wahrzunehmen und lassen Sie jedes kleinste Detail auf sich wirken. Nun stellen Sie sich vor, dass ein Film über Ihre Landschaft gedreht wird. Sie werden sofort den Unterschied merken: Haben Sie zuerst Ihre Realität wahrgenommen, so würde ein Film nicht nur die Sinneswahrnehmung wiedergeben, sondern stellt die Bedeutung in den Vordergrund. Die Sinneswahrnehmung macht also dem Verstehen Platz. Spezielle Techniken, der sich jedes Genre des Films bedient, verfolgen einen Zweck:
„Der Film hat seine eigenen Weisen, tatsächliche und mögliche Konstellationen des Wirklichen und Möglichen zu erforschen, aus denen die menschliche Handlungswirklichkeit besteht“ (Seel 2013, 146).
Doch kehren wir nun zur Übung zurück. Immer noch sehen Sie Ihre Landschaft. Jetzt lassen Sie langsam wieder Farbe in Ihr Bild fließen. Versuchen Sie dabei, genau wahrzunehmen, was dieser Vorgang in Ihnen auslöst. Zuerst werden Sie merken, wie das Spiel der Farben Ihr Bild strukturiert, indem einzelne Farben die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Lassen Sie nun aber wieder den imaginären Film über Ihre Landschaft laufen, so werden Sie zwar wieder Farben sehen, dennoch ist die filmische Farbe gänzlich vom Licht abhängig. Unser Gehirn nimmt tatsächlich gesehene Farbe unabhängig von herrschenden Lichtwerten identisch wahr. Das Rot eines Kleides bleibt „rot“ – in der Mittagssonne wie auch im Abendlicht. Sehen wir ein rotes Kleid im Film, so ist die Wahrnehmung von „rot“ abhängig von der Kunst des Beleuchters. So kann in einer Sequenz ein Kleid auch tatsächlich als „rot“ wahrgenommen werden, während in einer anderen Sequenz dieses eigentliche Rot zum Orange mutieren kann. Die Folge sind Irritationen bei den Zusehenden.
Filmische Farbe hingegen „sorgt für visuelle Unruhe und muss verarbeitet werden“ (Brinckmann 2014, 24). Gehen Sie nun wieder zu Ihrer, inzwischen als Farbfilm gedrehten, Landschaft zurück. Und stellen Sie sich vor, Sie sitzen jetzt im Dunkel eines Kinosaals. Allein schon der imaginäre Wechsel von einer vielleicht sonnendurchfluteten Landschaft in einen verdunkelten Kinosaal fordert von Ihren Augen Adaptationsvorgänge, die im Alltag laufend zu vollziehen sind. Aber anders als in Spielfilmen prasseln diese unterschiedlichen Lichtverhältnisse nicht auf die Augen, so dass unser Gehirn ausreichend Zeit hat, die nötigen Abänderungen vorzunehmen.
Je nachdem, wie schnell oder langsam die Schnittfolge eines Films ist, um der Erzähldramaturgie gerecht zu werden, sehen wir vielleicht gerade eine Szene in der Wüste, die einen gleißend hellen Eindruck hinterlässt. Und im nächsten Moment werden wir durch eine Rückblende in einen grauen Novemberalltag in Manhatten geführt. Filme nützen diese Intervention, um die momentane Realität der Zuschauenden vergessen zu machen. Wie Brinckmann (2005) betont, erzeugt dieser Effekt eine intensivierte Wahrnehmung. Der Film zwingt uns zum Sehen (Brinckmann 2005). Darf ich Sie bitten, wieder ganz in Ihr Landschaftsbild einzutauchen? Stellen Sie sich nun vor, Sie sehen Ihre Landschaft durch das Auge einer Fotokamera. Unmerklich vielleicht zentrieren Sie Ihre Aufmerksamkeit auf ein besonderes Detail Ihres Bildes. Sollten Sie später eine Fotografie Ihrer Landschaft zeigen wollen, so werden die Betrachter nur jenen Ausschnitt sehen können, ohne das Umfeld zu sehen. Sie selbst hingegen erinnern sich sehr wohl an das Umfeld und an alle anderen Details. Und wenn Sie nun statt der Fotokamera durch eine Filmkamera sehen, so beginnt sich Ihre Landschaft zu bewegen. Das, was Ihnen einer näheren Betrachtung für wichtig erscheint, zoomen Sie heran, dann wieder gehen Sie auf eine Großaufnahme, um vielleicht einen künstlerischen Schwenk zu vollziehen und noch tiefer in das Bild einzutauchen. Sie folgen einer inneren Dramaturgie. Wenn Sie nun Ihren Film vorführen würden, so würden die Betrachter wiederum die Landschaft nur durch Ihre Augen kennenlernen: Genau das passiert auch in den Spielfilmen. Diese zwingen uns zum Sehen im Hier und Jetzt und erlauben uns, gar nicht auf unsere eigene Vorstellungswelt zurückzugreifen. Selbst Vergangenes, dargestellt durch Rückblenden, wird uns vorgegeben. Der Zeitmodus des Films, und dies trifft nach Seel auf alle Genres zu, ist das Präsens: „Er präsentiert die Gegenwart seines klangbildlichen Erscheinens“ (Seel 2013, 77).
Während des Betrachtens eines Spielfilms ist das Eintauchen in Eigenes quasi unerwünscht. Solange die Zuschauenden die Augen nicht verschließen, nehmen sie wahr, was auf der Leinwand zu sehen ist, aber auch, wie es zu sehen ist:
„Die durch Filme hervorgerufene Lenkung der Aufmerksamkeit für das Gezeigte basiert stets zugleich auf derjenigen durch das Zeigen: auf der Komposition der bildlichen Sequenzen,...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2018 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Film • Psychotherapie • Spielfilm • Wirkweisen |
ISBN-10 | 3-497-61022-4 / 3497610224 |
ISBN-13 | 978-3-497-61022-8 / 9783497610228 |
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