Bindung und Sicherheit im Lebenslauf (eBook)

Psychodynamische Entwicklungspsychologie

(Autor)

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2011 | 1. Auflage
176 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10256-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bindung und Sicherheit im Lebenslauf -  Eva Rass
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Eva Rass beantwortet die hoch umstrittene Frage, was entscheidender ist, Umweltfaktoren oder Genetik, so: Die Struktur des entstehenden menschlichen Gehirns ist eine Widerspiegelung der gelebten Erfahrung. Besonders die ersten 18 Monate sind von größter Bedeutung; der Affektregulation und der Qualität der Bindung kommen dabei eine Schlüsselrolle zu. Das Buch beginnt mit der Biologie der Schwangerschaft. Es stellt dann die folgenden Phasen des Lebens als ein Kontinuum dar. Es wird deutlich, dass die Lebensgestaltung selbst im Erwachsenenalter von der aktiven Ausformung bestimmt ist. Die erfahrene Kindertherapeutin Eva Rass erarbeitet eine Synthese der neuesten Entwicklungen in Bindungs- und Affektregulationstheorie, sozialer Neurowissenschaft und entfaltungsorientierter Psychoanalyse. Ihre Befunde sind, wie sie zeigt, evidenzbasiert. Zielgruppe: - KinderärztInnen - Kinderpsychiater - Kinder- und JugendlichentherapeutInnen - SozialarbeiterInnen - Pädagogen - Jugendämter - Familienbehörden - Auszubildende und Studierende

Prof. Dr. Eva Rass ist Honorarprofessorin der Hochschule Mannheim und Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Buchen/Odenwald. Sie übt Lehrtätigkeiten an verschiedenen Institutionen aus: Ärztliche Akademie für Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen e.V. München, Hochschule Mannheim (Fakultät Sozialwesen), Institut für Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Heidelberg, Institut für Psychoanalyse und Analytische Psychotherapie Würzburg e.V.

Prof. Dr. Eva Rass ist Honorarprofessorin der Hochschule Mannheim und Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Buchen/Odenwald. Sie übt Lehrtätigkeiten an verschiedenen Institutionen aus: Ärztliche Akademie für Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen e.V. München, Hochschule Mannheim (Fakultät Sozialwesen), Institut für Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Heidelberg, Institut für Psychoanalyse und Analytische Psychotherapie Würzburg e.V.

Geleitwort ..... 9

Vorwort ....... 13

Einleitung . . . . . . 16

Teil A: Entwicklungspsychologische Grundlagen . . . . . . . . . . 19

1 Die Neurobiologie der Mutter-Kind-Beziehung . . . . . . . . . 19

2 Die Entwicklung der Affektregulation . . . . . . . . . . . . . . 26

3 Die Gewährung von Bindungssicherheit: Eine wesentliche Funktion von Elternschaft . . . . . . . . . . . 33

3.1 Die zentralen Aussagen der Bindungstheorie . . . . . . . . . . . 34

3.2 Elternschaft als Funktion des Erwachsenenselbst . . . . . . . . . 38

3.3 Vater-Mutter-Kind: Die Bedeutung der Triade . . . . . . . . . . 42

4 Die sensomotorische Wahrnehmungsorganisation . . . . . . . . 45

4.1 Die rhythmische Synchronisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

4.2 Kontaktaufnahme mit der Wahrnehmungswelt des Kindes . . . 49

Die taktil-kinästhetische Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . 51

Die auditive Wahrnehmung .................... 53

Die visuelle Wahrnehmung .................... 56

Die Folgen einer unzulänglichen Wahrnehmungsorganisation . . 57

Teil B: Entwicklungsphasen in Kindheit und Jugend . . . . . . . . 61

5 Das Leben beginnt ......................... 62

5.1 Die Mutter-Kind-Interaktion in der Schwangerschaft . . . . . . 62

5.2 Die Geburt und der Prozess des Bondings . . . . . . . . . . . . 65

5.3 Exkurs: Frühgeburtlichkeit .................... 66

Die Ätiologie der Frühgeburt ................... 68

Das frühgeborene Kind ...................... 70

Das Schmerzempfinden des Frühgeborenen . . . . . . . . . . . 72

Die entwicklungsfördernde Pflege. . . . . . . . . . . . . . . . . 73

6 Perspektiven auf die frühe Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . 75

6.1 Die Notwendigkeit abgestimmter und »markierender« Resonanz ... 75

6.2 Die Teilhabe des Kindes an der entwickelten psychischen Organisation der Bindungsperson. . . . . . . . . . . . . . . . . 77

6.3 Der Ablösungs- und Individuationsprozess . . . . . . . . . . . . 78

6.4 Die Grundlagen für stabile Selbst- und Objektrepräsentanzen . . 80

7 Spielen als Grundform kreativen Lebens und konzentrierten Lernens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

7.1 Der »Spielraum« als Raum der Selbstorganisation und Entwicklung . 82

7.2 Bindungssicherheit als Voraussetzung des kreativen Spielens . . 84

7.3 Phasen der Spielentwicklung ................... 85

Das Nachahmungsspiel und die Entdeckung von Urheberschaft 86

' Die Bedeutung der dialogischen Abgestimmtheit . . . . . . . . 86

Spielerisches Erkundungsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . 88

Spielverhalten mit Symbolcharakter . . . . . . . . . . . . . . . . 90

Das Symbolspiel mit anderen Kindern . . . . . . . . . . . . . . 92 Das Heranführen an Regelspiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

7.4 Vom frühen kreativen Spiel hin zum bindungsorientierten außerfamiliären Lernen ...................... 93

Inhaltsverzeichnis 7

8 Von Natur aus anders – geschlechterspezifische Unterschiede 96

8.1 Heldendämmerung? Der Zeitgeist und die Krise der Jungen . . . 98

8.2 Geschlechtstypische Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . 100

8.3 Väterlichkeit und Mütterlichkeit: Die Bedeutung der stimmigen Differenz . . . . . . . . . . . . . 104

8.4 Die Vaterbeziehung und die Persönlichkeit des Jungen . . . . . . 110

8.5 Andersartigkeit bei Gleichwertigkeit als Entwicklungsspielraum . 116

9 Geschwistererfahrung ....................... 118

9.1 Unterscheide dich! – Der wichtige Differenzierungsprozess unter Geschwistern ......................... 120

9.2 Entwicklungspsychologische Bedeutsamkeiten . . . . . . . . . . 121

9.3 Die Geschwistererfahrung der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . 124

9.4 Die Gewährleistung von Bindungssicherheit . . . . . . . . . . . 127

10 Das Jugend- und frühe Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . 128

10.1 Körperliche Veränderungen und psychische Umbauprozesse . . 128

10.2 Die psychischen Umbauprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

10.

Geleitwort Im Laufe der Geschichte haben sich viele Forscher und Denker die Frage gestellt, wie sich Körper, Seele und Umgebungsfaktoren wechselseitig beeinflussen. Insbesondere die Humanwissenschaften versuchen zu erfassen, warum frühe Ereignisse im Leben wesentlichen Einfluss auf den weiteren Lebensweg haben und wie emotionale Erfahrungen die Muster des strukturellen Wachstums beeinflussen. Forschungsergebnisse der Neurobiologie, der affektiven Neurowissenschaften, der Bindungs- und Kleinkindforschung sowie der Psychoanalyse konvergieren in zunehmendem Maße, und ihre Befunde werden mehr und mehr zu einem soliden Fundament, auf das sich das sozioemotionale und biopsychosoziale Geschehen stützen kann. Eva Rass nimmt in diesem bemerkenswerten und mutigen Buch die Entwicklung der menschlichen Psyche von der Schwangerschaft bis ins hohe Alter in den Blick. In einer klaren und gut lesbaren Sprache sowie einer besonders pragmatischer Darstellung ist es ihr gelungen, die neuesten wissenschaftlichen Befunde, die für all jene nützlich sind, die sich mit Kinderentwicklung, mit Psychologie, mit Psychotherapie, mit Psychiatrie, mit Erziehung, aber auch mit den Entwicklungsprozessen im fortschreitenden Alter beschäftigen, nachvollziehbar darzustellen. Man merkt den Themen des Buches an, dass sie dem Praxisalltag einer erfahrenen Kindertherapeutin entstammen, die fortwährend mit Phänomenen des kindlichen Lebens inmitten seiner familiären und außerfamiliären Umgebung im derzeitigen Zeitgeist konfrontiert ist. Sie versteht es als ihre Aufgabe, sich auf Spurensuche zu begeben und die psychodynamischen Hintergründe der sich vor ihr ausbreitenden Probleme zu erforschen. Die Nöte der Kinder, die Sorgen ihrer Eltern und vielleicht sogar die Einflüsse der Großelterngeneration müssen dabei beachtet werden. Die größte Herausforderung der Autorin lag in der Integration sowohl genetischer Voraussetzungen als auch des Einflusses von Umgebungsfaktoren auf den Säugling und das heranwachsende Kind. Die neueste Forschung zeigt, dass es diese beiden Faktoren sind, die die gesamte Entwicklung und so auch die des Gehirns fundamental beeinflussen. Es kann heute als gesichert gelten, dass die Struktur des entstehenden Gehirns eine Widerspiegelung der gelebten Erfahrung ist. In den ersten 18 Lebensmonaten ist dessen Wachstum am größten. Aus der Komplexität der biologischen und Umgebungsfaktoren wählte die Autorin jene Aspekte der frühen Entwicklung aus, die für das spätere Leben als höchst bedeutsam anerkannt werden, wobei der Affektregulation durch die Fürsorgepersonen und der daraus resultierenden Qualität der Bindung als Basisgeschehen eine Schlüsselrolle zukommt. Historisch gesehen lief die unmittelbar forschende Beobachtung der Fürsorgeperson-Säugling-Beziehung zunächst relativ unabhängig von Studien der Neurowissenschaften ab. Doch erkannten sowohl die affektiven Neurowissenschaften als auch die entfaltungsorientierte Psychoanalyse im Verbund mit der Bindungsforschung maßgebliche Zusammenhänge in der neuronalen und mentalen Entwicklung. Eva Rass weist den Leser darauf hin, dass die frühen Erfahrungen die Entwicklungsmuster zwar tief beeinflussen, jedoch keine lineare Evolution zeitigen, da das menschliche System flexibel und selbst in späteren Lebenszeiten für Veränderungen offen ist. Die Autorin beginnt die Darstellung des Lebensverlaufs mit Überlegungen zur Psychobiologie der Schwangerschaft, da schon in diesem frühen Stadium die psychologische Haltung der Eltern das Gehirn und die Psyche des sich entwickelnden Fötus beeinflussen. Sie führt in einem weiteren Abschnitt in die Elternschaft als eine herausragende Funktion des Erwachsenenselbst ein. Diese Funktion verlangt vom Erwachsenen eine Einfühlung in den Säugling und das Kind, ohne dessen Bedürfnisse mit den Notwendigkeiten der eigenen, erwachsenen Psyche zu verwechseln. Der Eltern-Säugling-Dialog wird als ein Wechselspiel von Unterbrechung und erwartbarer Wiederherstellung der Bindung dargestellt, und der erfolgreiche Verlauf dieser wechselseitigen Interaktion ermöglicht den Aufbau einer stabilen Psyche, die mit einer spezifischen Widerstandskraft gegen spätere Belastungen ausgestattet ist. Eine wichtige Entwicklungszeit ist die Loslösungs- und Individuationsphase (angelehnt an Margaret Mahler), in der sich das Kind auf Basis der zuvor erworbenen Bindungsbeziehung in das Leben hinauswagt und dabei gewahr wird, dass es sich dabei von den wichtigsten Bezugspersonen zeitweilig löst, und in diesem dramatischen Geschehen auch noch sein eigenes Geschlecht entdeckt. Die Fürsorgepersonen sind in dieser Zeit sehr gefordert, wobei die Wichtigkeit des Vaters als zweite primäre Bindungsperson betont wird. Besonders kreativ ist der Abschnitt über die Bedeutung des kindlichen Spiels, da dadurch innerseelische »Spiel-Räume« und Konfliktbewältigungssphären entstehen sowie die schöpferische Zentrierung auf das eigene Selbst stattfindet. Diese Selbst-Zentrierung ist auch für die spätere Konzentration beim schulischen Lernen von großer Wichtigkeit. In diesem Kapitel - im Verbund mit dem Abschnitt zur Entwicklung der sensorischen Wahrnehmungsorganisation - wird das Wissen der Autorin um schulische Prozesse aus ihrer langen Vorerfahrung als Lehrerin spürbar. Von Bedeutung ist die Abhandlung zu Geschwisterbeziehungen, die in entwicklungspsychologischen Büchern häufig nur am Rande thematisiert werden. Die vorausgegangenen Abschnitte erleichtern das Verstehen der umwälzenden Phase der Pubertät, die eine Schwellensituation darstellt, in der die Errungenschaften des bis dahin Entwickelten auf ihre Stimmigkeit und Stabilität »abgeklopft« werden. Der Leser wird daran erinnert, dass die Natur dieser Entwicklungsprogression sowohl durch sozioemotionale - und wie wir betonen würden - auch durch ökonomische Umstände, in denen sich das Kind befindet, beeinflusst wird. Ein besonderes Verdienst dieses Buches liegt darin, dass das Leben in seinen verschiedenen Phasen mit den darin eingebetteten Entwicklungsaufgaben als ein Kontinuum dargestellt wird, was nicht heißt - wie anfangs erwähnt -, dass nicht auch die Möglichkeit zu Veränderung besteht. Es wird aber nachvollziehbar, dass die Wege der Lebensgestaltung im mittleren, späteren und auch sehr hohen Erwachsenenalter unmittelbar von der aktiven Ausformung bestimmt werden, und dass »nichts« - so auch das Lebensgefühl im reifen Erwachsenenalter - einfach »vom Himmel fällt«. Eva Rass arbeitet sensibel heraus, dass die Generation der jetzt sehr alten Menschen durch den Zweiten Weltkrieg häufig schweren Traumatisierungen ausgesetzt war, die sich bei nicht wenigen als nicht verarbeitete und nicht heilende Wunden zu Wort melden. Im letzten Abschnitt wird das unausweichliche Lebensende mit besonderer Tiefe behandelt. Als uns Eva Rass als »Studentin« 1996 zum ersten Mal am »International Center for Self Psychology« an der Universität in Cincinatti aufsuchte, war sie trotz aller Erfahrenheit eine »Suchende«, die ihre Tätigkeit als Kindertherapeutin aus der Sicht des Kindes in seinem Familiensystem wahrnahm, und einen analytischen Weg suchte, um der Elternarbeit und den damit verbundenen Umgebungsfaktoren gerecht zu werden, da die Verantwortung für das Kind, das am Ende einer Therapie wieder auf seine sozioemotionale Umwelt zurückgeworfen wird, einen erweiterten therapeutischen Zugang verlangt. Sie schlug konsequent den Weg des Child-Centred-Family-Treatment aus der Sicht der analytischen Selbstpsychologie ein, und so gab es keine Hindernisse, die neuesten Erkenntnisse der Neurobiologie und der Bindungs- und Affektregulationsforschung zu integrieren. Seit dieser Zeit weilte sie regelmäßig ein- oder zweimal im Jahr zu Studienaufenthalten zunächst in Cincinatti und später - nachdem wir umgesiedelt waren - in Boston bei uns. Im Laufe der Jahre rieten wir ihr dringlich, dass sie ihr umfangreiches wissenschaftliches und Erfahrungswissen aus der damit verbundenen Verantwortung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen sollte. Mit diesem Buch, das nicht nur eine Synthese der neuesten Entwicklungen der Bindungs- und Affektregulationstheorie, sozialer Neurowissenschaft und entfaltungsorientierter Psychoanalyse leistet, sondern eine Sammlung evidenzbasierter wissenschaftlicher Fakten, im Verbund mit einer Reflektion über deren Bedeutung für das menschliche Selbstverständnis darstellt, kommt sie dieser Verantwortung nach. Möge das Buch die zahlreichen Leser finden, die es verdient. Anna und Paul Ornstein Boston, April 2011 Vorwort Als ich nach einem passenden Titel für das vorliegende Buch suchte, der den gesamten Lebensverlauf umfasst, kamen mir - angelehnt an die 2008 breit angelegte Kampagne des Ministeriums Familie, Senioren, Frauen und Jugend - die Begriffe »Gipfelstürmer« und »sicherheitsgebendes Basislager« in den Sinn. Ein krabbelndes Kleinkind in Windeln saß auf den unteren Stufen einer gewaltigen, hoch hinaufragenden Treppe. Das vital wirkende Baby blickte neugierig in die Welt und erweckte den Anschein, seine Potenziale entfalten zu wollen, um dann - auf dem Höhepunkt eines Entwicklungsschrittes - stolz seine Errungenschaften zu genießen. Da in diesem Buch auch die weiteren Entwicklungsphasen bis hin ins hohe Erwachsenenalter in den Blick genommen werden sollen, und auch der erwachsene Mensch seinen letzten Gipfel zu erreichen hat, hätte das Wort »Gipfelstürmer« auch für ihn gelten können. Da die meisten Menschen beim Begriff »Gipfelstürmer« aber zunächst an Bergsteiger oder Extremsportler und nicht an ein Baby oder den sehr alten Menschen denken, wurde dieser Buchtitel verworfen und ein Begriff gewählt, der die Voraussetzung für diese zweifache Expansion heraushebt. Es kann heute als gesichert gelten, dass sich die Lebenseinstellung und die damit einhergehende Lebensstimmung im höheren Erwachsenenalter nicht von ungefähr einstellt, sondern ganz wesentlich vom vorherigen Lebensverlauf bestimmt wird. Diese vorausgegangene Entwicklung verläuft in aufeinanderfolgenden Phasen und Stufen, und die Bewältigung des jeweiligen Abschnittes ist mit dem Kontinuum des davor Gelebten verbunden. Die menschliche Entwicklung verläuft nicht immer linear und sie geht auch nicht immer nur in eine Richtung. Sie verläuft nicht gleichmäßig bergauf oder bergab, vielmehr werden viele Einflüsse auf verschiedenen Ebenen und in Auseinandersetzung mit Umgebungsfaktoren wirksam. Die Beschäftigung mit diesem Wechselspiel verlangt Flexibilität und Offenheit, da die verschiedenen Entwicklungsfaktoren nicht getrennt voneinander betrachtet werden dürfen. Entwicklung ist unter anderem ein bio logisches, psychobiologisches und mentales Phänomen und bezieht sowohl das Körperliche als auch das Psychische mit ein. Diese immer größer werdende Komplexität führt zu einer wachsenden Anzahl an Themenfeldern, da sich neue Perspektiven und Erkenntnisfortschritte auch in den Methoden der Forschung und der Evaluation in den Humanwissenschaften niederschlagen. Untersuchungen zur Entwicklung des Menschen müssen dessen Entwicklungsumgebung berücksichtigen, die entsprechende Entwicklungsbedürfnisse hervorruft und die Bewältigung entsprechender Entwicklungsaufgaben verlangt. Das vorliegende Buch legt den Fokus auf spezifische Entwicklungsaspekte in unserem Lebensraum und versucht, die Entwicklungslinie von der Befruchtung eines Eis bis hin zum späten Erwachsenenalter aus der äußeren und inneren Perspektive des Menschen zu beleuchten. Die Entwicklungspsychologie präsentiert sich dabei als eine multidisziplinäre Theoriengruppe. Die Forschungsergebnisse in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beeinflussen einander nachvollziehbar wechselseitig und so gibt es heute kaum noch einen Wissenschaftsbereich, der isoliert vor sich hin arbeiten kann. Die Phänomene des Lebens lassen sich nicht mehr nur unter einem Aspekt erklären. Nun erlaubt der breit gefächerte Wissenszuwachs in den letzten 50-60 Jahren - und insbesondere der Zeitraum zwischen 1990 und 2000 (dieser Zeitraum wird als die »Dekade des Gehirns« bezeichnet) - strukturelle Sequenzen im Entwicklungsverlauf wahrzunehmen, mithilfe derer - quasi wie ein roter Faden - die Komplexität der menschlichen Entwicklung konzeptuell erfasst werden kann, was sachdienlich ist, um sich nicht in der Fülle des bestehenden Wissens zu verlieren. Der Neurobiologie kommt dabei die Rolle einer Leitwissenschaft zu. Viele Veröffentlichungen namhafter Wissenschaftler im Bereich der modernen Hirnforschung erscheinen fast »psychologisch«, da gerade dieser Wissenschaftsbereich erfasst hat, dass sich im Bereich der neurologischen Entwicklung wenig tut, ohne dass von außen, d.h. von der sozialen Welt, Impulse in das menschliche neuronale System gesendet werden (vgl. Damasio 1994/dt. 2004; Hüther 2006a; Roth 2006). Eisenbergs (1995) Formulierung: »The Social Construction of the Human Brain« zeigt schlaglichtartig die Abhängigkeit des sich entwickelnden Gehirns (aber auch des späteren und reiferen) von den Einflüssen der äußeren Welt; somit wird die fortwährende Wechselwirkung durch Interaktionen verständlich. »Die Zeit ist reif« - wie es Allan Schore 2003 schon formulierte -, dass die Naturwissenschaften und die humanistischen Wissenschaften aufeinander zu gehen, um mit ihren spezifischen Erkenntnissen zu einer Konzeptualisierung der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen beizutragen, die Erklärungen dafür liefert, warum frühe Ereignisse im Leben einen so nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung haben. Daraus ergibt sich die Frage, auf welche Weise emotionale Erfahrungen mit anderen Menschen die Muster des strukturellen Wachstums beeinflussen. Das wiederum verweist auf die Notwendigkeit, Forschungsergebnisse der Neurobiologie, der affektiven Neurowissenschaften, der Bindungs- und Kleinkindforschung, der Affektregulationsforschung, der Traumaforschung und der psychodynamisch ausgerichteten Psychotherapie zu integrieren. Damit ist das Feld umrissen, in dessen Grenzen Phänomene der menschlichen Entwicklung - begrenzt durch selektive Ausschnitte der Forschungsvorhaben und der aktuellen persönlichen Sichtweise - beleuchtet werden sollen; gleichzeitig ist damit auch die Perspektive herausgearbeitet, aus der die menschliche Entwicklung vom Mutterleib bis ins späte Erwachsenenalter in den Blick genommen werden soll. Diese Perspektive ermöglicht es auch, sich mit den Veränderungen der Formen, der Inhalte und der Verhaltensweisen und gleichzeitig mit den Prozessen fortschreitender Differenzierung bei gleichzeitiger Ausrichtung und Zentralisierung auf ein Ziel zu beschäftigen. Einleitung Henne oder Ei? Wo soll man anfangen, wenn man Phänomene des Lebens verstehen will? Konnte man noch vor 20-30 Jahren diese Frage in dieser Form stellen, geht dies nach den Erkenntnisfortschritten der letzten 20 Jahre nicht mehr. Es kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass es die Generation der Erwachsenen ist, d.h. die Generation der Fürsorgepersonen, die für das Ei entsprechende Umgebungsfaktoren zur Ausgestaltung seiner Potenzen bereitzustellen hat. Es ist die Elterngeneration, die die genetischen Anlagen für die Nachkommen liefert und gleichzeitig auch die Bedingungen dafür, was sich aus diesen genetischen Anlagen überhaupt entwickeln kann. Gerald Hüther (2006a) führt für diesen Verstehensprozess den allerersten Vielzeller, den Volvox, an. Schon bei dieser Frühform des Lebens müssen einzelne Tochterkugeln aus der Mutterkugel in das Innere des Systems fallen, um neue Tochterkugeln entstehen zu lassen. D.h., die einzelne Zelle muss in das Innere hineinfallen. »(A)uf der grünen Wiese«, wie er formuliert, »kann keine neue Kugel entstehen. Es bedarf ... wesentlicher Rahmenbedingungen, dass aus Anlagen überhaupt etwas werden kann. Immer dann, wenn in den Rahmenbedingungen Störungen auftreten, gibt es Störungen bei der Entfaltung der Potenzen und diese Störungen nennen wir dann Erkrankung. Während man genetische Anlagen sehr wohl identifizieren kann, ist es schwer, diese zu verändern. Was aber veränderbar ist, sind die Rahmenbedingungen, so auch die unserer Kinder, die in der heutigen Welt aufwachsen.« Gene führen kein auf sich gestelltes Eigenleben, vielmehr bilden Organismus und Umwelt, d.h. Gene und ihre Umgebung, eine Einheit, und die Gestaltung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen entscheidet mit, ob und wie bestimmte genetische Reaktionsmuster durch Erlebnisse und Erfahrungen eingestellt werden (Bauer 2002, S. 9ff.). Dieses gesicherte Wissen beantwortet die Ei-oder-Henne-Frage: Es geht um das Ei in seiner sozioemotionalen Umwelt, und somit ergibt sich auch die Reihenfolge, in der Entwicklungsphänomene zu beschreiben sind. Ausgehend von den neurobiologischen Aspekten der Anfänge der Mutter-Kind-Beziehung, die in affektive und regulatorische Prozesse eingebettet sind und die zu spezifischen Bindungsmustern führen, die das Überleben garantieren sollen, werden die in Stufen ablaufenden Phasen des Lebens - beginnend bei der Schwangerschaft bis hin ins hohe Alter - untersucht. Es gilt, Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Bedürfnissen und Entwicklungsaufgaben mit ihrem Outcome zu verstehen, um in der positiven oder negativen Vielschichtigkeit immer wiederkehrende Muster im Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart mit Blick in die Zukunft als eine Einheit wahrnehmen zu können. TEIL A: Entwicklungspsychologische Grundlagen Die Neurobiologie der Mutter-Kind-Beziehung Der Körper als Ausdrucksorgan psychischen Geschehens ruft schon lange das Interesse vieler Wissenschaften hervor, die sich mit den Erscheinungsformen des Lebens beschäftigen, ohne jedoch die Geheimnisse der Verbindung von Körper und Psyche lüften zu können. In den 1990er Jahren konnten jedoch durch die seither möglichen bildgebenden Verfahren erste Erkenntnisse gesichert werden, und so wurde die Neurobiologie, die sich mit den Verschaltungen im menschlichen Gehirn beschäftigt, zu einer Art Leitwissenschaft, deren Erkenntnisfortschritte auch Antworten auf wichtige Fragen anderer Humanwissenschaften lieferten. Die Frage, warum frühe Ereignisse im Leben einen so starken Einfluss auf den weiteren Lebensweg haben, ist eine der grundlegenden in allen Wissenschaften, die sich mit der menschlichen Entwicklung beschäftigen. Auf welche Weise beeinflussen Erfahrungen mit anderen Menschen die Muster des neuronalen strukturellen Wachstums? Es besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass das Gehirn ein sich selbst organisierendes System ist; doch findet die Selbstorganisation des sich entwickelnden Gehirns im Kontext von Beziehungen statt (Schore 1996). Forscher sprechen, wie eingangs erwähnt, von der »sozialen Konstruktion des menschlichen Gehirns« (Eisenberg 1995). Das akzelerierte Wachstum der Gehirnstruktur tritt während kritischer Reifungsperioden in der Säuglingszeit auf. Es ist erfahrungsabhängig und wird von sozialen Kräften beeinflusst. Während die Neurowissenschaften keine klaren Vorstellungen von der Natur dieser »sozialen« Kräfte haben, verfügt die Entwicklungspsychologie sehr wohl über Informationen zu diesen »sozialen Kräften«. Der enorme Wachstumsschub des Gehirns (von 400 Gramm bei der Geburt bis über 1000 Gramm im Alter von zwölf Monaten), insbesondere der früh reifenden »sozioemotionalen« rechten Gehirnhälfte, fällt in die gleiche Entwicklungsphase wie jene Periode, die die Bindungsforscher untersuchen (Schore 1998). Insbesondere Allan Schore, der sich integrierend mit der Bindungsforschung, der Neurobiologie, der MutterKind-Beziehung und der Affektregulation beschäftigt, führt Beweise aus dem entwicklungsbiologischen Feld der Mutter-Kind-Beobachtung bis hin zur Molekularbiologie an, welche diese These belegen. Das daraus entstandene Modell erklärt mit erstaunlicher Genauigkeit die Wirkweisen, durch die das kindliche Gehirn die affektregulierenden Funktionen der Mutter in umschriebenen Bereichen des Nervengewebes und zu bestimmten Zeiten seiner epigenetischen Entwicklung internalisiert und ihre Strukturen verinnerlicht (Kaplan-Solms/Solms 2007, S. 219). Damit bekommen die Aussagen der Hirnforschung ein ungeheures Gewicht: Beziehungs- und Erfahrungsprozesse prägen die strukturelle Ausformung der Nervenzellen innerhalb des genetisch vorgegebenen Gestaltungsraumes. Später, wenn das Gehirn schon weiter ausgereift ist, sind solch grundlegende Veränderungen der Architektur nur noch schwer möglich; frühe Prägungen programmieren das Gehirn dabei fast genauso nachhaltig wie genetische Faktoren (vgl. Bauer 2002). Frühe Erfahrungen beeinflussen die genetische Ausstattung und »die molukulären Änderungen im Erbgut sind dann das Sprachrohr, über das Umwelt und Gene miteinander kommunizieren« (Holsboer in Blawat 2009, S. 1). Erfahrungen werden somit in der Gehirnarchitektur gespeichert, was z.B. bei traumatischen Erlebnissen dazu führen kann, dass sich eine Art Furchtstruktur bildet, in die alle künftig erlebten Ängste und Ereignisse eingepasst und dadurch verstärkt werden (Elbert 2005). Das Furchtzentrum wird dadurch überaktiviert, während die ordnende und regulierende Kraft einer anderen Hirnstruktur, des Hypocampus, abnimmt. Wir verfügen heute über gesicherte Hinweise dahingehend, dass genetisch vulnerable Kinder mit frühen Stresserfahrungen sich in der Fähigkeit, ihr eigenes Verhalten, ihre Emotionen und ihre Aufmerksamkeit zu regulieren, von jenen Kindern unterscheiden, die diese stressvollen Erfahrungen nicht gemacht haben. Forschungsergebnisse belegen (z.B. McGill-Universität Montreal; Ludwig-Maximilian-Universität München), dass frühe Erfahrungen eine lebenslange Basis für neuronale und hormonelle Reaktionen legen können (Bartens 2008). Misshandlungen können u.a. die Aktivität eines Gens dauerhaft bremsen, das für die Produktion eines Faktors verantwortlich ist, der hilft, das Stresshormon Kortisol zu neutralisieren, um dadurch die Stressreaktion zu begrenzen (McGowan et al. 2009). Auch die Immunabwehr, die der Körper in der Kindheit erst ausbilden muss, kann durch traumatisierenden Stress beeinträchtigt werden, so dass angenommen werden muss, dass emotionale Erfahrungen in der Kindheit umfassende Auswirkungen auf die Gesundheit haben (Shirtcliff et al. 2009). Katharina Braun von der Universität Magdeburg spricht von »Narben« im Gehirn, die eine Vulnerabilität bedeuten, wenn es um die Verarbeitung von Stress geht (K. Braun 2001, 2002). Dies ist hochbedeutsam für die psychosomatische Forschung, die die »Last der frühen Jahre« untersucht und dabei prägende Faktoren entdeckt, die im späteren Leben für Stress anfälliger machen (vgl. Murgatroyd et al. 2009). So gibt es immer mehr Hinweise dafür, dass sogar vermeintlich rein organische Leiden wie Diabetes, verkalkte Herzkranzgefäße, Übergewicht, Bluthochdruck und viele weitere Erkrankungen häufiger auftreten, wenn die frühe Entwicklung belastet war. Bei Tieren konnte nachgewiesen werden, dass sich jene bei späteren Belastungen entspannter verhielten, die von ihren Müttern intensiver umsorgt wurden. Intensive Fürsorge beeinflusst die Biochemie der Zelle. Je nach Bindungserfahrung bilden sich mehr oder weniger Rezeptoren, die die im Körper anflutenden Stresshormone abfangen können (Bartens 2008). Eine unsichere Bindung ist somit ein Risikofaktor (Brisch 1999). Je häufiger die jeweils spezifischen Muster aufgebaut werden, desto stärker werden die dabei aktivierten synaptischen Verschaltungen gefestigt und alles andere, was nicht aktiviert wird, wird abgebaut; am Ende bleibt ein bestimmtes Muster übrig. Dies führt zu der bedeutsamen Erkenntnis, dass die strukturelle Organisation des Gehirns die Geschichte des Organismus reflektiert: »Der Körper vergisst nicht«, wie Michael Ermann (2009, S. 46) es beschreibt. Die frühen sozioemotionalen Erfahrungen werden in die biologische Struktur eingeprägt, die während des frühen Wachstumsschubs reift, und weisen daher langfristige Effekte auf. Konrad Lorenz nennt es »Filialprägung«: Das, was sich tief in den Gefühlshaushalt des Lebewesens einprägt - je nach Erfahrung von Geborgenheit oder von Verlorensein. »Prägung« deshalb, weil dieser Vorgang nur begrenzt rückgängig zu machen ist. Nicht nur Belastung oder Trauma, sondern auch Bewältigungsstrategien (z.B. Gefühlsvermeidung oder totaler Rückzug zum Selbstschutz) werden in das rechtsseitige implizit-prozedurale Erinnerungssystem des Kindes eingeschrieben und im späteren Leben unbewusst auch bei weniger dramatischen Erfahrungen benutzt - also quasi »eingefahren«. Das Gehirn schaltet in solchen Momenten auf Notfall um, sucht nach Meisterungsstrategien, und es belohnt das Herunterfahren der unerträglichen Übererregung - ungeachtet des gewählten Weges. In Zuständen primärer Angst kann sich der Mensch durch Essen, Aggression, Umtriebigkeit, Anklammerung, Vermeidung, Rückzug usw. eventuell Erleichterung verschaffen; diese »Rettungsmuster« werden im Hirn verankert. Das Kind, aber auch der Erwachsene, wird einen Weg suchen, der einigermaßen Ruhe ins Gehirn bringt. In Arousal-Zuständen führen die Erregungen zu einer Ausweitung, die das neuronale Netzwerk mit Zerfall bedroht - ausgehend von den assoziativen Bereichen des Kortex bis in die tieferliegenden Bereiche des limbischen Systems. Von dort pflanzt sich die Erregung in den Hypothalamus und in die großen noradrenergen Kerngebiete fort. Von dort wird dann eine Reaktion in Gang gesetzt, die als körperliche Reaktion spürbar ist. Das limbische System ist dafür zuständig, eine ganze Reihe körperlicher Regelkreise zu steuern: z.B. das vegetative Nervensystem, das kardiovaskuläre System, das Immunsystem und das Hormonsystem. Wenn dem limbischen System die Koordination nicht mehr gelingt, kommen diese Funktionen durcheinander, was als extreme Stresssituation erfahren wird. Unter solchen Umständen können Kinder, deren Gehirn sich noch in einem Reifungsprozess befindet, hochkomplexe regulatorische Muster nicht aufbauen. Was sie vor allem brauchen, ist das Vertrauen in eine sicherheitsgebende Bindung, die solche Zustände gar nicht erst aufkommen lässt oder bei deren Auftreten so schnell wie möglich beendet. Nur mit diesen positiven Erfahrungen kann man sich überhaupt auf die Welt und auf etwas Neues einlassen (Hüther 2006a). Im Falle eines potenziellen Traumas »funktioniert« im Hirnstamm eine Art archaische »Notbremse«, die wir mit den Säugetieren gemeinsam haben und mittels derer auf ausweglose Situationen reagiert wird: Erst mit Angriff und, wenn dieser nicht möglich ist, mit Flucht; wenn weder Angriff noch Flucht möglich sind, dann mit Erstarren. In solchen Situationen kann der Mensch dissoziieren, depersonalisieren oder derealisieren, d.h., es handelt sich um einen Austritt aus dem Geschehen, um eine Verabschiedung von der Welt. Ohne den verlässlich und beständig beruhigenden Fürsorger ist das hocherregte Kind nicht in der Lage, seine mentalen Zustände zu regulieren und sein emotionales Gleichgewicht wiederherzustellen. Wenn sich Kinder in keinem homöostatischen Gleichgewicht befinden und emotional dysreguliert sind (z.B. verzweifelt), sind sie diesen Zuständen ausgeliefert. Um diese Zustände zu bewältigen, muss das Kind all seine regulatorischen Ressourcen verwenden, um sich zu reorganisieren. »Während die Kinder dies tun, können sie nichts anderes tun« (Tronick/Weinberg 1997, S. 56). Dieses »nichts anderes«, worauf sich diese Autoren beziehen, ist das Scheitern der weiteren Entwicklung. Derart belastete Kinder büßen potenzielle Möglichkeiten für sozioemotionales Lernen während wichtiger Phasen der weiteren Entwicklung ein. Die Dissoziation eines Kindes inmitten psychischer Not bringt Empfindungslosigkeit, Vermeidung, Fügsamkeit und gebremsten Affekt mit sich. Dieser primäre Regulationsprozess, um die Homöostase des Organismus aufrechtzuerhalten, ist durch eine metabolische Stilllegung und eine niedrige Aktivität charakterisiert. Dieser Mechanismus wird dann ein Leben lang genutzt, wenn sich das gestresste Individuum in Passivität zurückzieht, um Distanz von der unerträglichen Situation herzustellen - »eine Flucht, wo es kein Entkommen gibt« (Putnam 1997, in Schore 2003, S. 67), eine defensive Strategie als »letzter Ausweg« (Dixon 1998). Winnicott spricht von »agonalen Ängsten«, die in das Gedächtnis als etwas eingehen, das vermieden, umgangen und abgewehrt werden muss, ohne je in Worte gefasst zu sein. Im günstigen Fall, in dem sich die konstante und vertraute Fürsorgeperson als »Hilfskortex« dem Kind zur Verfügung stellt und ihm jene regulatorischen Strukturen anbietet, über die das Kind noch nicht verfügt, kann sich das limbische System zur Steuerung der darunter liegenden Erregungen stabil entwickeln. Im ungünstigen Fall hingegen befindet sich die Amygdala, ein Hirnsystem, das bei der Geburt schon ausgereift ist, in Zuständen von exzessiver Dysregulation und Hyperaktivität, so dass in später auftauchenden (eventuell auch objektiv weniger bedeutsamen) Stresszuständen die frühe Übererregung eine spezifische Kettenreaktion auslöst, die im Stammhirn und somit in körperlichen Reaktionen (Herzklopfen, Schweißausbruch, Durchfall, Atemstocken usw.) endet. Das affektverarbeitende limbische System erstreckt sich in der emotionalen rechten Gehirnhälfte. Bindungserfahrungen beeinflussen die erfahrungsabhängige Reife der sich früh entwickelnden regulatorischen Systeme eben dieser Gehirnhälfte. Die rechte Hemisphäre, die von größter Bedeutung für die emotionale Kommunikation ist, befindet sich während der ersten 18 Lebensmonate in einem Wachstumsschub. Der rechte Kortex, und nicht der sich später formende linke, ist bei menschlichen Säuglingen und Kleinkindern über die ersten drei Jahre hinweg dominant (Schore 1994, 1996). Für den Rest des Lebens ist diese Gehirnhälfte zentral an allen vitalen Funktionen beteiligt, die das Leben unterstützen und es dem Organismus ermöglichen, aktiv und passiv mit Stress umzugehen. Derzeitige Ergebnisse der Neurowissenschaften weisen darauf hin, dass »die linke Hemisphäre das Sprachverhalten wesentlich bestimmt, während die rechte Hemisphäre für umfassendere Aspekte der Kommunikation wichtig ist« (van Lancker/Cummings 1999, S. 95). Für die gesamte Lebensspanne spielt die nonverbale rechte, mehr als die später reifende verbale linke Gehirnshälfte, eine übergeordnete Rolle bei der Regulation von physiologischen, endokrinologischen, neuroendokrinologischen, kardiovaskulären und immunologischen Funktionen (Sullivan/Gratton 1999). Diese neurobiologische Grundlagenforschung mit ihren weitreichenden Ergebnissen ermöglicht Zugang zu vielen Erscheinungsformen des Lebens, wo Stressbewältigung und Affektregulation von größter Bedeutung sind. Nicht nur in der frühen Kindheit gilt es, Stress und Belastung zu meistern: Der frühen Kindheit folgt die heftige Trotzphase, enorme Erwartungen begleiten den Schulweg, außerfamiliäre Beziehungen werden wichtig und die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in der Pubertät und in den unterschiedlichen Phasen des Erwachsenenalters mit seinen Beziehungsanforderungen, Berufserfahrungen, Krankheiten usw. stehen an. Im gesamten weiteren Lebensverlauf geht es fortwährend um die Bewältigung von Belastung und Stress - ganz zu schweigen von den Belastungen im höheren Alter. Mit diesen Erkenntnisfortschritten finden sich Erklärungsmuster, warum der eine Mensch bestimmte Belastungen besser verkraftet und progressiv bewältigt, während der andere eine ähnliche Erfahrung als Trauma erlebt und daran zerbricht. Diese Erkenntnisfortschritte schaffen Verantwortung, da sich Zusammenhänge über die gesamte Lebensspanne auftun, die weder mit Zufall, noch alleine mit Genetik oder Gotteswillen in Zusammenhang gebracht werden können. Der menschliche Lebensverlauf zeigt sich immer eindrucksvoller nachvollziehbar als ein Kontinuum, und es wird dramatisch belegbar, dass das, was früher entstanden ist, das darauf Folgende maßgeblich (im Guten wie im Ungünstigen) beeinflusst. Die Hirnforschung zeigt auch, dass das Gehirn über ungeheure Möglichkeiten zur Plastizität und Reorganisation verfügt, und dass auch in späteren Lebensphasen die jeweiligen Erfahrungen die neuronale Struktur verändern und erweitern können. Wenn auch die frühen bei Geburt schon ausgereiften Netzwerke durch die gesammelten Erfahrungen irreversibel geprägt sind, vermögen neue - im günstigen Fall bessere - Erfahrungen die Grundstruktur zumindest zu überformen. Dies gilt auch für die rechte Hemisphäre, die selbst in späteren Jahren durch hochemotional besetzte Erfahrungen tragfähige regulatorische Strukturen entwickeln kann. Die rechte Hemisphäre durchläuft ein Leben lang Wachstumsphasen (Thatcher 1994), und der orbitofrontale Kortex behält auch später im Leben seine Fähigkeit zur Reorganisation bei. Eine wachstumsfördernde 1 Die Neurobiologie der Mutter-Kind-Beziehung 25 Umgebung, die affektregulierende Erfahrungen ermöglicht, erlaubt somit auch nach der Kindheit die Reifung eines effizienten und flexiblen rechten frontalen regulatorischen Systems (Schore 2003/dt. 2007, S. 85). Jede Schwellensituation im Leben kommt einer normativen Krise gleich, in der sich Entwicklungsfenster erweitern. Und so können Erfahrungen in der Trotzphase, beim Übergang in den Kindergarten, beim Einstieg in das Schulleben und ganz besonders die stürmische Phase der Pubertät, sowie neue Liebesbeziehungen und vor allem die Interaktion mit dem späteren eigenen Baby neue Verschaltungsmuster aufbauen. Im Moment der affektiven Überflutung findet dann das Gehirn zur Meisterung dieses Zustandes ein stabiles Netzwerk vor und muss als Notreaktion nur bedingt auf »Kampf und Flucht« und hoffentlich schon gar nicht zu »Sich-tot-Stellen« umschalten. Die Entwicklung der Affektregulation Das bisher Beschriebene macht deutlich, wie unausweichlich die hirnorganische Entwicklung und die Erfahrungen in der menschlichen Interaktion miteinander verknüpft sind. Es wird somit nachweisbar, dass affektive Prozesse - d.h. die affektive Regulierung - das Grundgeschehen im tiefsten Persönlichkeitskern ausmachen, was dazu beiträgt, viele Phänomene im menschlichen Leben mithilfe dieser Perspektive verstehen zu können. Viele experimentelle und klinische Arbeiten zeigen, dass die Reifung der Affekte das Schlüsselereignis im Säuglingsalter ist, und dass der Erwerb einer Kontrollfunktion für die Selbstregulation von Affekten einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung darstellt. Die Entwicklung der Affektregulation ist somit ein wesentliches organisierendes Prinzip der emotionalen Entwicklung und der Hirnreifung. Spezifische emotionale Erfahrungen sind in die affektregulierende Bindungsbeziehung zwischen dem Säugling und seinen Pflegepersonen - insbesondere der Mutter - eingebettet. Von Geburt an ist der Säugling von unserer Lebenswelt und somit von anderen Menschen umgeben; während der Wachstunden des Kindes ist der Austausch von Mimik, Gestik und Prosodie omnipräsent. Diese sind Überbringer sozialer Informationen und die daraus resultierende Dynamik ist multimodal und wechselseitig. Diese Wechselseitigkeit führt in jener frühen Zeit zu der Erfahrung, wie man sich aufeinander bezieht. Im günstigsten Fall repräsentiert eine sichere Bindungsbeziehung eine entwicklungsfördernde Umwelt für die erfahrungsabhängige Reifung komplexerer regulatorischer Kapazitäten, die den Übergang von externer zu interner Regulation ermöglichen (Schore 1994). Erregungen und Emotionen werden zunächst durch andere reguliert. Im Verlauf der Entwicklung werden sie als Ergebnis neurophysiologischer Entwicklungsprozesse jedoch zunehmend selbst reguliert. Die dyadische Interaktion zwischen dem Säugling und seiner Mutter dient als Regulator der sich entwickelnden inneren Homöostase. Die regulatorische Funktion der Mutter-Säugling-Interaktion ist der wichtigste Antrieb einer gesunden Entwicklung und der Aufrechterhaltung von synaptischen Verbindungen während des Aufbaus funktioneller Hirnkreisläufe. Das affektverarbeitende limbische System erstreckt sich in der emotionalen rechten Gehirnhälfte. Bindungserfahrungen beeinflussen die erfahrungsabhängige Reifung des sich früh entwickelnden regulatorischen Systems in jener Gehirnhälfte. Die rechte Gehirnhälfte, die bei der emotionalen Kommunikation von größerer Bedeutung als die linke ist, befindet sich während der ersten 18 Lebensmonate in einem Wachstumsschub. Präverbale Kommunikation findet im Feld des nicht bewussten intuitiven Verhaltens und des impliziten Beziehungswissens statt. Die Erfahrungen in jener nonverbalen Zeit sind später nicht verbal erinnerbar, hinterlassen eher eine spezifische emotionale Atmosphäre und drücken sich in Gestik, Mimik, Körperhaltung und Blickverhalten und somit nonverbal aus. Diese Art der Kommunikation läuft 300 bis 400 Millisekunden unterhalb der bewussten Wahrnehmung ab, und das Erfassen sowie die komplexe Verarbeitung selbst kleinster Veränderungen spielen sich innerhalb von 100 Millisekunden ab (Stenberg et al. 1998). Ob Informationen in diesem rechtshemisphärischen Prozess übertragen oder geteilt werden, und welche Informationen ankommen und auf welcher Ebene sie verstanden werden, ist nicht notwendigerweise von der Absicht oder der bewussten Wahrnehmung des Senders abhängig. In der frühen Kindheit werden nicht Kognitionen kommuniziert, sondern Bindungskommunikationen, die von starken Gefühlen und Emotionen begleitet werden. Sie ereignen sich im genannten Kontext von Mimik, Haltung, Prosodie, physiologischen Veränderungen, von Geschwindigkeiten in der Bewegung und auftauchenden Handlungen. Der Ton und das Volumen der Stimme, die Muster und die Geschwindigkeit der verbalen Kommunikation sowie des Blickkontaktes sind wesentliche Elemente dieser subliminalen Kommunikation, und diese transportiert Botschaften, die die Natur der Interaktion bestimmen. In dieser Art der Kommunikation vollziehen sich in den ersten 18 Monaten sehr starke Entwicklungen. Und nur eine abgestimmte psychobiologische Kommunikation mit der Fürsorgeperson vermittelt dem Baby Sicherheit. Diese affektiven Prozesse spielen somit durch ihre intrinsische psychobiologische Natur in der gesamten menschlichen Entwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg eine grundlegende und zentrale Rolle. Damit wird deutlich, wie stark die Wechselwirkungen zwischen Psyche, Körper und der sozialen Umgebung der frühen Kindheit die Entwicklung zum Erwachsenen bestimmen. Wenn ein Kind unter erheblichen psychosozialen Belastungen zu leiden hat, hat dies negative Auswirkungen auf sein späteres emotionales Leben und auf seine psychische und körperliche Gesundheit. Frühkindliche Stresserfahrungen erhöhen daher die Wahrscheinlichkeit gesundheitlichen Risikoverhaltens, vorzeitiger Mortalität, somatoformer Störungen, Adipositas, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, delinquenter Verhaltensweisen sowie Borderline-und anderer Störungen. Und so ist die Spannweite der individuellen Affekttoleranz in hohem Maß das Resultat des frühen unauslöschlich eingeprägten emotionsgeladenen Bindungsdialogs; und es sind diese ursprünglichen interaktiven Erfahrungen, die die Entstehung des tiefsten Persönlichkeitskerns bestimmen. Unterschiedliche Disziplinen liefern vermehrt zwingende Beweise dafür, dass psychosomatische und psychische Erkrankungen bis hin zur Delinquenz und schweren Psychopathologien - und so auch die Dynamik der Gewalt - auf frühen affektiven Interaktionsstörungen beruhen, und dass sich darin ein Scheitern der Selbst- und/oder der interaktionellen Regulation darstellt. Die frühen realen Interaktionserfahrungen bekommen daher als Wegbereiter der späteren Entwicklung ein wesentliches Gewicht. Dies bedeutet auch, dass der affektive Zustand der Betreuungsperson für das Kleinkind eine Realität darstellt, der es nicht entfliehen kann. Damit finden sich Erklärungen für die transgenerationale Weitergabe von Affektverarbeitungsmustern, die stark prägenden Einfluss haben (vgl. Rass 2007a). In jener ganz frühen Phase existenzieller Abhängigkeit und Koexistenz zweier Organismen übernehmen die Eltern - im Wesentlichen die Mutter - in ihrer Rolle als Hilfs-Ich des Kindes die Zustandsregulierung und andere lebenserhaltende Funktionen, die erst nach und nach vom Säugling durch diese Interaktionen internalisiert werden können (Gergely 2002, S. 818). Der Säugling ist somit in Erregungszuständen jeder Art auf die zustandsmodulierenden Interventionen der Pflegeperson angewiesen, um die psychobiologische Homöostase wieder herstellen zu können. Er ist einem Milieu ausgeliefert, das ihm im günstigsten Fall Erfahrungen ermöglicht, die ihn mit einem stabilen psychobiologischen Fundament ausstatten. Im ungünstigsten Fall hinterlassen sie aber eine Vulnerabilität, und dieses Fundament ist dann ein brüchiges, das wenig Ressourcen zum progressiven und erfolgreichen Meistern anstehender Lebenskrisen besitzt. Es ist belegt, dass ein gesunder Säugling multimodal wahrnehmen kann; auch nimmt er Affekte beim anderen wahr, und - das ist das Wesentliche - er verfügt über eine »Vorverdrahtung«, die es ihm ermöglicht, den mimischen Ausdruck seines Gegenübers zu reproduzieren. Ein Neugeborenes kann den Gesichtsaus druck seines Gegenübers bereits 42 Minuten nach der Geburt imitieren (Meltzoff 1999). Man kann außerdem beobachten, wie sich der Säugling um eine möglichst genaue Replikation bemüht, obwohl er nur das Vorbild sieht, nicht aber das eigene Gesicht. Von diesem erhält er nur das propriozeptive Feedback der Gesichtsmuskulatur. Dieses Feedback ist aber sehr wichtig, denn durch jeden Gesichtsausdruck wird automatisch eine spezifische Reaktion des autonomen Nervensystems ausgelöst. Bei der Reproduktion der Mimik durch das Kind - eine basale Form des Verstehens- und Empathieversuchs - entsteht im Kind die gleiche Sensation des autonomen Nervensystems, die auch das Vorbild hat (Köhler 1995). D.h., dass nicht-biologische Signale in einen biologischen Status übersetzt werden (Perry et al. 1995) und dass zwischenmenschliche Erfahrungen dadurch den Status unseres Körpers verändern. Schore spricht von »Downloading Programs« (2003, S. 13), um zu beschreiben, wie sich die mütterliche Verfassung als biologisches Substrat im kindlichen Gehirn niederschlägt. Was auch immer der Säugling sieht - es verändert seinen inneren Zustand; er kann dem Gesichtsausdruck des Gegenübers nicht entrinnen. Die emotionale Ansteckung durch die Reproduktion des mimischen Gesichtsausdruckes und der damit einhergehenden körperlichen Verankerung erklärt die grundlegende Bedeutung der emotionalen Gestimmtheit der wesentlichen Betreuungsperson der frühen Lebenszeit des Kindes. Das Baby verfügt noch nicht über ein Unterscheidungsvermögen, ob die Affekte, die es hat, seine eigenen oder ob sie von außen induziert sind - ob sie eventuell von einer depressiven oder abwehrenden Fürsorgeperson kommen. Es kann sich selbst von anderen Menschen bezüglich der Affekte noch nicht unterscheiden. Diese Unterscheidungen benötigen einen Bezugspunkt, den man »Selbst« nennen könnte und der Reflexion gestattet, der zu diesem Zeitpunkt aber noch außerhalb des augenblicklichen Erlebens liegt. Für das Verständnis der frühen postpartalen Entwicklungsvorgänge muss man sich Mutter und Kind als ein im Wachstum begriffenes System vorstellen. Im Uterus war das Kind über die Nabelschnur durch die Rhythmen der Mutter reguliert. Nach der Abnabelung müssen die endogenen Biorhythmen seiner vielen physiologischen Subsysteme neu synchronisiert und überformt werden. Ohne Pflege würde ein Kind nicht nur verhungern, verdursten oder erfrieren; es würde vielmehr im Chaos der mangelnden Koordination seiner physiologischen Subsysteme zugrunde gehen. Die Regulation des inneren physiologischen Milieus des Kindes wird somit an die Interaktion zwischen Kind und Pflegeperson delegiert (Köhler 1997). Erst wenn das Kind gewisse Erfahrungen physiologischer Zustände mit den zugehörigen Affekten im Kortex abgespeichert hat, vermag es die zunächst von der Mutter beeinflusste Binnenregulation in eigener Regie zu übernehmen. Regulierte affektive Interaktionen mit einer kontinuierlich anwesenden Bezugsperson, deren Verhalten vorhersagbar ist, schaffen nicht nur das Gefühl von Sicherheit, sondern auch eine positiv aufgeladene Neugier, die es dem Kind ermöglicht, die sozioemotionale und physikalische Umwelt zu erforschen. Es ist wichtig zu betonen, dass die entwicklungsgeschichtliche Errungenschaft eines wirksamen Selbstsystems, das in der Lage ist, verschiedene Erregungs- und psychobiologische Zustände zu regulieren, nur in einer emotional stützenden Umgebung erzielt werden kann. Diese regulierenden Momente fördern die Erweiterung der Anpassungsfähigkeit des Kindes und diese Sicherheit der Bindungsbeziehung ist der größte Schutz gegen eine durch Trauma herbeigeführte Psychopathologie (Schore 2003). Die Fürsorgeperson nimmt im Idealfall die Emotionsäußerungen des Kindes wahr und reagiert mit einer dem Affekt angemessenen modulierenden Intervention. Wenn während der Kindheit voraussagbar und verlässlich immer wieder eine Spannungsregulierung erlebt wird, bleibt dieses Erleben während des ganzen Lebens als eine Säule psychischer Gesundheit bestehen. Wenn umgekehrt die Selbstobjekte 1 der Kindheit versagen, dann werden die daraus resultierenden Defizite und Verzerrungen eine lebenslange Bürde bleiben. Wenn z.B. die Fürsorgeperson übererregt auf die milde Angst des Kindes reagiert, dann wird die große Nähe zu ihr nicht zur nützlichen Erfahrung einer sich mildernden Angst, die sich sogar in Ruhe umwandelt, sondern im Gegenteil vielmehr zu einem schädlichen Erfahrungsablauf, in dem sich milde Angst in Panik verwandelt. Das Endergebnis ist ein Mangel an gesunder spannungsregulierender Struktur (Ornstein/Ornstein 1994). Dies zeigt die Bedeutung der elterlichen Unterstützung bei der Zustandsregulierung, was maßgeblich entscheidend dafür ist, ob das Kind lernen kann, wie aus negativen Affektzuständen eines übererregenden Protests oder einer übererregender Verzweiflung wieder ein positiver Affektzustand hergestellt werden 1 »Selbstobjekt« ist ein Terminus aus dem von H. Kohut (1923-1981) ins Leben gerufenen Konzept der analytischen Selbstpsychologie: Um als Mensch, insbesondere als Kind, sein Selbst zu entwickeln, braucht man andere, die auf das sich entwickelnde Selbst reagieren - die Selbstobjekte. Im günstigen Fall sind sie ausreichend responsiv, empathisch und stützend. kann. Der Schlüssel für das Gelingen dieser Prozesse ist die Fähigkeit der Fürsorgeperson, den eigenen Affekt, insbesondere den negativen Affekt, beobachten und regulieren zu können. Möglicherweise besteht der wichtigste und schwierigste Aspekt von Mütterlichkeit/Elterlichkeit darin, es dem Kind zu ermöglichen, ansteigende intensive Spannungen zu ertragen, aber rechtzeitig einzuschreiten, um das Kind zu beruhigen, bevor es von Affekten überflutet wird. Wichtig ist, dass es nach dem Stress und der möglichen Beziehungsirritation zu einer interaktiven Wiederherstellung des beruhigten Miteinanders kommt (Beebe/Lachmann 1994); durch diese immer wiederkehrende Abfolge gelingt der »ausreichend guten« 2 Fürsorgeperson die Regulation eines belasteten affektiven Zustandes des Kindes. Die britischen Affektforscher Fonagy und Target kamen daher zu dem Schluss, dass das Gesamt der kindlichen Entwicklung als eine »Erweiterung der Selbstregulation« (2004, S. 111) betrachtet werden kann und dass sicherheitsgebende Beziehungen »formend« (ebd. 124) sind, und dass sie die Entwicklung der wichtigsten hirnorganischen selbstregulatorischen Mechanismen ermöglichen. Entwicklungsfördernde dyadische Erfahrungen der affektiven Abstimmung treten somit in den frühen Formen der Interaktion auf und verlaufen insbesondere dann für das Kind synchron, wenn sie nach dem Muster »Kind-führt-Mutter-folgt« strukturiert sind. In dieser kommunikativen Matrix gleichen sich die psychobiologischen Zustände beider Partner an. Sie stellen ihre soziale Aufmerksamkeit, ihre Stimulation und die sich steigernde Erregung auf die Antwort des anderen ein. In einem solch synchronisierten Kontext von gegenseitiger angeglichener selektiver Aufnahmebereitschaft lernt das Kind spezifische soziale Zeichen zu senden, auf die die kontinuierlich anwesende Fürsorgeperson zu antworten hat, um dadurch ein antizipatorisches Gespür für die Antwort des anderen auf das eigene Selbst in Übereinkunft mit dem Selbst des anderen zum Ausdruck zu bringen. Scharfsinnige und höchst subtile und differenzierte elterliche Beobachtungen kindlichen Verhaltens - quasi ein »semantisch-linkshemisphärisches Lesen« - sind für die affektive und regulatorische Entwicklung eines Kindes bedeutungslos und sogar schädigend, wenn sie nicht von einer emotionalen Abgestimmtheit und einem Eintauchen in seine innere Erlebenswelt begleitet sind (vgl. A. Ornstein 1977). Affektive Prozesse, d.h. die affektive Regulierung von heftigen Erregungsmomenten, scheinen das Grundgeschehen im tiefsten Persönlichkeitskern auszu 2 »Good enough parents« ist eine Beschreibung Winnicotts für die durchschnittlich zu erwartende elterliche Fürsorgequalität. machen, und die neueren Konzepte der menschlichen Entwicklung zu der intrinsischen und psychobiologischen Natur dieser bodily based begründeten Phänomene bewegen sich - beginnend mit der Säuglingszeit - über die gesamte Lebensspanne hinweg entlang dieser Konzeptualisierung (Schore 2008). Affektive Überflutung, die keine Regulierung erfährt, bildet den Kern primärer Ängste, die in das implizite Gedächtnis eingehen. In jene Gedächtnisstrukturen graben sich aber nicht nur die Angsterfahrungen ein, sondern auch der psychobiologische Prozess, mit dem in der frühen Zeit dieser sehr belastende Zustand bewältigt wurde. Diese Strategien sind jedoch im späteren Leben keine flexiblen und vitalen strukturellen Errungenschaften mehr, sondern vielmehr starre Bewältigungsstrategien bei auftauchenden primären agonalen Ängsten. Die Überlebensstrategien laufen später - quasi automatisch - in heftigen affektiven Erlebensmomenten ab - selbst dann, wenn das auslösende Moment bei weitem nicht derart bedrohlich ist wie bei der ursprünglichen Erfahrung.

Erscheint lt. Verlag 14.11.2011
Vorwort Anna Ornstein, Paul Ornstein
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Affektregulationstheorie • Beratung • Bindung • Bindungsforschung • Bindungstheorie • Elternberatung • Elterncoaching • Erziehung • Jugendliche • Karl Heinz Brisch • Kinder • Kinder- und Jugendmedizin • Pädagogik • Psychoanalyse • Psychologie • Psychotherapie • SAFE
ISBN-10 3-608-10256-6 / 3608102566
ISBN-13 978-3-608-10256-7 / 9783608102567
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