Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne -  Saša Stanišić

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne (eBook)

Spiegel-Bestseller
eBook Download: EPUB
2024
256 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-31679-2 (ISBN)
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Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern jene andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt?

Und dann ist da trotzdem die Furcht, feige gewesen zu sein, zu lange gezögert und etwas verpasst zu haben, ein besseres Ich, ein größeres Glück, die lustigeren Haustiere und Partner.

Sa?a Stani?i? führt uns an Orte, an denen das auf einmal möglich ist: den schwierigeren Weg zu gehen, eine unübliche Wahl zu treffen oder die eine gute Lüge auszusprechen.

So wie die Reinigungskraft, die beschließt, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. So wie der Justiziar, der bereit ist zu betrügen, um endlich gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory zu gewinnen. Und so wie der deutsch-bosnische Schriftsteller, der zum ersten Mal nach Helgoland reist, nur um dort festzustellen, dass er schon einmal auf Helgoland gewesen ist.

Am besten wäre ja, man könnte ein Leben probeweise erfahren, bevor man es wirklich lebt.

Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Seine Werke wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und viele Male ausgezeichnet. Saša Stanišić lebt und arbeitet in Hamburg. Er ist dort Fußballtrainer einer F-Jugend.

Traumnovelle


Dass die Zeit stehengeblieben war, hatte Dilek lange gar nicht mitbekommen, und das ärgerte sie im Nachhinein. Weil, wenn die Zeit schon einmal stehenbleibt, dann willst du das ja effektiv nutzen, statt weiter das zu tun, was du bei normal laufender Zeit getan hättest, Heizung abzustauben, jetzt Dilek konkret.

Dilek, Dilek, Dilek… Da ist etwas vorgefallen, etwas nicht gerade Unerhebliches! Und du? Geträumt hast du wieder, Dilek, so vor dich hin.

Dass die Zeit stehengeblieben war, hat Dilek allerdings auch deswegen nicht gleich mitbekommen, weil, seien wir ehrlich: Groß viel Erfahrung mit dem Stehenbleiben von Zeit hast du als Menschheit ja nicht. Wie oft passiert das schon? Auf welche Signale müsste man achten, welche Zeichen, bitte, verstehen? Bloß weil die Vögel auf einmal die Fassung verlieren, glaubt man nicht gleich: Aha, jetzt ist also die Zeit stehengeblieben. Nein, man glaubt, zumindest war das bei Dilek der Fall, dass die sich halt fortpflanzen wollen. Ist ja ihr gutes Recht.

Mit Ausnahme der Vögel war die Welt stiller geworden. Was für eine laute Spezies der Mensch doch ist. Erst wenn der ganze Stadtkrach verstummt, den so ein Wien an so einem Montag produziert, wenn also von einem Augenblick auf den anderen nichts mehr bohrt und rumort und motort, dann merkt man erst, wie laut. Also du merkst es vielleicht. Dilek aber hat es genau nicht gemerkt.

Wobei. Gemerkt hat Dilek schon was. Darauf reagiert hat sie bloß erst einmal nicht. Weil das, was sie gemerkt hat, das hat mit Frau Sehner zu tun gehabt, auf die Dilek nicht so gern reagiert. Generell nicht. Heute noch mal extra nicht, weil sie, Dilek, mit Wichtigerem beschäftigt war: dem Traum in ihrer Brust und dem Staub in Frau Sehners Heizung.

Es war das Hauen der schlanken Finger von Frau Sehner auf die Tasten ihres schlanken Computers, was Dilek bemerkt hat. Dass es verstummt war, das Klacken nebenan im Arbeitszimmer. Wobei man sagen muss, dass Frau Sehner nicht wirklich arbeitet, das hat sie gar nicht nötig. Bureau nennt sie das Zimmer trotzdem.

Kurz bevor die Zeit stehengeblieben ist, hatte es im Bureau resolut geklackt, heißt: Frau Sehner war unzufrieden mit Österreich. Je unzufriedener Frau Sehner mit Österreich war, desto härter drosch sie in die Tastatur. Frau Sehner schreibt einen wöchentlichen Newsletter für ihre Freundinnen und bestückt, bei wirklich großen Themen, die Zeitung ihres Onkels, Meinungsseite. Innenpolitik, Ibiza, Impfen. Dieses feststeckende Containerschiff im Suezkanal, die toten Flüchtlinge im Burgenland, Klima, der Weinanbau (Herzensthema wegen Weingartenbesitz) – Frau Sehner hat viel Kapazität zum Nachdenken über unser Land.

Genug von Frau Sehner und zurück zur träumenden Dilek mit einer Bürste aus Ziegenhaar. Geträumt hat Dilek von sich als Kind in der Türkei. Genauer: von einer Platane auf einer Wiese in ihrem Dorf. Genauer: vom Blick auf das Meer von unter der Platane. Noch genauer: vom summenden Singen der Fliegen hat Dilek geträumt und vom süßlichen Geruch der Ziegen an einem heißen Sommertag, an dem sie beschlossen hatte, die Ziegen für ein Stündchen sich selbst zu überlassen und ins Meer zu springen, so richtig mit Anlauf rein.

Also nein. Dilek hat diesen Tag doch erlebt, also wirklich gelebt. Eine Erinnerung war das, kein Traum – der heiße, unvernünftige Tag mit dem Sprung ins Meer.

Traumhaft war, wie sich jene Platane und jene Ziegen und jener Sprung ins Meer angefühlt haben: ungewiss. Als könnte sie aus einer Erinnerung in ein anderes Leben erwachen, eines, in dem sie nicht eine Heizkörperbürste aus Ziegenhaar einer Heizung zwischen die Rippen schob.

Der Traum kam mit scharfer Kante daher. Hat ihr einen echten Stich versetzt, hier, hinter der Brust, und Dilek hat die Bürste fallen gelassen.

Jetzt diese Bürste. Sie war ein Geschenk von Frau Sehner, eine Bürste aus Ziegenhaar. Als Frau Sehner Dilek vor Jahren die Bürste überreicht hatte, wollte sie die nicht nur als Geschenk, sondern auch als Witz verpackt wissen: »Die ist mit einer Ziege verwandt!«, hat sie gerufen und ihr Sehnerlachen gelacht – den Sehnerkopf im Nacken. Alle Sehners lachen so, sogar die, die im engeren Sinne gar keine Sehners sind: Herr Feigl, der dritte Gatte von Frau Sehner, lacht so. Sophie-Clementine und Gusti lachen auch so, und – Schmäh ohne – auch Otto, der Mops (Frau Sehner ist literaturinteressiert), lacht so, obwohl der fast gar keinen Nacken hat! Nach all den Jahren in der Sehner-Villa lacht auch Dilek so, allerdings nur, wenn sie etwas besonders unlustig findet.

Bei der Bürste aus Ziegenhaar hat sie sich durchaus amüsiert. Nicht über des Theater mit der Ziegenverwandtschaft, sondern darüber, wie absurd das war, dass Frau Sehner während einer Reise nach Deutschland in einer Stadt namens Marburg extra zu einem »namhaften Bürstenhersteller« geht und eine Heizkörperbürste aus Ziegenhaar kauft, um sie Dilek in Wien feierlich zu überreichen, Mascherl dran und alles. (Das Mascherlbinden hat Dilek ihr beigebracht.)

Als sie mit dem Lachen fertig waren, hat Frau Sehner Dilek die Hand auf die Schulter gelegt und geseufzt: »Ach, meine liebe Dilek, heute brauchst das Bureau nicht machen, bitte. Ich werd ein bisserl lesen.«

Wie war aber Frau Sehner überhaupt auf die Idee mit dem Ziegenhaar gekommen, was ist da die Pointe?

Die Pointe beginnt noch vor der Marburg-Reise an einem Tag, als Frau Sehner sich nach zwei Jahrzehnten Beschäftigungsverhältnis mit ihrer Putzfrau zu beschäftigen beginnt. Wobei, was heißt schon »sich beschäftigen«? Sagen wir: Unterhaltungen zu führen, die gehaltvoller sind als »Grüß Gott, Dilek« und »Der Otto hat wieder was von der Straße gefressen und ins Master Bedroom gespieben, fangst, bitte, da an. Danke, Dilek«.

Einsamkeit, Langeweile und etwas Alkohol: die Mischung, das weiß man, macht einen Menschen aggressiv oder kommunikativ. Frau Sehner, zum Glück, nur kommunikativ. Sie redete immer häufiger auf Dilek ein, auch mal schreiend über den Staubsauger hinweg, da kennt die Frau Sehner nichts.

Das jetzt nicht als Kritik verstehen, bitte! Nicht an Frau Sehner, auch nicht an der Ausbeutung von Minderheiten oder den finsteren Bildungsbedingungen in Österreich für Migranten oder was. Das ist nicht die Pointe. Die Pointe ist, dass Dilek ihr geantwortet hat. Und zwar nicht, weil Frau Sehner etwas gefragt hatte – die ist ein Mensch mit vielen Antworten und wenigen Fragen –, sondern weil Dilek selbst und von sich aus etwas erzählen wollte.

An einem Frühlingstag mit Scheuermilch Zitrus in der Luft war das. Dilek putzte den Herd, Frau Sehner trank den Rosé und hatte einige Anmerkungen zu den Chancen und Risiken von ökologischer Landwirtschaft. Sprich: Es ging um irgendwelche Auflagen zu ihrem Weingarten, die sie ungehörig fand.

Nachdem sie fertig war, hat sie geseufzt. Frau Sehner seufzt, wenn sie Unrecht empfindet. Zwischen dem geseufzten Trinken von Wein und dem Schrubben von Keramik hat eine Stille sich ausgedehnt. Und da raus, aus der Stille, hat Dilek loserzählt.

Überraschend für alle! Für Dilek selbst, weil sie nicht wie sonst geschwiegen hat, obwohl sie was zu sagen hatte. Für Frau Sehner, dass Dilek etwas sagte, das, druckte man es als Text, mehrere Absätze gehabt hätte. Für die Induktionsherdplatten wahrscheinlich auch, sie haben das gar nicht gekannt, dass Dilek einmal etwas Persönliches erzählt hat.

Die Sehner’schen Auslassungen über die Landwirtschaft hatten Dilek an ihre Kindheit auf dem Land erinnert. »In Kaleköy.« Dilek hat den Namen des Dorfes wie eine Zauberformel drei Mal aufgesagt, worauf Frau Sehner ihn mit einer Sorgfalt wiederholt hat, als könnte er bei falscher Betonung zerspringen. (Hat sie gar nicht mögen, Frau Sehner, wenn was zersprang.)

Dilek hat erzählt, wie sie morgens als Erstes das Haar ihrer Mutter gekämmt hat. So dichtes Haar – da hat Dilek gelächelt –, dass sie im Winter ihre Hände hineingrub, um sie zu wärmen.

Sie hat von den Ziegen erzählt, wie sie die auf die großzügigen Aktarım-Wiesen oberhalb von Kaleköy getrieben hat, und wie sie die gehütet hat, und dass man von den Wiesen auf das Meer sehen konnte, nah und fern zugleich.

Wie das Meer ausgesehen hat, das hat sie auf Türkisch beschrieben, und es war ihr egal, dass Frau Sehner das nicht verstand. Die hat aber genickt, weil sie vielleicht doch was verstanden hat in der Stimme von Dilek, in ihrem Glanz.

»Derin bir deniz.«

Wie die Ziegen gerochen haben. Nach Honig, so gut. Und nach Ziegenscheiße. Machen wir uns nichts vor!

Von den Knöcheln hat sie erzählt, blutig. Vom Schleppen, schwer. Von der Hornhaut, da und dort und dort. Von Kratzern und Blasen und Dreck und wie lang das Schweigen zu Hause immer war und wie kurz der Schlaf. Wie ewig der Schulweg, wie ewig der Nachhauseweg.

Freuden gab es drei: Mutter, manchmal.

Bücher lesen immer. Heimlich Bücher lesen, der Vater hat es ungern gesehen.

Die dritte Freude war ihre Tante Özlem. Sie war es, die Dilek auch mit den Büchern versorgt hat. Jedes Mal, wenn Özlem aus Trabzon zu Besuch kam, blieb ein neues Buch bei Dilek zurück.

Das Buch dann aufschlagen und bei den Ziegen lesen – so begannen viele der freudigen Tage. Die besten waren, wenn Özlem später vorbeikam. Sich neben Dilek ins Gras legte, und Dilek las einfach weiter, nur laut jetzt. Manche dieser Tage waren so gut, dass Dilek sich gewünscht hat, die Zeit möge stehenbleiben. (Aha!)

An einen solchen guten Tag und einen sehr guten Dichter konnte sie sich...

Erscheint lt. Verlag 30.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • eBooks • Helgoland • Memory • Neuerscheinung • Ratten • Wirklichkeiten • Zeitsprünge
ISBN-10 3-641-31679-0 / 3641316790
ISBN-13 978-3-641-31679-2 / 9783641316792
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