Die Nachzüglerin (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024
496 Seiten
Karl Blessing Verlag
978-3-641-32710-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Nachzüglerin - Jean Hanff Korelitz
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Ein geniales Familienepos
Von außen gesehen ist das Leben der wohlhabenden Familie Oppenheimer aus New York City eine Erfolgsgeschichte. Doch die Ehe von Salo und Johanna ist distanziert und von einem Unglück überschattet. Auch ihre Drillinge spüren keinerlei familiäre Bindung und können es kaum erwarten, einander zu entkommen. Als Harrison, Lewyn und Sally aufs College gehen, trifft Johanna die einsame Entscheidung, ein viertes Kind zu bekommen: die letzte, vor siebzehn Jahren eingefrorene Eizelle. Welche Rolle wird diese Nachzüglerin in der zerrissenen Familie spielen?

Jean Hanff Korelitz hat Essays, Theaterstücke, Kinderbücher und Romane veröffentlicht. Eines ihrer Bücher, »Du hättest es wissen können«, wurde 2020 von HBO unter dem Titel »The Undoing« mit Nicole Kidman, Hugh Grant und Donald Sutherland erfolgreich verfilmt. Ihr Thriller »Der Plot« war 2021 ein New York Times-Bestseller. Korelitz lebt mit ihrem Mann, dem irischen Dichter Paul Muldoon, in New York City. ?

Kapitel 1  
Das ganze Grauen


In dem Salo Oppenheimer auf einen Felsbrocken trifft

Mom hatte eine Art, immer gleich auszuweichen, wenn jemand fragte, wie sie und unser Vater sich kennengelernt hatten. Meist sagte sie, es sei bei einer Hochzeit in Oak Bluffs gewesen, zu der sie von dem Bruder des Bräutigams mitgenommen worden sei, und unter den Gästen habe sich ihr zukünftiger Ehemann befunden, als Trauzeuge für seinen Bundesbruder aus der Studentenverbindung. Beides stimmte zwar einerseits, war andererseits aber glatt gelogen. Denn unsere Eltern hatten sich vorher schon einmal getroffen, unter wirklich schaurigen Umständen, weswegen wir alle einsahen, dass es unserer Mutter einfach nicht möglich war, ehrlich zu antworten. Im Grunde ist es eine ganz harmlose Frage – Wo habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt? –, auf die eine unverfängliche Antwort folgt, die den Auftakt bildet für ein Leben in Zweisamkeit mit all seinen Folgen, inklusive Nachwuchs (in unserem Fall sogar jeder Menge Nachwuchs). Aber was, wenn dieser Moment mit dem allerschlimmsten Ereignis im Leben eines jungen Menschen zusammenfällt? Wer würde sich das nicht lieber ersparen – und ebenso der Person, die so arglos gefragt hat? Der Schock. Das Entsetzen. Das ganze Grauen.

Tatsache war, dass unsere Eltern sich in New Jersey kennengelernt hatten, in einer konservativen Synagoge, die wie ein brutalistischer Ostblockbau aussah. Sie hieß Beth Jacob, befand sich in Hamilton Township, und der traurige Anlass war das Begräbnis eines neunzehnjährigen Mädchens namens Mandy Bernstein, das vier Tage zuvor in einem Auto ums Leben gekommen war, das ihr Freund steuerte, unser Vater, Salo Oppenheimer. Mandy war ein dynamisches, vor Leben nur so sprühendes junges Mädchen gewesen, mit strahlendem Lächeln und langem dunklen Haar, der älteste Spross und ganze Stolz ihrer Familie (die Bernsteins aus Lawrenceville, New Jersey, und Newton, Massachusetts). Sie studierte im zweiten Jahr Psychologie an der Cornell University und betrachtete sich als die glückliche Auserwählte und zukünftige Lebenspartnerin von Salo Oppenheimer. Mandy Bernstein war eine von zwei Cornell-Studenten, die bei dem Unfall ums Leben gekommen waren; das andere Opfer war Salos Freund und Bundesbruder Daniel Abraham, ein liebenswerter Junge, der zum ersten oder zweiten Mal mit der anderen Person auf dem Rücksitz verabredet gewesen war. Diese Person lag noch im Krankenhaus in Ithaca. Nur Salo war beinah unverletzt aus dem Autowrack gestiegen.

Selbst damals hatte niemand ihm einen Vorwurf gemacht. Wirklich niemand! Trotz aller Wut und Trauer der Familien Abraham und Bernstein und der vielen Freunde dieser zwei jungen Menschen, die so unfassbar schlagartig nicht mehr da waren, hielten alle in der Synagoge (wie in der folgenden Woche auch alle bei Daniel Abrahams Gedenkgottesdienst in der E. Bernheim & Sons Bestattungskapelle in Newark, New Jersey) eisern an der Überzeugung fest, dass Salo Oppenheimers nagelneuer Laredo mit völlig statthafter Geschwindigkeit unterwegs gewesen war, als er auf einen losen Felsbrocken traf und sich – unvermittelt, völlig unbegreiflich – überschlug und auf dem Dach landete, halb am Straßenrand, halb im Graben. Es hatte den Anschein, als ob die Hand Gottes höchstselbst das Fahrzeug hoch gerissen und auf die Erde zurückgeschleudert hätte. Wer konnte das Rätsel ergründen? Wer den Verlust begreiflich machen?

Salo jedenfalls nicht. Bei der Trauerfeier seiner Freundin saß er in der zweiten Reihe, mit vier Stichen in der Kopfhaut und einer elastischen Binde (nicht mal ein Gips!) am linken Handgelenk, beinahe katatonisch vor Schock und Schuldgefühlen, kaum in der Lage, Mandys zahllose Verwandtschaft und Schulfreunde wahrzunehmen und dazu noch das Kontingent an Bernsteins, die schon vor Jahren nach Israel gezogen, nun aber hier in Hamilton Township plötzlich furchtbar präsent waren. Alle weinten sie bitterlich und sahen zu ihm hin, und dennoch: Ihm gaben sie nicht die Schuld. Zumindest Salo gegenüber schien jeder der Meinung zu sein, schuld sei allein … der Jeep.

Warum ein Jeep? Warum nur ein Jeep? Es gab doch genug Autos zur Auswahl, und tatsächlich war er drauf und dran gewesen, einen metallic-grauen 300-D Benz aus Manhattan zu kaufen, als seine Großmutter seine Mutter anrief und sich beschwerte, es sei eine Schande für jeden Juden, einen Mercedes zu fahren; ob Salo sich denn so weit von seinem Judentum entfernt habe, so unberührt sei von dem Schicksal seines Märtyrer-Vorfahren Joseph Oppenheimer (Goebbels’ Jud Süß!), ob er denn nicht wisse, dass die Firma Zwangsarbeiter aus Konzentrationslagern eingesetzt hatte, um Waffen und Flugzeugmotoren herzustellen? Die Antwort darauf war: Ja, Salos jüdische Identität war nicht besonders ausgeprägt, weder in religiösem noch, mit seinen neunzehn Jahren, in spezifisch historischem Sinn. Sicher wusste er um den mythischen Jud Süß – »Hofjude« beim Herzog von Württemberg in den 1730ern, nach dem plötzlichen Ableben seines Herrn einer Reihe angeblicher Verbrechen beschuldigt und gehenkt, darauf noch sechs Jahre am Galgen außerhalb von Stuttgart zur Schau gestellt –, aber das war doch alles tiefstes achtzehntes Jahrhundert, und Salo war von den 1960ern geprägt, als die ganze Kultur sich um den jugendlichen Elan seiner eigenen Generation drehte und die Vergangenheit nicht mehr viel zu melden hatte. Außerdem hatte dieser Benz ihm wirklich gefallen, die elegante Karosserie und die Ledersitze, dieser Hauch von europäischer Kultiviertheit, der ihn da am Steuer umgab. Nach jenem Anruf aber kam das natürlich nicht mehr infrage, und irgendein Instinkt trieb ihn in die entgegengesetzte Richtung, von der Nazifirma Mercedes-Benz zu dem Vorzeige-Amerikaner (und Antisemiten) Henry Ford.

Später wurde die miserable Straßenlage dieser 1970er-Jeeps ja fast zu einem Klischee, doch damals stand so ein robustes Vehikel mit Allradantrieb für Aufbruch und Expansion, es suggerierte Kompetenz, nicht Kompromiss. Und wenn Salo Oppenheimer denn schon gewillt war, bei der Anschaffung seines ersten eigenen Wagens auf die luxuriöse Innenausstattung und das schicke Design einer deutschen Edelmarke mit langer Firmentradition (wie auch Zwangsarbeit) zu verzichten, dann nur für den zusätzlichen Anreiz, selbst bei den fürchterlichen Straßenverhältnissen im winterlichen Ithaca, seiner Universitätsstadt, über Stock und Stein brettern zu können. Ein Jeep für Schluchten und vereiste Highways! Ein Jeep für die kurvigen Landstraßen von Upstate New York! Ein Jeep für Spritztouren mit Kumpels und Freundinnen, einfach munter ins Blaue hinein, wie an jenem schicksalsträchtigen Samstagmorgen.

Hinterher konnte er sich nicht mehr an den Felsbrocken auf der Straße erinnern und auch nicht an den entsetzlichen Halbkreisflug durch die Luft, mit der grellen Wintersonne in den Augen. Im Gedächtnis blieb ihm nur das Kreischen des gestauchten Metalls – dieses absurde Sardinenbüchsendach, das sich beim Aufprall nach innen dellte – und der überrascht aufklappende Mund von Mandy Bernstein, deren niedliche sommersprossige Nase er sofort hinreißend gefunden hatte, als er sie bei einem Empfang für jüdische Studienanfänger zum ersten Mal sah. Mandy war ein sonniges Menschenkind, immer zum Lachen aufgelegt, in ständiger Verbindung zu ihren Eltern und jüngeren Schwestern in New Jersey. (Wenn sie nicht in ihrem Zimmer war, dann steckte sie meist in der Telefonzelle am Ende des Korridors und sprach Lisa oder Cynthia wegen irgendwelcher Schulprobleme oder subjektiv empfundener elterlicher Ungerechtigkeiten Trost zu.) Auch mit ihren Cousins und Cousinen in Newton, dem Mutterschiff der Familie Bernstein, hatte sie in engem Kontakt gestanden. Sie trug ihr Haar zum Pferdeschwanz gebunden, manchmal mit einem roten Bandanatüchlein (ein modisches Detail, das sie von einem sommerlichen Kibbuz-Besuch in der Schulzeit mitgebracht hatte), dazu abwechselnd drei heiß geliebte Jeans mit Schlag, die sie immer weiter bestickte: Schmetterlinge, Regenbogen, ein Konterfei des Familienpudels Poochkin in Lavendelblau. Im Dezember ihres ersten Studienjahres »gingen« sie miteinander, was im Prinzip bedeutete, dass Salo sie zu Footballspielen mitnahm oder sie zu ihrem Wohnheim begleitete, wenn die Bibliothek schloss. Im neu eröffneten, exotischen Innenstadtlokal Moosewood probierten sie etwas, das »Tofu« hieß, ansonsten versorgten sie sich auf dem abendlichen Rückweg zu ihren Campuswohnheimen oft am Hot Truck. Mandy hatte eine Vorliebe für die riesigen Pizzasandwiches.

Er hatte sie nur ein Mal mit nach Hause genommen, als sie in der Stadt war, um sich für ein Sommerpraktikum bei der UJA-Federation zu bewerben (wofür sie auch eine Zusage erhielt, in einem Brief, der eine Woche nach dem Unfall eintraf). Die Einführung bei seiner Familie war ganz gut gelaufen, auch wenn die Bernsteins offensichtlich nicht zu ihren Kreisen gehörten (und obwohl Selda Oppenheimer sich eigentlich eine Sachs, eine Schiff oder sogar eine Warburg für ihren Sohn erhoffte). Mandy war einfach so entzückend, so umwerfend charmant und so unverkennbar bis über beide Ohren verliebt in Salo Oppenheimer. Sie liebte seinen Verstand und seine Manieren und auch seinen spindeldürren Körper, so hochgewachsen und fragil, ohne jegliche Muskelmasse. Sie liebte eine spezielle Güte, die sie in ihm sah, welche Salo allerdings – ganz ehrlich – nie vorgegeben hatte zu besitzen. Es stimmte auch nicht ganz, dass sie in ihm den Wunsch weckte, ein besserer Mensch zu sein; es war eher der...

Erscheint lt. Verlag 14.8.2024
Übersetzer Sabine Lohmann
Sprache deutsch
Original-Titel THE LATECOMER
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • Achilles Rizzoli • Affäre • Brooklyn • coco mellors • Cy Twombly • Drillinge • Dysfunktionale Familie • eBooks • Familiendrama • Familiengeheimnisse • Familiensaga • Geschwister • Humor & Satire • Jonathan Franzen • Jüdische Familiengeschichte • Kunstgeschichte • Künstliche Befruchtung • Liebesgeschichte • lustig • lustige • MoMA • Museen • Neuerscheinung • New York City • Roman • Romane • US-Bestsellerautorin • Vierlinge • Yasmina Reza
ISBN-10 3-641-32710-5 / 3641327105
ISBN-13 978-3-641-32710-1 / 9783641327101
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