Der liebe Augustin (eBook)

Schauspiel in sechs Bildern
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2021 | 1. Auflage
96 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61184-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der liebe Augustin -  Hansjörg Schneider
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Die Pest ist nur noch eine Tagesreise entfernt. Die Bewohner der Stadt schwanken zwischen Vorsicht, Panik und Leichtsinn. Im Wirtshaus wird gelacht, geweint, geliebt, gelogen - gelebt also. Bis das große Sterben anfängt. In diesem lebenshungrigen Totentanz scheint nur Augustin, der melancholische Vagant und Musikant, immun gegen die Seuche.

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken, darunter ?Sennentuntschi? und ?Der liebe Augustin?, war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine ?Hunkeler?-Krimis führen regelmäßig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.

Die Wirtschaft ist leer. Auf treten Augustin und Beatrice. Beatrice mit einem Schellenbaum, Augustin z.B. mit einer Ziehharmonika.

AUGUSTIN

Hier ist der Augustin. Er steht da. Er setzt sich. Jetzt sitzt er. Er steht auf. Linkes Bein, rechtes Bein. Zwei erstklassige Beine. Er geht. Ein Finger, zwei Finger, drei, vier, fünf Finger. Fingerln. Zeherln. Beinerln. Da klopft was. Wer klopft? Der Augustin klopft nicht. Das Herz klopft. Da schnauft was. Es schnauft. Zu Beatrice Los, schellen.

BEATRICE

Es hat keinen Sinn, Augustin.

AUGUSTIN

Jetzt bin ich hier, aus dem Nirgendwo, wo nichts ist außer das Nirgend, und kein besonderes Nirgend, sondern irgend ein Nirgend, und aus einem Wo, von dem man nicht weiß wo. Ich will sagen, dass ich nichts will, außer sagen, dass ich nichts will, außer Sätze sagen:

Der Mensch meint

sein Leben sei wichtig.

Richtig ist:

Es ist nicht wichtig.

Das sind gute Sätze. Und ich mache weiter Sätze:

Der Mensch meint

er sei wichtig.

Richtig ist:

Er ist nicht wichtig.

Und das Gegenteil stimmt auch:

Das Leben ist darum wichtig

weil es nicht wichtig ist.

So ist es richtig.

Weiter. Beatrice ist eingeschlafen.

AUGUSTIN

Schlaf nur, schlaf. Stimmt, das Leben macht müde.

Es ist ermüdend zu leben. Singt.

Schlaf, mein Kind,

der Wind

streicht durch dein Haar.

Träum, mein Kind

der Wind

macht deine Träume wahr.

Susanne tritt auf. Augustin wendet sich an sie.

AUGUSTIN

Tanz, mein Kind,

der Wind

tanzt durch dein Haar.

SUSANNE

Was machen Sie?

AUGUSTIN

Die Zeit vertreiben.

SUSANNE

Möchten Sie Kaffee?

AUGUSTIN

Nein, Wein.

SUSANNE

Rot oder weiß?

AUGUSTIN

Rot oder weiß.

BEATRICE

Für mich Kaffee, bitte, und Semmeln.

SUSANNE

Ich hole Ihnen gleich welche. Bringt Wein und Kaffee.

AUGUSTIN

Die Wirtschaft ist sehr leer.

SUSANNE

Immer am frühen Morgen. Die Leute arbeiten.

AUGUSTIN

Was arbeiten die Leute?

SUSANNE

Arbeiten Sie nichts?

AUGUSTIN

Nein.

SUSANNE

Aber Sie machen Musik.

AUGUSTIN

Manchmal.

SUSANNE

Das ist auch eine Arbeit. Ich hole Ihnen die Semmeln.

Ab

BEATRICE

Im Grunde glaubst du die Sätze nicht, die du sagst.

AUGUSTIN

Und?

BEATRICE

Warum sagst du sie denn?

AUGUSTIN

Irgendeiner muss etwas sagen.

BEATRICE

Im Grunde willst du gar nicht leben.

AUGUSTIN

Ich muss nicht unbedingt leben.

BEATRICE

Du musst dich gegen das wehren.

AUGUSTIN

Gegen was?

BEATRICE

Du bist auf der Welt, und du musst leben.

AUGUSTIN

Man muss gar nichts.

BEATRICE

Du willst nichts mehr.

AUGUSTIN

Ich will hier sitzen, Wein trinken und ein bisschen Musik machen.

BEATRICE

Das, worauf du wartest, gibt es nicht.

AUGUSTIN

Stimmt nicht. Du wartest auf etwas, was es nicht gibt. Du wartest auf mich, und mich gibt es nicht.

BEATRICE

Der Wind macht die Träume nicht wahr.

AUGUSTIN

Geh doch, wenn du nicht bei mir bleiben willst.

BEATRICE

Du weißt, dass ich dich liebe.

AUGUSTIN

Ich dich auch.

BEATRICE

Ach lass das.

AUGUSTIN

Doch, ich glaube tatsächlich, dass ich dich liebe, Beatrice.

BEATRICE

Du liebst nicht einmal dich selber richtig.

AUGUSTIN

Ich bin so, wie ich bin, und nicht so, wie du willst, dass ich bin.

BEATRICE

Im Grunde bist du anders, als du jetzt bist.

AUGUSTIN

Wie bin ich denn?

BEATRICE

Hör mit dem Wein auf.

AUGUSTIN

Warum?

BEATRICE

Weil du so zugrunde gehst. Und ich auch. Du lebst, Augustin, du bist lebendig. Man muss das Leben, das man hat, leben.

AUGUSTIN

Ich mache nichts anderes.

BEATRICE

Ich kann nicht so leben wie du.

AUGUSTIN

Das musst du auch nicht.

BEATRICE

Warum willst du mich nicht verstehen?

AUGUSTIN

Ich verstehe dich sehr gut. Du willst gehen, weil du genug hast von mir.

BEATRICE

Ich habe nie einen Menschen so geliebt wie dich, und ich werde nie mehr einen Menschen so lieben wie dich. Auch wenn ich gehe, lebe ich nur durch dich. Verstehst du das?

AUGUSTIN

Du willst gehen. Also gehe.

BEATRICE

Komm mit, sonst gehst du kaputt.

AUGUSTIN

Ich gehe ohnehin kaputt.

BEATRICE

Es geht alles kaputt. Aber es kommt drauf an, wie etwas kaputt geht.

AUGUSTIN

Es schillert, es leuchtet, es stinkt, es verändert sich. Das ist Leben.

BEATRICE

So schöne Sätze sagst du.

AUGUSTIN

Geh bitte nicht.

BEATRICE

Soll ich bleiben?

AUGUSTIN

Ach geh zum Teufel.

BEATRICE

Du hast keine Ahnung von Liebe. Du hast keine Ahnung, was ein Mensch ist. Ich kann auch ohne dich leben.

AUGUSTIN

Ich brauche dich nicht.

BEATRICE

Ich will leben.

AUGUSTIN

Ein Stein lebt nicht, und es gibt nichts Schöneres als einen Stein, der in der Sonne liegt. Oder auch im Regen, wenn er leuchtet.

BEATRICE

Du bist kein Stein.

AUGUSTIN

Nein.

BEATRICE

Du bist wie porös. Manchmal denke ich, alles geht durch deine Haut in dich hinein. Deshalb liebe ich dich.

AUGUSTIN

Du hast eine Haut wie Wasser, eine Wasserhaut. Manchmal ist sie wie Pfirsich.

BEATRICE

Du hassest das Leben.

AUGUSTIN

Du hast eine Pfirsichhaut, und du schnaufst.

BEATRICE

Warum hassest du das Leben?

AUGUSTIN

Ich liebe alles, was schnauft. Alles geht kaputt.

BEATRICE

Komm mit.

AUGUSTIN

Wohin?

BEATRICE

Ich lasse dich jetzt.

AUGUSTIN

Es ist erst Morgen.

BEATRICE

Ich gehe. Sie geht

AUGUSTIN singt

Liebe ist, wenn man liebt.

Liebe ist, wenn man geht.

Es regnet

auf meine Träume.

Sie werden nass.

Ich bleibe trocken.

Die Sonne

brennt meine Gedanken.

Sie werden dürr.

Ich werde warm.

SUSANNE kommt mit den Semmeln

Wo ist Ihre Frau?

AUGUSTIN

Gegangen.

SUSANNE

Kommt sie nicht zurück?

AUGUSTIN

Nein.

SUSANNE

Das Leben ist zu kurz, um traurig zu sein.

AUGUSTIN

Ich bin nicht trauriger als sonst.

SUSANNE

Die Pest ist in Neustadt.

AUGUSTIN

So.

SUSANNE

Erschreckt Sie das nicht?

AUGUSTIN

Ich weiß nicht.

SUSANNE

Neustadt ist weit weg.

AUGUSTIN

Es geht.

SUSANNE

Doch. Man braucht einen ganzen Tag, um von dort hierher zu fahren.

AUGUSTIN

Ein Tag ist kurz.

SUSANNE

Nein, ein Tag ist lang. Einen ganzen Tag braucht man, ich habe es in der Bäckerei gehört. Wollen Sie die Semmeln nicht?

AUGUSTIN

Nein.

SUSANNE

Wer soll sie denn essen?

AUGUSTIN

Gib mir eine. Zur Erinnerung.

SUSANNE

Zur Erinnerung an was?

AUGUSTIN

Ich weiß nicht. An meine Jugend.

SUSANNE

Sie sind frisch aus dem Ofen. Der Rat wird sie nicht hereinlassen.

AUGUSTIN

Wen wird er nicht hereinlassen?

SUSANNE

Die Pest.

AUGUSTIN

Wenn die Pest herein will, kommt sie herein.

SUSANNE

Reden Sie nicht so.

AUGUSTIN

Wie rede ich?

SUSANNE

Unmenschlich.

AUGUSTIN

Das tut mir leid.

SUSANNE

Haben Sie keine...

Erscheint lt. Verlag 23.6.2021
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte Corona • Lied • Pandemie • Panik • Pest • Seuche • Theater • Theaterstück • Tod • Totentanz • Volksstück • Vorsicht • Wirtshaus
ISBN-10 3-257-61184-6 / 3257611846
ISBN-13 978-3-257-61184-7 / 9783257611847
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