Im Morgenlicht (eBook)

'Dieser berührende und wendungsreiche Roman folgt einer jungen Frau auf der Suche nach Wahrheit und Zugehörigkeit.' Oprah Daily

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02093-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Morgenlicht -  Téa Obreht
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Sil und ihre Mutter sind in der versinkenden Inselstadt Island City angekommen, nach der Flucht aus ihrer einst schönen, kriegsversehrten Heimat - über die die Mutter so wenig spricht wie über den verschwundenen Vater. Der Neuanfang ist hart. Die Mutter schlägt sich als Bergungstaucherin durch, und die beiden kommen bei Tante Ena unter, die als Hausmeisterin den glanzvoll-maroden Wohnturm «Morgenlicht» versorgt. Sie sind hier nicht die Einzigen aus der alten Heimat: Im Penthouse residiert die mysteriöse Bezi Duras - eine exzentrische Malerin, politische Aktivistin oder vielleicht doch eine Hexe aus der alten Welt? Sil will mehr erfahren, über die eigene Herkunft, Bezi Duras und die Geheimnisse im «Morgenlicht». Dann zieht eine seltsame Familie ein, in der Sil eine Freundin findet, doch mit ihr bricht auch die totgeschwiegene Vergangenheit auf. Als die Mutter bei einem Tauchgang verschollen geht, steht Sil kurz davor, die ganze Wahrheit herauszufinden. Téa Obreht nimmt uns mit in ein Übermorgen mit steigenden Meeren, gesellschaftlichem Zerfall. Zugleich erzählt sie von der Suche nach Wahrheit, der Hoffnung und einer Mutter-Tochter-Beziehung - tief, poetisch, in unvergleichlichen Bildern.

Téa Obreht gilt als eine der wichtigsten jungen Stimmen der internationalen Literatur. Geboren 1985 in Belgrad, lebt sie seit ihrem zwölften Lebensjahr in den USA. Ihr Debütroman «Die Tigerfrau» (2011), für den National Book Award nominiert, erschien in mehr als dreißig Sprachen und wurde in zahlreichen Ländern zum Bestseller. 2011 erhielt Téa Obreht den Orange Prize for Fiction. Über «Herzland» (2019) schrieb die «Washington Post»: «Fantastische Prosa.»

Téa Obreht gilt als eine der wichtigsten jungen Stimmen der internationalen Literatur. Geboren 1985 in Belgrad, lebt sie seit ihrem zwölften Lebensjahr in den USA. Ihr Debütroman «Die Tigerfrau» (2011), für den National Book Award nominiert, erschien in mehr als dreißig Sprachen und wurde in zahlreichen Ländern zum Bestseller. 2011 erhielt Téa Obreht den Orange Prize for Fiction. Über «Herzland» (2019) schrieb die «Washington Post»: «Fantastische Prosa.» Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.

Vielleicht haben Sie noch nie von meiner Mutter gehört. Vielleicht aber haben Sie den Fall Belen auch verfolgt und sich schon vor Jahren Ihre Meinung gebildet. Vielleicht haben Sie ihr Gesicht gesehen, dieses nicht besonders schmeichelhafte Foto aus ihrer Wiederbevölkerungsakte, das überall in den Nachrichten gezeigt wurde. Wie unheimlich sie gewirkt haben muss, mit dem wilden, die Stirn umwölkenden Haar, den blutunterlaufenen Augen, die meine Mutter auf diesem Bild wirklich ein wenig verrückt aussehen ließen.

Sie war eine drahtige, kleine, dunkelhaarige Frau. In einem anderen Leben hätte sie Jockey sein können, in diesem aber war sie Handwerkerin, Tischlerin und einen unseligen Sommer lang auch Hufauskratzerin.

Eine agile, geistesgegenwärtige Person, die sich vor nichts fürchtete, was ihren Körper befallen könnte, und die ausgesprochen begabt für Sprachen war, nur nicht für Englisch, das fand sie chaotisch. Sie hasste Chaos. Sie hasste außerdem Unwissenheit – oder vielmehr hasste sie es, Unwissenheit bei sich selbst in Situationen feststellen zu müssen, in denen sie längst Bescheid wissen sollte. Sie hasste außerdem Ungereimtheiten in Geschichten und bei Menschen. Sie hasste Unhöflichkeit, und sie hasste Fremde, die sich zu sehr anbiederten, aber auch Freunde, bei denen sich erwies, dass ihnen weniger an ihr als ihr an ihnen lag. Aber sie liebte Tiere. Und Fleiß. Und sie liebte mich.

Regeln bestimmten ihre Welt und meine. Regeln wie: Stelle Fragen niemals schriftlich, wenn du sie persönlich stellen kannst – geschriebene Worte können einen ewig verfolgen. Bewahre keine Bilder oder Unterlagen länger als ein Jahr auf. Wenn du schon darüber nachdenken musst, ob die Information, die du preisgeben willst, jemandem schaden könnte, halte auf jeden Fall den Mund. Sprich Unser nur zu Hause, nur mit Familie – was bis zu dem Tag, an dem wir bei Ena einzogen, bedeutete, dass ich Unser nur allein mit meiner Mutter sprechen konnte. Verrate nie, woher du kommst. Wenn man dich fragt, gib bloß den Ort an, den du zuletzt dein Zuhause genannt hast – was, bis wir nach Island City zogen, Paraiso gewesen war. Kommen Nachfragen, bleib bei dieser Antwort. Und sag, du könntest dich an nichts erinnern, was vorher gewesen war.

Ich hatte Jahre damit zugebracht, einen Knoten von Theorien aufzudröseln, die erklären sollten, warum meiner Mutter so sehr daran gelegen war, unsere Herkunft zu verschleiern. Anfangs schien mir die plausibelste Erklärung eine sinistre Familiengeschichte zu bieten: ein militanter Großvater. Eine in Ungnade gefallene Tante. Als ich älter wurde, redete ich mir ein, wir gehörten irgendwie der königlichen Familie an und versteckten uns auf unserer Flucht von Stadt zu Stadt vor gesichtslosen Thronräubern. Ließ ich das Geschick meiner Mutter für handwerkliche Arbeit sowie die Tatsache außer Acht, dass sie gelegentlich eine Veterinärschule erwähnte, erschien mir meine Annahme durchaus einen Sinn zu ergeben. Jedenfalls würde sie erklären, warum wir keine Bilder und keine Unterlagen über meine oder ihre Kindheit hatten, auch keine Verwandten, ob lebend oder tot, wozu auch mein unerwähnter und unerwähnbarer Vater gehörte.

Ena dagegen bot ihre Vergangenheit überreichlich allen Blicken dar. Bilder, Postkarten, Flugblätter. Noch nie hatte ich eine Wohnung gesehen, die derart von Informationen überquoll. Meist ging es dabei um Beanie. Selbst ihre Bestrahlungstermine hingen noch an der Wand, ihr Shampoo stand noch im Bad, ihre Aquarelle lagen auf dem Konsolentisch im Flur. Schaute man sich hier um, könnte man glauben, sie sei gerade nur nach draußen gegangen und kehrte jeden Moment zurück. Ena redete sogar in der Gegenwartsform über sie. Ich wusste nicht viel über die Liebe, aber das hier kam mir wie Liebe vor. Ein unablässiges Sichumgeben mit dem, den man liebte. Eine Umhüllung des Ichs durch den anderen.

Zahllose Fotos, die an der Kühlschranktür hingen, zeigten Beanie als eine kleine, hellwache Frau, die offenbar schnell einen Sonnenbrand bekam. Es war nicht zu übersehen, dass sie und Ena in der Vorher-Zeit viele Vergnügungsreisen gemacht hatten. Hier standen sie vor einem alten, sonnengebleichten Tempel, dort vor einer heißen Quelle.

«Wo ist das hier?», fragte ich Ena etwa eine Woche nach unserem Einzug und zeigte auf Beanie, die, hitzeversengte Hügel im Hintergrund, ein selbstzufriedenes Ferkel im Arm hielt.

«Das weißt du nicht mehr?» Sie klang verletzt. «Auf Babas Farm.»

Während ich noch mit der Offenbarung zu kämpfen hatte, dass wir vom Land kamen – nicht nur keine königliche Familie, nein, nicht mal Stadtleute! –, beschrieb Ena Wacholderbüsche, eine Garage mit einer kleinen roten Tür, bekränzt von einem umlaufenden Balkon. Dieser war ganzjährig von Wein überwuchert, erzählte sie, sodass man, wenn man aufstand, nur die Hand auszustrecken brauchte, um sich die staubigen grünen Kugeln aus den Trauben zu pflücken und sie sich eine nach der anderen in den Mund zu stopfen. «Weißt du nicht mehr?», fragte sie erneut, aber ich konnte mich kaum an Paraiso erinnern, geschweige denn an einen Ort, der jener Kette von Heimstätten voranging, die uns bis zu diesem Moment schmerzlicher Einsichten geführt hatte. «Im vorderen Hof stand ein riesiger Olivenbaum», fuhr Ena fort. «Als du noch klein warst, haben wir eine Schaukel aufgehängt. Ich glaube, irgendwo habe ich noch ein Bild – wir sitzen alle am Tisch, und du schaukelst. Kannst du dich wirklich nicht erinnern?»

Als sie das Foto nicht finden konnte, fühlte ich mich betrogen. Wie seltsam, sie von Erinnerungen erzählen zu hören, in denen ich vorkam, die es in mir aber nicht gab. Da lief ich allem Anschein nach über sonnenbeschienene Wiesen, schaukelte an Olivenästen, aß Weintrauben, umarmte vielleicht Ferkel, aber allein in ihrem Gedächtnis, nicht in meinem. Wie ungerecht.

«Können wir dahin zurück?», fragte ich.

«Ich wünschte, wir könnten, Sil», erwiderte Ena. «Aber diesen Hof gibt es nicht mehr.»

In dieser Endgültigkeit stimmte ihre Sicht der Vergangenheit mit der meiner Mutter überein. Solange ich mich erinnern konnte, war mir eingetrichtert worden, dass es zu Hause nicht mehr gab. Doch da ich nie Bilder davon gesehen hatte, war dieses Gibt’s-nicht-mehr stets ziemlich abstrakt geblieben. Gewiss, die Tatsache, dass es eines Tages ein Zuhause gegeben hatte, am nächsten Tag nicht mehr, war im Grunde tragisch, aber da ich es nie gesehen hatte, konnte ich mir diese Leerstelle und das, was ihr vorausgegangen war, bloß vorstellen. Fotografien vom echten Zuhause tilgten nun diesen imaginären Raum.

Von dem wenigen, was ich meiner Mutter entlocken konnte, wusste ich, dass es dort, wo einmal unser Zuhause gewesen war, nur noch zerfallende Palisaden gab. Staubwirbel und verbrannte Felder, Küstenabschnitte gespickt mit den Ruinen alter Häuser, so weit das Auge reichte. Der Bergrutsch, der Erdabgang, der seit Jahren gedroht hatte, führte zum Fortzug der Menschen, Abertausende Familien, wie meine Mutter andeutete, darunter unsere eigene. Er hatte Etwas in Nichts verwandelt. Hatte aus Freunden Unbekannte gemacht. Hatte Mutter zu jenem Menschen werden lassen, der alles im Stich ließ, ihr einjähriges Kind an die Hand nahm und zu Fuß aufbrach, ohne jeden Plan.

Damit will ich nur sagen, wie wenig ich, als mir der Hof so deutlich vor Augen gebracht wurde, die Grundrisse der Vergangenheit tatsächlich kannte. Nach einem Leben in verhaltener Neugier und voll nebulöser Projektionen wollte ich nun mehr wissen. Und dieser Wunsch wurde gleich zum Hauptstreitpunkt zwischen Ena, die sich nur allzu gern erinnerte, und meiner Mutter, die das nicht wollte.

«Erinnerst du dich denn an den Hof?», fragte ich meine Mutter eines Abends nicht lange danach. Wir lagen Gesicht zu Gesicht auf unserer schlichten schmalen Liege in Beanies Arbeitszimmer. Ich hatte gehofft, unsere körperliche Nähe und die Anwesenheit von Ena im Nachbarzimmer sowie die Tatsache, endlich, nach all der Zeit, hier, in Island City, zu sein, dass all dies zusammen sie vielleicht zu einem Gespräch über ein Thema verleitete, über das sie sich bislang immer nur ein, zwei Augenblicke lang ausgelassen hatte.

«Ich kann mich an dies und das erinnern», sagte Mutter.

«War es so, wie Ena es beschreibt?»

«Nun ja, manchmal.»

«Und …?»

«Ach, ich weiß nicht, Sil. Wir haben viel Zeit damit verbracht, auf Regen zu warten. Und wenn er kam, haben die Wassermassen Menschen mit sich gerissen. Auch Häuser.»

«Aber es gab Weintrauben und Ferkel?»

«Verlass dich nicht allzu sehr auf die Version der Dinge, die deine Tante dir erzählt.» Meine Mutter strich mir das Haar aus dem Gesicht. «Sie kann von Glück sagen, dass sie von zu Hause fortging, ehe sie gehen musste. Als es noch grün war.»

«Wie meinst du das?»

«Bevor alles zum Teufel ging.»

«Und wie ist es zum Teufel gegangen?»

«Das weißt du doch. Die Dürre. Der Erdrutsch.»

«Aber es war nicht nur das, oder?»

«Na ja, dann kam der Krieg, aber das weißt du auch.»

«Aber was ist mit dem Vorher? Was mit den guten...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2024
Übersetzer Bernhard Robben
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerika • Balkan • Dystopie • Familiengeschichte • Flucht • Freundinnen • Freundschaft • Geflüchtete • Geheimnisse • Jugoslawien • Klimawandel • Küste • Magie • Meer • Migration • Mutter • New York • Tochter • USA • Zukunft
ISBN-10 3-644-02093-0 / 3644020930
ISBN-13 978-3-644-02093-1 / 9783644020931
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