Das Parfüm des Todes (eBook)
483 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78078-7 (ISBN)
Yang Ning begibt sich auf eine verzweifelte Suche, um sich zu entlasten. Sie folgt der schwer fassbaren Spur, die der Mörder hinterlassen hat - der Duft eines Parfüms namens Madame Rochas -, und nimmt dabei die Hilfe des berühmt-berüchtigten Serienmörders und Künstlers Cheng Chunjin in Anspruch, um das Innenleben eines psychopathischen Geistes zu verstehen. Um das Monster zu jagen, muss sie selbst zu einem Monster werden ...
Katniss Hsiao hat einen BA-Abschluss in Geschichte von der National Taiwan University. Derzeit arbeitet sie für eine Filmproduktionsfirma und schreibt Drehbücher. Das Parfüm des Todes ist ihr Debütroman und kam sofort auf die Shortlist des Taiwan Literature Award und des Taipei Book Fair Award. 2023 erhielt ihr Debüt-Drehbuch, Flare, bei den Golden Harvest Awards den Preis für das beste Drehbuch. Zudem wurde sie mit dem Literary Creation Grant des National Arts Council, dem Youth Creation Grant des Kulturministeriums und dem Taiwan Chinese Original Storytelling Resident Programme ausgezeichnet.
1
Yang Ning zwang sich, die Augen zu öffnen, der Rest ihres Körpers gehorchte ihr nicht. Nach einer Nacht, die sie auf der Seite liegend verbracht hatte, war sie stocksteif, ihre Glieder fühlten sich taub an. Nur schwach hob und senkte sich ihr Brustkorb. Mit großer Anstrengung wälzte sie sich auf den Rücken. Etwas Klebrig-Feuchtes legte sich auf sie, ergriff von ihr Besitz, ihrer Wirbelsäule, ihrem Schlüsselbein, ihren Rippen, und zog sie langsam und stetig auf Grund.
Es war, als risse die Kraft des Wassers sie mit sich. Verzweifelt kämpfte sie gegen die gierige Umarmung an, doch ihre Brust schnürte sich immer weiter zusammen, sie bekam keine Luft mehr. Und da plötzlich dieser kalte Hauch, der sie berührte wie eine übergriffige Liebkosung. Die Angst drang in jede Faser ihres Körpers.
Da war noch jemand im Raum.
Eine dunkle Gestalt stand in der Ecke. Instinktiv wusste Yang Ning, dass es eine Frau war. Sie wollte schreien, die Augen zukneifen, aber es gelang ihr nicht. Sie fühlte sich wie eine Leiche mit Bewusstsein. So hatte sie ihren Zustand auch der Ärztin beschrieben. Die hatte bedächtig genickt und das Übliche geantwortet: Keine Sorge, das wird schon wieder. Bald geht es Ihnen besser. Entspannen Sie sich. Dann stellte sie ihr routiniert ein Rezept aus und ließ ihr von der Sprechstundenhilfe höflich, aber mit spürbarem Unbehagen, einen Folgetermin geben.
Die dunkle Gestalt fixierte Yang Ning mit einem Blick, von dem sie eine Gänsehaut bekam. Sie schauderte, kämpfte, ihr Körper und ihr Geist rangen miteinander. Fokussier dich, Yang Ning, konzentrier dich auf deinen Kehlkopf, schrei. Sie spürte, wie die kleinen Muskeln in ihrem Hals arbeiteten. Ein Hüsteln, das war alles. Nicht mehr als das Hüsteln eines alten Mannes auf dem Totenbett.
Uh. Noch einmal. Uh. Mach schon, Yang Ning, beeil dich, trieb sie sich tonlos an. Los jetzt, wach auf! Die Silhouette der Frau bewegte sich auf sie zu, flimmernd, schemenhaft. Gleich würde sie bei ihr sein.
Es roch nach Kohlenfeuer.
Der Wind pfiff durch die Fensterritzen und bewegte sachte die ockerfarbenen Vorhänge, stellte eine Verbindung zur Außenwelt her. Die winterliche Sonne schien durch den Stoff auf den ramponierten Wecker auf dem Nachttisch. Schon lange war der Sekundenzeiger abgebrochen, der jedes Mal, wenn sie den Wecker schüttelte, im Inneren der Uhr klapperte. Es war, als ob sie die Zeit in der Hand hielt wie eine Kinderrassel.
Langsam nahm die Wirklichkeit Gestalt an. Raum und Zeit hatten wieder eine klare Bedeutung, ergänzten einander, verwoben sich zu dem, was wir die Erscheinungsformen der Welt nennen. Yang Ning blinzelte; einmal, zweimal. Ihr Kreislauf kam wieder in Gang. Langsam bewegte sie die Handgelenke, Ellbogen und Arme, als wären sie Bruchstücke der Erinnerung, die sie aus dem Abgrund gerettet hatte. Sie hielt sich eine Hand vors Gesicht und betrachtete ihre Finger, als sähe sie sie zum ersten Mal. Mit ängstlicher Neugier starrte Yang Ning auf ihre Hand, versicherte sich ihrer Existenz.
Mühsam richtete sie sich auf, mit den steifen, unbeholfenen Bewegungen eines Kleinkinds, das eben erst zu sitzen gelernt hat. Ihr Körper fühlte sich fremd an.
Einatmen. Ausatmen.
Der erste Atemzug nach dem Aufwachen verursachte wie immer einen stechenden Schmerz.
Ihr Herz raste, trommelte förmlich gegen die Brust, wie um ihr zu versichern, dass sie lebte. Zitternd griff sie nach dem Wecker.
Elf Uhr siebenunddreißig, sagte sie sich vor. Ich bin soeben aufgewacht, sitze zuhause im Bett. Mein Name ist Yang Ning. Sie atmete tief durch.
Die Anfälle kamen immer häufiger und dauerten immer länger. Dennoch war jedes Mal so entsetzlich wie das erste Mal, brach erneut wie eine Katastrophe über sie herein. Sie stellte den Wecker hin, schlug die Decke zurück und schwang die Beine hinaus. Die unbarmherzige Kälte der Keramikfliesen biss in ihre Fußsohlen.
Scheißwinter, fluchte sie. Der November im Norden Taiwans war so nasskalt und trostlos wie immer, ständig steckte einem die Kälte in den Knochen. Verdammt, wo waren ihre Hausschuhe? Wohl oder übel musste sie mit nackten Füßen über den kalten Boden ins Badezimmer schlurfen, wobei sie wie ein Bulldozer den Müll zur Seite kickte, benutzte Taschentücher, Plastikbecher, schmutzige Klamotten, offene Tüten mit Cheetos extra scharf. Die Brösel knirschten unter ihren Fußsohlen und blieben daran kleben. Yang Ning streifte die krümeligen Füße am Türrahmen ab und sah sich dabei aus den Augenwinkeln nach ihrer großen Haarklammer um, der mit den Haifischzähnen.
Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass nicht nur der November in Taipeh trostlos aussah.
Ihre Augen wahren blutunterlaufen, darunter hingen blaugrüne Tränensäcke, aus jeder Pore schrie ihr die Müdigkeit entgegen. Die Nasenschleimhaut brannte beim Einatmen der kalten Luft, ihre Wimpern und Brauen waren struppig, die aufgekratzten Allergiebläschen an ihrem Hals bildeten roten Schorf. Als sie vorsichtig mit den Fingern ihre Schläfen massierte, regneten abgestorbene Hautpartikel herunter. Erst achtundzwanzig und schon vorzeitige Hautalterung, dachte sie.
Sie hatte hohe Wangenknochen, ihre Gesichtszüge waren streng und hager, ohne freundliche Rundungen. In den vergangenen Jahren war sie zu einem Schakal abgemagert, kein Gramm Fett mehr auf den Rippen. Die früher nur leicht eingefallenen Wangen waren hohl, ihre vordem gutsitzenden Wintersachen schlabberten. Doch gerade in diesem schroffen Äußeren lag eine eigentümliche Schönheit.
Sie war eher klein, eins sechsundfünfzig, jemand, der leicht in der Menge unterging. Trotzdem verströmte sie von Kopf bis Fuß die Aggressivität eines Raubtiers.
Mit einer gründlichen heißen Dusche wusch sie den widerlichen Schleier herunter, den sie auf sich spürte. Ah, wie ein Aufstieg aus der Hölle war das, als hätte jemand mit einem »Plopp« den Stöpsel gezogen und endlich konnte der Dreck abfließen. Sie riss das Handtuch vom Halter, um sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht zu wischen, und rubbelte sich gedankenverloren trocken. Dann lief sie bibbernd ins Wohnzimmer und zog einen Pullover vom Sofa, den sie dort achtlos hingeworfen hatte. Erst beim Anziehen bemerkte sie, dass der Fernseher lief.
»… die jungen Orcas müssen sich erst an die Uferströmung gewöhnen und üben zunächst mit Algen. Algen werden zwar von Ebbe und Flut vor- und zurückgeworfen, können aber nicht fliehen, weshalb die Orcas irgendwann lebende Beute als Übungsobjekte brauchen.« Die tiefe Stimme des Sprechers legte eine dramatische Pause ein. »Mit verborgener Finne lauert der Wal in seinem Schwarm unter Wasser vor dem Strand und wartet wie ein Surfer auf die passende Welle, mit der er sich gegen den Strand wirft, wo er mit dem Maul den Seelöwen packt und aufs Meer hinauszieht …«
Noch hatte er den Seelöwen nicht getötet. Noch nicht.
Der Seelöwe würde versuchen zu fliehen, aufs offene Meer hinaus, wo ein Schwarm Killerwale ihn umzingelte, wieder und wieder. Kenn deine Beute, hörte Yang Ning die Killerwale sagen. Achte auf die Strömung, die Tiefe. Nimm dir Zeit. Gib acht, dass du nicht strandest.
Schluss damit. Sie wollte das Meer nicht in ihrem Zimmer haben, fand aber unter dem Kleiderhaufen auf dem Sofa die Fernbedienung nicht sofort. Immerhin entdeckte sie in der Sofaritze ihr Smartphone.
»Der Orca, mit seinem ausgesprochenen Familiensinn, seiner hohen Intelligenz und seiner geschickten Technik, ist der beste Jäger des Ozeans. Um jeden Preis, selbst wenn er einen Artgenossen töten muss, wird er seine Familie beschützen.« Sie spürte den Ozean in ihren Venen, mit jedem Pulsschlag. »Aber nicht einmal dieser brutale Killer ist vor der Trauer gefeit. Erst kürzlich beobachteten Touristen auf Vancouver Island in Kanada, wie das Tahlequah genannte Orca-Weibchen J35 siebzehn Tage lang...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2024 |
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Übersetzer | Karin Betz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Before We Were Monsters |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | aktuelles Buch • Before We Were Monsters deutsch • Bjarne Mädel • Bücher Neuererscheinung • China • Das Parfüm • Das Schweigen der Lämmer • Der Tatortreiniger • Duft • Geruchssinn • Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis 2024 • Krimi • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Manipulation • Mord • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Obsessiv • Ostasien Ferner Osten • Psycho • Psychopath • Rache • Selbstmord • Serienkiller • ST 5443 • ST5443 • suhrkamp taschenbuch 5443 • Taipeh • Taiwan • Tatortreinigerin • Tod • weibliche Ermittlerin |
ISBN-10 | 3-518-78078-6 / 3518780786 |
ISBN-13 | 978-3-518-78078-7 / 9783518780787 |
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