Nicht von hier (eBook)

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2024 | 1. Auflage
206 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-6849-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nicht von hier -  Margrit Cantieni
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Nach dem Tod ihres Ehemannes muss Alinda den kleinen Bergbauernhof allein führen. Wie allen alleinerziehenden Frauen in der damaligen Zeit droht ihr die Gefahr, von den Behörden bevormundet zu werden. Der Gemeindepräsident lässt Alinda seine Macht spüren, stellt ihr nach und will sie zur Heirat mit ihm bewegen. Alinda wehrt seine Annäherungsversuche immer wieder ab. Doch dann geschieht ein Unglück und Alindas Lage spitzte sich dramatisch zu. «Nicht von hier» zeigt das Leben der Bergbauern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Graubünden (Schweiz) auf - spannend und berührend.

Nach einer betriebswirtschaftlichen Ausbildung arbeitete Margrit Cantieni im kulturellen, sozialen und gewerblichen Bereich. 2009 gründete sie den Cancas Verlag, der sich auf Bücher mit Bezug zu Mittelbünden spezialisiert und in dem sie auch eigene Werke veröffentlicht. Bisherige Romane: «Nicht von hier» (2020) und «1941. Liebe in herzlosen Zeiten» (2023). Margrit Cantieni ist verheiratet und lebt in Chur.

Nach einer betriebswirtschaftlichen Ausbildung arbeitete Margrit Cantieni im kulturellen, sozialen und gewerblichen Bereich. 2009 gründete sie den Cancas Verlag, der sich auf Bücher mit Bezug zu Mittelbünden spezialisiert und in dem sie auch eigene Werke veröffentlicht. Bisherige Romane: «Nicht von hier» (2020) und «1941. Liebe in herzlosen Zeiten» (2023). Margrit Cantieni ist verheiratet und lebt in Chur.

2


 

Geschätzter Florentin

Ich hoffe, es geht dir gut. Ich habe mich hier in Hastings gut eingelebt. Auch mit dem Englisch klappt es schon ganz gut. Ich übe fleißig. Das Wörterbuch ist schon ganz abgegriffen. Ich lese jeden Tag in der Zeitung, damit ich die Sprache schneller lerne. Vorerst arbeite ich als Zimmermädchen. Das Hotel ist nicht sehr groß, es hat neun Zimmer. Der Patron ist nett und fragt immer, ob es mir hier gefalle. Ich kann hier im Hotel wohnen. Ich teile mir ein Zimmer mit dem anderen Mädchen, das Engländerin ist. Das ist sehr gut, denn so kann ich mit ihr Englisch sprechen.

Hastings liegt direkt am Meer. Es gibt hier viele schöne Villen und riesige, weiße Hotels, direkt am Strand. Die reichen Londoner machen hier Ferien. Das Meer ist wirklich gewaltig, du kannst dir das gar nicht vorstellen. Bis zum Horizont sieht man nur Wasser. Es rauscht den ganzen Tag und alles schmeckt nach Salz. Jetzt, im Herbst, ist es hier ziemlich kühl. Letzthin hatten wir einen Sturm, da war es doch etwas beängstigend. Das Wasser war ganz schwarz. Die Wellen waren höher als ein Mensch, und es lärmte, als ob jemand auf einen riesigen Kessel einschlagen würde. Jetzt ist es wieder ruhiger geworden.

Hier in England hat sich die Prinzessin – sie heißt Elizabeth – verlobt. Sie ist sehr hübsch, wie aus einem Märchen. Das ist hier schon speziell, das mit dem Königshaus. Die Engländer sind ganz stolz darauf und es wird viel über ihr Leben geschrieben. Aber sonst geht es den Engländern nicht so gut, glaube ich. In der Zeitung steht etwas von Wirtschaftskrise. Aber ich kann noch nicht so gut Englisch, dass ich alles verstehe.

Wie geht es dir? Habt ihr schon viele Gäste im Engadin? Ich freue mich auf die Nachrichten aus der Schweiz (weil, ein wenig Heimweh habe ich schon).

Greetings from England Susanne

 

Florentin hatte den Brief schon vor zwei Tagen im Engadin bekommen, aber mit dem Öffnen bis zu seinem Besuch bei Alinda gewartet. Er hatte das Gefühl, dass der Brief nach Salz roch. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Sorgfältig faltete er ihn zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag, auf dem in kleiner Schrift sein Name und Hotel Seeblick, St. Moritz, stand. Die blauen und grünen Briefmarken zeigten das Profil eines Mannes. Das war sicher der König von England.

Susanne hatte in den letzten drei Jahren im Hotel Seeblick als Zimmermädchen gearbeitet. Im Sommer hatte sie endlich eine Stelle in England bekommen. Sie war eine nette Arbeitskollegin von Florentin gewesen, stets fröhlich, neugierig und wissbegierig. Sie hatten zusammen Englisch gelernt. Florentin lernte rascher als Susanne, auch wenn er fünfzehn Jahre älter war als sie. Er behielt die meisten Wörter schon beim ersten Mal. Sie brauchte länger, vor allem die Grammatik bereitete ihr Schwierigkeiten. Florentin half ihr gerne. Er genoss das Aufleuchten in ihren braunen Augen, wenn sie einen Satz fehlerfrei übersetzt hatte, und ihr Kichern, wenn sie sich wie eine vornehme englische Lady benahm, die dickwandige Teetasse mit abgespreiztem Finger emporhob und mit hochgezogenen Augenbrauen nippte. Sie hatte ihm versprochen, dass sie für ihn auch eine Stelle in England suchen werde.

Von draußen hörte Florentin seine Schwester, die den Vorplatz fegte, obwohl er kaum Schmutz aufwies. Ihre magere kleine Gestalt machte ihn traurig. Sie sah so zerbrechlich aus und wollte sich doch keine Schwäche anmerken lassen. Nicht ein einziges Mal seit Bertrams Tod hatte er sie weinen sehen.

Es war Sonntagnachmittag, sein freier Tag. Nach Bertrams Beerdigung, die nun schon über zwei Wochen zurücklag, war er ins Engadin zurückgekehrt. Etwas, was Alinda ihm damals gesagt hatte, war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen:

«Hoffentlich werde ich nicht bevormundet. Das würde ich nicht ertragen.»

Das helle Blau ihrer Augen war ganz dunkel geworden, wie wenn sie von Gewitterwolken bedeckt worden wären. Wie gerne hätte er sie in die Arme genommen und getröstet, wäre ihr über das streng nach hinten zu einem Dutt gestraffte Haar gefahren, das an den Schläfen erste graue Ansätze aufwies. Doch er traute sich nicht.

Er verstand Alindas Sorgen. Alleinerziehenden Frauen wurde die Fähigkeit, das eigene Vermögen ordentlich zu verwalten und die Kinder im richtigen Geist und mit der nötigen Härte zu erziehen, angezweifelt. Man hielt sie für zu gutmütig und leichtgläubig. Alinda wäre nicht die erste Witwe, die einen Vormund bekäme.

Florentin hatte in den letzten Tagen hin und her überlegt, wie er Alinda helfen könnte. Er machte seine Arbeit als Portier gerne. Jeden Tag bürstete er seine Uniform aus und rieb die Knöpfe und das Schild der Mütze, auf der mit Goldbuchstaben das Wort ‘Portier’ eingestickt war, blank. Es erfüllte ihn mit leisem Stolz, wenn er mit den Gästen, die meistens aus England kamen, einige Brocken in ihrer Sprache reden konnte. Sie fragten ihn, wie man die romanischen Dorfnamen richtig ausspreche, was ihnen aber kaum je gelang. Oft musste er ein Lachen unterdrücken, wenn sie die ungewohnten Lautfolgen nachsprechen wollten und sich darin verhedderten. Ebenso lustig fand er die knielangen Pluderhosen, die die Männer beim Curling Spielen anzogen. Kurze Hosen trugen in Nalda nur die Knaben.

Manchmal bekam er etwas Kopfschmerzen von den süßlichen Parfums der Damen. Und manchmal überlegte er sich, was die Leute in Nalda über eine junge Frau aus ihrer Mitte sagen würden, die Farbe auf die Augenlider legte und sich die Lippen rot anmalte. Sie würde als flatterhaft angesehen und der Pfarrer würde von der Kanzel herab über die verdorbene Jugend klagen.

Im Hotel Seeblick gab es Betten mit weichen Matratzen, Toiletten mit Wasserspülung und Badewannen in jedem Zimmer. Am schönsten fand Florentin den Kristalllüster mit den elektrischen Kerzen in der Eingangshalle. Er war fast so groß wie ein neugeborenes Kalb und funkelte, als ob hundert Sterne in ihm gefangen wären.

In St. Moritz war es so ganz anders als in Nalda. Es gab dort viele Hotels, die gut besucht waren. Vor allem von Engländern, obwohl der zweite schlimme Krieg in diesem Jahrhundert erst zwei Jahre zurücklag. Eigentlich hatte sich Florentin aus seinem Heimatdorf verabschiedet. Er kam nur noch alle zwei Monate nach Nalda, um seine Schwester und ihre Familie zu besuchen. Teresia, Alindas Tochter, war sein Patenkind. Er freute sich jedesmal, wenn sie ihn mit ‘Padroin’ ansprach, dem in Nalda gebräuchlichen Wort für Pate.

Alinda hatte ihm sein Zimmer im Elternhaus immer freigehalten. Sie behauptete, dass sie ihm ihr Leben verdanke. Er habe sie gesund gemacht, als sie mit dreizehn Jahren an Kinderlähmung erkrankt war. Den ganzen Winter war sie damals ans Bett gefesselt gewesen und hatte fast das ganze Schuljahr verpasst. Ihre Beine waren kraftlos und knickten ein, wenn sie aufstehen wollte, als ob sie aus Pudding bestünden. Immer seltener versuchte sie es und versank in ihren Schmerzen in den Beinen und im Rücken. Florentin trieb sie an, es doch zu versuchen, streckte ihre Beine im Bett vor und zurück, wie es der Arzt gezeigt hatte, der das ‘Gymnastik’ nannte. Doch Alinda hatte ihn nur traurig angeblickt und den Kopf geschüttelt.

«Ich werde ein Krüppel bleiben, immer ans Haus gefesselt sein und anderen zur Last fallen. Alle werden mich hassen als unnütze Esserin», sagte sie mit brüchiger Stimme. Die Traurigkeit verdüsterte ihr kleines schmales Gesicht.

«Komm schon, probiere noch mal. Du kannst es.»

Mit zuckenden Schultern hatte sie den Kopf abgewandt und Florentin war traurig aus dem Zimmer geschlichen. Die Tränen flossen ihm über die Wangen. Doch eines Tages, die Sonne wärmte schon stark und der Schnee war größtenteils von den Wiesen verschwunden, ließ er sich nicht mehr abwimmeln. Die Mutter war im Backhaus und Alinda und er waren alleine zuhause.

«Jetzt versuchst du es nochmals.»

Florentin packte Alinda und zog sie aus dem Bett. Sie wehrte sich und schlug ihn mit den Fäusten, doch sie war so schwach und dünn, dass sie Florentin nicht davon abhalten konnte, sie auf den Flur zu tragen. Dort ließ er sie am Boden liegen.

«So, und nun steh auf. Sieh her, du kannst dich am Geländer hochziehen. Und ich stütze dich auf der anderen Seite. Versuch es, Alinda, bitte versuch es.»

Das Mädchen mit den abgemagerten Beinen lag am Boden, ein schluchzendes Bündel.

«Bring mich wieder ins Bett, ich friere.»

Er rührte sich nicht. Alinda kroch zur Schlafzimmertür wie ein lahmer Käfer, doch Florentin versperrte ihr den Weg.

«Du bist so gemein, ich werde es Mama erzählen.» Minutenlang blieb sie am Boden sitzen, still weinend.

Es schnürte Florentin die Kehle zu und er musste sich zwingen, sie nicht in die Arme zu nehmen und sich zu entschuldigen für seine Hartherzigkeit. Doch er blieb standhaft. Endlich packte Alinda das Geländer und versuchte, sich hochzuziehen. Doch es gelang ihr nicht einmal, ein Bein aufzustellen. Es sackte gleich wieder weg.

«Siehst du, es geht nicht. Bring mich ins Bett, bitte.»

Ihr flehentlicher Ton schnitt Florentin ins Herz und er kniff fest den Mund zu, um nicht zu weinen. Was machte er hier nur? Lieber Gott, betete er still, bitte hilf Alinda. Ich werde nie mehr etwas Schlechtes tun, wenn du machst, dass sie wieder laufen kann. Er wandte den Blick ab, um Alindas brennende Augen nicht sehen zu müssen. Als sie sah, dass Florentin sie nicht ins Schlafzimmer hineinkriechen lassen würde, packte sie wieder das Geländer und versuchte, hochzukommen. Wieder scheiterte sie.

«Es geht nicht. Alleine geht es nicht. Du musst mir helfen.»

Florentin war mit einem Satz bei ihr.

«Halte dich mit einer...

Erscheint lt. Verlag 2.9.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte Familienroman • Frauenroman • Geschichte der Grosseltern • Gesellschaftsroman • Graubünden • Historischer Roman • Krimi
ISBN-10 3-7598-6849-5 / 3759868495
ISBN-13 978-3-7598-6849-7 / 9783759868497
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