Feuerprobe (eBook)
336 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61468-8 (ISBN)
Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.
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Während er in der kühlen Morgenluft auf Griffoni wartete, lief der Junge auf der Stelle und pumpte mit den Armen. Als sie die Stufen herunterkam, suchte er ihren Blick. Sie merkte das, beachtete ihn aber nicht weiter, sondern ging mitten über die Piazza. Er stürmte auf sie zu, umkurvte die langsam Schlendernde im letzten Augenblick, sprintete dann am anderen Ende der Piazza um ein paar Säulen herum und kam wieder auf sie zu gerannt.
Diesmal wurde er langsamer und blieb schließlich neben ihr stehen. Wie nach einem Wettlauf stützte er weit vorgebeugt die Hände auf die Knie und japste nach Luft.
Nahtlos ihre Unterhaltung fortsetzend, meinte Griffoni: »Als ich neu war in Venedig, war ich mehrmals die Woche zu so früher Stunde hier.«
Immer noch keuchend, den Blick aufs Pflaster geheftet, fragte er: »Warum?«
»Warum was?«, fragte sie und schaute ihn an. Von ihrem Blick ermutigt, richtete er sich auf.
»Warum sind Sie hergekommen?«
Sie starrte ihn an, und erst nach einer Weile fragte sie: »Hast du deine Augen in der Polizeiwache gelassen?«
Er schlang die Arme um sich, fröstelnd in der Morgenkälte. Er trug Jeans und Jeansjacke, darunter nur ein T-Shirt.
»Auch Fremden fällt sie auf, musst du wissen«, sagte Griffoni gut gelaunt, als sei Schönheit ein Reichtum, der großzügig verschenkt würde. Sie zuckte mit den Schultern und ging weiter Richtung Ponte della Paglia und Castello. Es gab einen kürzeren Weg, doch Griffoni bevorzugte die freie Sicht über die endlose Weite des Bacinos.
Sie ging in ihrem normalen Tempo, alles und jeden im Blick, der auf sie zukäme. Und sollte sie sich vergewissern wollen, was hinter ihr vor sich ging, so gab es genug Schönes zu sehen, um zu rechtfertigen, dass sie sich umwandte. Der Junge hielt sich, wie sie an seinen Schritten hörte, links hinter ihr, sodass ihr Blick ungehindert über das Bacino schweifen konnte.
»Mich hat nur die frühe Stunde gewundert. Nicht, dass Sie hierherkommen. Jeder, der Augen im Kopf hat, möchte das sehen«, sagte er mit leisem Nachdruck, als sollte sie nur ja keinen falschen Eindruck von ihm bekommen.
»Ich bin so in aller Herrgottsfrüh hin, weil ich dann noch ungestört sein konnte.«
Er lachte befreit, warf – typisch für sein Alter – plötzlich alle Schüchternheit über Bord und lief wieder voraus. Unterdessen war es heller geworden, auch wenn die Sonne sich noch nicht blicken ließ, wärmer hingegen nicht. Es war einer dieser Frühlingstage, an denen die Sonne, erschöpft von der Anstrengung der letzten Tage, bis zum Mittag in den Federn blieb.
Vor der nächsten Brücke hielt Griffoni unter dem Sottoportego vor einer Bar. Sie wusste, die öffnete für die Leute, die um sechs zur Arbeit unterwegs waren. Sie bat den Barmann um zwei Kaffee, nachdem der Junge genickt hatte. Dann wies sie mit dem Kinn auf die Brioches in der Plastikvitrine, sagte »Due« und korrigierte schnell zu »Tre«. Während der Barmann den Kaffee machte, deutete er mit dem Kopf auf einen kleinen runden Tisch im Hintergrund. »Da ist es wärmer«, sagte er und ließ zwei Espresso heraus.
Die Wärme tat beiden gut. Der Junge hatte seinen Kaffee und die zwei Brioches bereits verdrückt, noch bevor Griffonis Tasse leer war. Sie schob ihm ihren Teller hin und bat den Barmann um eine vierte Brioche. Der kam und stellte sie vor Griffoni, und auch die schob sie Orlando hin. Beide bestellten noch einen Kaffee, und während sie ihn tranken, sprachen sie darüber, wie kalt es draußen noch sei und wann es wohl endlich richtig Frühling werde, dies und das, Hauptsache, sie konnten noch etwas länger in ihrer warmen Ecke sitzen bleiben. Der Barmann ignorierte sie.
Ein paar Leute kamen herein, beachteten die beiden nicht weiter und tranken ihren Kaffee, ohne zu prüfen, wie heiß er war, so sehr hatten sie ihn nötig. Zwei alte Männer, einer dick und einer dünn, bestellten Fernet-Branca mit Grappa und kippten ihn hinunter, als halte nur er sie am Leben.
Als die Männer gegangen waren, erhob sich Griffoni, kam dem Jungen mit Bezahlen zuvor, und sie traten hinaus. Frisch gestärkt fanden sie die riva gar nicht mehr so unwirtlich, jedenfalls warm genug, um Seite an Seite ein Weilchen am Ufer zu sitzen und schweigend aufs Wasser zu schauen. Ab und zu wiesen sie einander stumm auf etwas hin, indem sie sich mit dem Ellbogen anstießen.
Zeit verging, und irgendwann nahm Griffoni ihren Schal ab und gab ihn Orlando, der zu zittern begonnen hatte. Der wies das Angebot zurück, doch sie wickelte ihm den Schal um den Hals und machte sich gleich wieder auf den Weg, hatte plötzlich nur noch Augen für die Ankunft eines Vaporettos, etwas, das sie schon Hunderte Male beobachtet hatte.
Griffoni beschleunigte ihre Schritte und eilte weiter bis zur dritten Brücke, wo Orlando sie schließlich einholte, den Schal um den Hals, die Enden vorn in seine Jacke gesteckt. Das Rot stand ihm gut, besonders jetzt, da auch sein Gesicht Farbe bekommen hatte.
Unterdessen tauchten die ersten Fußgänger auf, mehr Männer als Frauen, ein Drittel davon mit Hunden. Boote vom Lido brachten Touristen, die sich auf ihren iPhones anschauten, wie Venedig aussah. Die Souvenirhändler schoben die fahrbaren Verkaufsstände zu ihren Standplätzen und breiteten ihre Ware aus. Auf abgezäunten Flächen hinter ihnen lagerte Baumaterial für Reparaturarbeiten an der riva; die Arbeiter würden nicht vor acht Uhr anfangen.
»In welche Klasse gehst du?«, fragte Griffoni.
»Zweites Jahr auf der Oberschule.«
»Irgendein Fach, das sich lohnt?«
Die Frage überraschte ihn. »Nur Mathe«, sagte er nach einigem Nachdenken.
Griffoni blieb abrupt stehen. »Mathe?« Orlando nickte, und sie fragte: »Warum?«
Ohne zu zögern antwortete er: »Weil es so klar ist.«
Sie riss sich vom Anblick San Giorgios los, sah Orlando an und fragte: »Wie meinst du das?«
Vielleicht hatte ihn noch nie jemand danach gefragt, auf alle Fälle wirkte er überrumpelt. Er sah zu San Lazzaro hinaus: Vielleicht wussten die Mönche auf der Insel eine Erklärung? Er schob die Hände in die Taschen, wippte auf den Zehen und meinte schließlich: »Mathe ist anders als Geschichte, italienische Literatur, Religion oder all die anderen Fächer. Mathe ist einfach da. Man stellt eine Frage, und Mathe gibt die Antwort. Mathe, das sind Regeln, und die ändern sich nicht, egal wie sehr man dich anfleht oder dir Druck macht, das zu erwidern, was ein anderer gern hätte.« Er wippte noch ein paarmal auf und ab, dann hatte er genug und ließ es sein.
»Wahrscheinlich der Grund, warum ich Mathe nie besonders leiden konnte«, sagte Griffoni und fügte mit rauer Stimme in einigermaßen verständlichem Napolitano hinzu: »Wir haben was gegen Regeln.«
Er fuhr ruckartig zu ihr herum und sah sie lange an. »Sind Sie sicher, dass Sie für die Polizei arbeiten?«
»Jetzt kann ich sagen, was ich will. Meine Schicht ist seit sechs Uhr vorbei.«
Ab einem bestimmten Punkt forderte sie ihn auf, die Führung zu übernehmen, weil er sich in der Gegend besser auskannte und schneller nach Hause finden würde. Zwei calli später bog er nach links ein, weg vom Wasser. Wo entlang sie gingen interessierte Griffoni weniger als die Leichtigkeit, mit der Orlando sich durch die Massen schlängelte, die ihnen mittlerweile entgegenkamen, Arbeiter auf dem Weg zu den Vaporetti, welche sie zum Bahnhof oder zu den Bussen am Piazzale Roma und von dort aufs Festland zur Arbeit brachten.
Sie hatte gelesen, noch vor fünfzig Jahren hatte Venedig fast 150000 Einwohner: Heute war ein Drittel davon übrig. Es gab kaum Arbeit, es gab kaum Arbeit, es gab kaum Arbeit. So einfach war das. Also setzten die einen für den Tag auf die terraferma über, während andere vom Festland zum Arbeiten in die Altstadt kamen. Viele von Griffonis Kollegen wohnten in Dolo, Noale, Quarto d’Altino, Mestre, Marghera, jenen Satellitenstädten, die das Land in einen einzigen Parkplatz verwandelt hatten.
Sinnlos, jetzt darüber nachzudenken, schließlich hatten Orlando und seine Generation nie ein anderes Venedig gekannt als das, in dem sie aufgewachsen waren. Außerdem war Griffoni selbst erst nach Orlandos Geburt zum Arbeiten nach Venedig gekommen – frühere Besuche als Touristin zählten nicht. Also kannte sie keine gute alte Zeit und hatte kein Recht, sich über die Touristen zu beschweren.
In diese Gedanken versunken, war sie immer langsamer geworden – und hatte Orlando dabei aus den Augen verloren. Sie ging schneller, gelangte auf einen kleinen campo, von dem drei verschiedene calli abzweigten, und wusste nicht mehr weiter. An einer Ecke war ein Metzger, ihm gegenüber ein Schmuckgeschäft. An der nächsten Ecke eine Bar. Oder besser gesagt mehr als das, es gab dort auch Pizzastücke auf die Hand, die man am Tresen verzehren und dazu Bier oder Wein aus Plastikbechern trinken konnte – falls man sich nicht an einen winzigen Tisch setzen und die Speisekarte studieren wollte.
Dann entdeckte sie an einer der Ecken eine weiße Straßentafel: Salizada S. Francesco. Sie sah auf dem Foto nach, das sie von Orlandos Formular gemacht hatte: »Castello 3165«, fast als sei Orlando ein Paket, das es abzuliefern galt; sie sah sich um: Noch waren die Nummern um sie herum tiefer. Doch was sollte sie mit dieser Zahl anfangen? Sinnlos. Hoffnungslos....
Erscheint lt. Verlag | 29.5.2024 |
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Reihe/Serie | Commissario Brunetti | Commissario Brunetti |
Übersetzer | Werner Schmitz |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Refiner's Fire |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | baby gangs • Brunetti • Brunetti, Guido • Commissario • Gemeinwesen • Generationen • Gewalt • Giudecca • Guido • Irak • Italien • Kinderbanden • Krimi • Krimiserie • Polizei • Venedig • Vorbilder |
ISBN-10 | 3-257-61468-3 / 3257614683 |
ISBN-13 | 978-3-257-61468-8 / 9783257614688 |
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