Das verrückte Herz (eBook)
304 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78029-9 (ISBN)
30 Jahre nach Erscheinen seines Erzählungsbandes Sarajevo Marlboro, der Miljenko Jergovi? 1994 schlagartig bekannt machte, kehrt er in seinem neuen Werk zurück in die Stadt, in der sich so viel Geschichte, Religion, Kriegserfahrung und Alltag ballen.
Zugewandt, voller Traurigkeit und Humor erzählt er vom täglichen Überleben in der Belagerung und den Schrecken des Krieges, von Hunger, Angst und den kleinen Gesten der Solidarität. Die Atmosphäre der Kriegsjahre erscheint so plastisch wie das fragile, zugleich unzerstörbare Leben darin - meisterhafte Erzählungen von der Menschlichkeit, die sich am Nullpunkt behauptet.
Da ist zum Beispiel Pero Magacioner, das verrückte Herz. Er streicht den Leuten in Sarajevo die Wohnungen, mehr schlecht als recht. Mit Ausbruch des Krieges lässt bald niemand mehr seine Wohnung streichen, dafür steigt der Bedarf an Dachdeckern. Die Handwerker wollen nicht mehr auf die zerschossenen Dächer steigen, Pero Magacioner klettert trotzdem hoch, bringt sie wieder in Ordnung, so gut, erzählt man sich, wie er sonst nie etwas gemacht hat. Kurz vor Kriegsende stürzt er vom Dach, einfach so, ein ungebührlich unverdienter Tod inmitten all der unverdienten Tode in der belagerten Stadt, dem Jergovi? ein berührendes Denkmal setzt.
Das verrückte Herz ist der Nachfolge- und Zwillingsband zu Sarajevo Marlboro, mit 29 neuen Erzählungen aus dem belagerten Sarajevo - zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt.
Miljenko Jergovi?, 1966 in Sarajevo geboren, studierte Philosophie und Soziologie an der dortigen Universität. Jergovi? berichtete unter anderem aus dem belagerten Sarajevo und war dort auch Redakteur beim Fernsehen. Seit 1993 lebt er als freier Schriftsteller in Zagreb und ist als politischer Kolumnist für verschiedene kroatische und internationale Zeitungen tätig.
Kino
Auf dem Tisch im Wohnzimmer steht ein grünes rundes Ding. Es ist aus Gummi und enthält einen feuchten, orangefarbenen Schwamm, in dem in unregelmäßigen Abständen Finger versinken, die anschließend Papiere umdrehen, gebündelte Formulare durchblättern, etwas zwischen Hunderten von Wechseln suchen. Der Rechnungsabschluss steht an, und ich lauere auf den Moment, wenn sich die Finger nach dem Befeuchten am Schwamm wieder aus dem Gummiding erheben, dann nehme ich es, das namenlose Ding, vielleicht ein Befeuchter, das sich kaum beschreiben lässt, halte es an die Nase und sauge den Gummigeruch tief in mich hinein. Der Geruch ist ekelhaft und anziehend. Er macht mir Gänsehaut, ich schwelge in seiner Ekligkeit. Schnell stelle ich das Ding wieder an seinen Platz, damit die Finger es finden, sobald sie trocken werden, damit sich die Brille, die bei jeder Kopfbewegung die Nase herunterrutscht, nicht auf mich richtet, damit mir die Stimme nicht einen Verweis für mein Tun erteilt. So vergeht die Zeit, der Samstag, es ist Februar, aber die Nachtspeicherheizung ist ausgeschaltet, draußen Plusgrade wie im Mai, von den Temperaturen her könnte es Juni sein, die kahlen Äste rußschwarzer Obstbäume in Gärten und Höfen treiben Knospen, Katzen schreien und beklagen die Zumutungen für ihr Geschlecht, bei den Menschen wächst die Anspannung, weil der Winter nicht kommen will. Ich bin zwölf Jahre alt. Meine Lymphknoten sind geschwollen, aber ich kaschiere sie geschickt. Überzeugt, todkrank zu sein, kann ich nichts lesen. Jedes Buch wäre zu dick, keins könnte ich zu Ende lesen angesichts meines Zustandes. Ich genieße einzig und allein den Moment, wenn sich drei Finger – Zeige-, Mittel- und Ringfinger – aus dem Befeuchter heben, weil ich das Ding direkt danach packen und seinen Gummigeruch tief in mich hineinsaugen kann.
Die Finger schieben die Brille hoch, die um ein Haar von der Nasenspitze gerutscht wäre, dann steht die Hand in der Luft, nimmt die Brille ab: »Veljko hat sich nicht gemeldet, willst du mit ins Kino?«
Veljko war ihr Mann, Freund oder Liebhaber – ich weiß nicht, welches der drei Worte auf eine der zwei, drei großen Lieben ihres Lebens passt. Viele Jahre fuhr er zur See, von einem großen Hafen der Welt zum nächsten, schickte ihr Postkarten mit kurzen, floskelhaften Grüßen. Ohne die Liebeserklärungen, die einsame Matrosen ihrer Liebsten zu Hause schicken. Er war verheiratet, hatte zwei Kinder, aber er ging an Bord, dachte sie, um nicht bei einer Frau zu sein, die er nicht liebte, sondern um ihr, die er liebte, Postkarten zu schicken. Aber das schrieb er nicht, weil jeder Postkarten lesen kann.
Aus einem italienischen Hafen hatte er geschrieben, er sei Ende Januar in Split und käme am zweiten Samstag im Februar nach Sarajevo, falls es nicht zu stark schneien würde. Sicher liefe bis dahin im Kino Dubrovnik ein Film, von dem alle Welt rede. Er hätte ihn in Hongkong absichtlich verpasst, damit sie ihn gemeinsam anschauen könnten. Sie solle schon mal Karten kaufen, er würde sie morgens anrufen, am zweiten Samstag im Februar, bevor er von Split losfahren würde.
Sie hatte Karten gekauft, aber er rief nicht an. Bis fünf Uhr nachmittags wartete sie. Wer weiß, was ihr alles durch den Kopf ging. Ich weiß es nicht, fragen konnte ich sie nicht, also müsste ich erfinden, was sie gedacht haben könnte. Aber dann würde ich über mich und nicht über sie schreiben.
Jedenfalls gab sie die Hoffnung schließlich auf. Vielleicht noch nicht ganz, als sie die Brille mit dem Zeigefinger die Nase hochschob, aber dann, die Hand noch in der Luft, rang sie sich dazu durch: »Willst du mit ins Kino?«
Ihre Stimme bebte vor Zorn. Hätte ich nein gesagt, wäre sie auch nicht gegangen, sondern hätte bis tief in die Nacht an der Endabrechnung gearbeitet, dann die Decke über den Kopf gezogen und neben dem Tisch voller Papiere geschlafen. Sie wäre wütend und beleidigt gewesen und hätte am nächsten Morgen Kopfweh gehabt. Aus Rache hätte ich gern gesagt, dass ich nicht mit ihr ins Kino wolle, doch ich sagte es nicht. Der Film interessierte mich. Und mein Zustand konnte sich bis nächstes Wochenende, an dem ich allein ins Kino gekonnt hätte, drastisch verschlimmern.
»Und Veljko?«
»Keine Ahnung. Der hat sich nicht gemeldet.«
Die Frage war eine kleine Rache, wie ein Fingernagel, der die frische Liebeswunde aufkratzen möchte, aber dann doch zurückweicht.
Wir ließen uns den Sepetarevac hinab, Schritt für Schritt, als fielen wir einen Abhang hinunter, auf dem die Erdanziehungskraft ausgesetzt war. Ich breitete die Arme aus und umfing die feuchte Frühlingsluft. Ich umfing die zu der Tages- und Jahreszeit nachtschwarze Dämmerung und spürte deutlicher als je zuvor die allgemeine Leichtigkeit von Entstehen und Vergehen. Wie Gulliver schritt ich aus, rollte förmlich den Berg hinunter, zu beiden Seiten zogen die Fenster der Nachbarn vorbei, wohlbekannte Deckenlampen, einsame nackte Glühbirnen in den Häusern des Unglücks, Dreisitzer, deren Polster mit karierten Decken geschont werden sollten, Wandteppiche, auf denen der schwarze Stein in Mekka zu sehen war, schmiedeeiserne Lüster, grelle Tapetenmuster, beleuchtete Wiegen, Greisengesichter, angestrahlt wie auf Heiligenbildchen, eine aufgeregte Mitvierzigerin, die gerade eine Tablette schluckte, jemands Vater öffnete eine Schranktür über dem laufenden Fernseher, auf dem Bildschirm ein Sportereignis, bei dem immer eine Mannschaft siegt und eine verliert, und das ist unsere; all das und noch viel mehr bot sich meinen Augen dar, wenn ich rechts schaute, wenn ich links schaute, während sich, wenn ich geradeaus schaute und geradeaus ging, vor mir und unter mir die Stadt öffnete wie das Bewusstsein eines eben aus dem Schlaf erwachten Mannes, der noch nicht dazu gekommen war, an ein Unglück zu denken. Deswegen befühlte ich im Gehen, auf der Flucht vor dem vermeintlichen Tod, die geschwollenen Lymphknoten am Hals, schob die Hände unter die Achseln, suchte nach den Verdickungen, genoss angstvoll die unverhofft verkürzte Zeit. Als endigte mit dem Abspann nicht nur der Film.
»Was hast du, was machst du da?«
»Nichts!«, sagte ich und zog den Kopf ein.
Wir standen im Zentrum vor dem Drugstore in der Titova ulica, und das Terrain war wieder flach. Die Welt leistete wieder Widerstand, die Dinge gehorchten wieder dem Gesetz der Gravitation. Sie kaufte im Drugstore Zigaretten, Milde Sorte, ich folgte ihr in den Laden, fasziniert vom Neonlicht der Kühlschränke und Tiefkühltruhen und den langen, kalten, bläulich schimmernden Röhren, die ewiges Leben nach dem Tod verhießen. Durch den Laden schwirrten vom verfrühten Frühling zu früh geweckte Fliegen. Sie inspizierten lieblos auf Styroporschalen in Klarsichtfolie gewickelte Fleischstücke, aber in Frost und Winter landen sie nicht. Die Ärmsten meinen wohl, auf dieser Seite herrsche ewiger Sommer. Ich verhöhnte und bedauerte die Viecher und zweifelte kein bisschen daran, dass ich klüger war als sie.
Vor dem Kino eine Menschenmenge, in der Luft der Geruch von Rasierwassern und schweren Damenparfums, Vorkriegsherren mit grauen Anzügen und Hüten, Damen kramten in Handtaschen, Mutter grüßte einen Bekannten, ich sah Menschen hinter dicken Glasscheiben, sie waren schon drinnen und amüsierten und unterhielten sich, während vor uns noch ein weiter Weg lag, ein ungeordneter Pulk, der sich Richtung Einlass schob, auf zwei muskulöse junge Männer zu, die im Sommer in Zaostrog und Trpanj schwammen und von hohen Felsen sprangen und hier die Eintrittskarten kontrollierten, und es würde dauern, bis wir sie passierten, wir schrieben das Jahr 1978 oder 1979, ein Samstag mitten im Februar, und die Zeit verging noch langsam. Wenn sie nicht hersah – nervös, weil sie im Kino gern geraucht hätte, was natürlich nicht erlaubt war, und darunter litt sie jetzt schon –, tastete ich meinen Hals ab, schob die Hände unters Hemd und von da unter die Achseln, suchte nach neuen Lymphknoten, den Sternenkernen meines baldigen Untergangs, und mir war, als wäre mit diesem Abtasten etwas endgültig ...
Erscheint lt. Verlag | 18.11.2024 |
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Übersetzer | Brigitte Döbert |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Trojica za Kartal |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alltag • Angst • Arbeiter • Belagerung • Bosnienkrieg • Bosnische Umgangssprache • Der rote Jaguar • Dunkelheit • Dževad Karahasan • einfache Leute • Empathie • Ex-Jugoslawien • Flucht • Geschichten • Hass • historische Erzählungen • Hunger • Jugoslawien • Jugoslawien bis 1992 • Kälte • Kriegsliteratur • Menschlichkeit • Milieu • Politische Umstände • Ruth Tannenbaum • Sarajevo • Sarajevo Marlboro • Sarajlier • Schicksale • Solidarität • Tapferkeit • Tod • Trojica za Kartal deutsch • Überleben • Verflechtungen • Zufälle |
ISBN-10 | 3-518-78029-8 / 3518780298 |
ISBN-13 | 978-3-518-78029-9 / 9783518780299 |
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