Gesammelte Werke: Gedichte + Erzählungen + Roman + Dramen + Schriften zu Kunst und Literatur -  Rainer Maria Rilke

Gesammelte Werke: Gedichte + Erzählungen + Roman + Dramen + Schriften zu Kunst und Literatur (eBook)

Poetische Sensibilität und metaphysische Themen: Rilkes literarisches Genie
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
832 Seiten
Good Press (Verlag)
978-65--4779822-8 (ISBN)
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Die 'Gesammelten Werke' von Rainer Maria Rilke präsentieren eine umfassende Sammlung seiner bedeutendsten Gedichte, Erzählungen, Romane, Dramen sowie Schriften zu Kunst und Literatur. Rilkes literarischer Stil zeichnet sich durch seine tiefgreifende Sensibilität, poetische Sprache und metaphysische Themen aus. Sein Werk reflektiert die künstlerische Suche nach Spiritualität und innerer Wahrheit, die ihn zu einem der einflussreichsten Dichter des 20. Jahrhunderts machten. Diese Sammlung bietet Einblicke in Rilkes vielschichtiges Schaffen und literarisches Genie.

(Zweite Fassung des Eingangs)

An einem Herbstabende eines dieser letzten Jahre besuchte Malte Laurids Brigge, ziemlich unerwartet, einen von den wenigen Bekannten, die er in Paris besaß. Es war ein schwerer, feuchter, gleichsam beständig fallender Abend; man fröstelte, ohne daß man eigentlich zu sagen vermochte, wo diese Kälte war; denn die Luft war dunkel und lau. So war es angenehm, die beiden Lehnstühle an das Kaminfeuer zu rücken. Dieses Feuer brannte träge, ohne eigentliche Lust; es legte sich beständig auf dem Holze, hin und erhob sich, wie von innerer Unruhe gezwungen, und versuchte wieder sich auszustrecken und warf sich, halbwach, hin und her. Der Schein des Feuers kam und ging über die Hände Brigges, die mit einer gewissen abgespannten Feierlichkeit nebeneinanderlagen wie die Gestalten eines Königs und seiner Gemahlin auf einer Grabplatte. Und die Bewegung des Scheines schien an diesen ruhenden Händen zu rühren, ja für den, der gegenübersaß und nur diese Hände sah, war es, als arbeiteten sie. Das Gesicht Malte Laurids Brigges aber war weit aus alledem fortgerückt, ins Dunkel hinein, und seine Worte kamen aus unbestimmter Entfernung, als er von sich zu sprechen begann. »Heute«, sagte er langsam, »heute ist es mir klargeworden. Klarheiten kommen so sonderbar; man ist nie vorbereitet auf sie. Sie kommen, während man auf einen Omnibus steigt, während man, die Speisekarte in der Hand, dasitzt, während die Kellnerin nebenan steht und anderswohin schauend wartet–; plötzlich sieht man nichts von alledem, was auf der Karte steht, man denkt gar nicht mehr daran zu essen: denn jetzt ist eine Klarheit gekommen, eben jetzt, während man mit müder, halb gleichgültiger Wichtigkeit die Namen von Speisen las, von Saucen und Gemüsen, eben jetzt ist sie eingetreten, als hätte unsere Seele keine Ahnung davon, womit wir uns in einem bestimmten Augenblicke beschäftigen. Heute kam mir diese Klarheit auf dem Boulevard des Capucines, während ich über den nassen Fahrdamm durch das fortwährende Fahren nach der Rue Richelieu hinüberzukommen versuchte, da, gerade mitten im Übergange, leuchtete es in mir auf und war eine Sekunde so hell, daß ich nicht allein eine sehr entfernte Erinnerung, sondern auch gewisse seltsame Zusammenhänge sah, durch welche eine frühe und scheinbar unwichtige Begebenheit meiner Kindheit mit meinem Leben verbunden ist. Ja es geschah, daß sie sich sogar aus allen anderen Erinnerungen mit einer besonderen Überlegenheit heraushob; es war mir, als wäre in ihr der Schlüssel gewesen für alle ferneren Türen meines Lebens, das Zauberwort für meine verschlossenen Berge, das goldene Horn, auf dessen Ruf hin immer Hülfe kommt. Als wäre mir damals der wichtigste Wink meines Lebens gegeben worden, ein Rat, eine Lehre – und nun ist alles verfehlt, nur weil ich diesen Rat nicht befolgt, weil ich diesen Wink nicht verstanden habe; weil ich nicht gelernt habe, nicht aufzustehen, wenn sie eintreten und vorübergehen, die, welche eigentlich nicht kommen dürften, die Unerklärlichen. Mein Vater hat es noch gekonnt, er kämpfte damit, ich sah, welche Anstrengung es ihn kostete, nicht wieder aufzuspringen, – aber schließlich konnte er es; er blieb bei Tische sitzen, freilich, er hatte auch dann noch nicht die vornehme Gelassenheit meines Großvaters; er konnte niemals essen, während sie vorübergingen; seine Hände zitterten, sein Gesicht verzerrte sich auf eine fremde und fürchterliche Art. Und doch war er ein mächtiger und starker Mann, zu dem die Abenteuer aller Länder kamen wie Frauen oder Tiere, angezogen von seinem Mute, seiner Schönheit und Entschlossenheit.«

Es entstand eine Pause. Der junge Mann, zu dem Brigge gekommen war, wußte, daß dieser möglicherweise nichts weiter sagen würde; und sosehr ihn nach einer Aufklärung und Ergänzung jener schon gesprochenen Worte verlangte, so unterdrückte er doch jede Frage, ja sogar jedes Geräusch. Man könnte sagen, er bemühte sich auch noch den Wunsch nach weiterem, der in ihm heranwuchs, zu vernichten, um seinen Gast in keiner Weise zu beeinflussen und zu stören. Da neigte Malte Laurids Brigge sich nach vorn, sein Gesicht kam in den Feuerschein, wurde hell und dunkel, hell und dunkel, und nun sah der andere dieses Gesicht, wie er es nie zuvor gesehen hatte. Es wurde ihm gezeigt, welche Möglichkeiten in diesem Gesichte lagen: die Masken von sehr viel großen und merkwürdigen Schicksalen; traten aus seinen Formen hervor und sanken wieder zurück in die Tiefe eines unbekannten Lebens. Es waren Züge von Pracht und Aufwand in diesen Masken, aber es kamen, im unabgeschlossenen und schnellen Wechsel ihres Ausdrucks, auch harte, verschlossene, absagende Linien vor; und das alles war so, stark, so zusammengefaßt und bedeutungsvoll, daß der Beschauer fast bestürzt in die Bühne dieses Gesichtes hineinsah, von der er, wie er jetzt begriff, bis zu diesem Tage nur den Vorhang mit seinem immer gleichen Faltenfall gekannt hatte.

In diesem Augenblick sank das Kaminfeuer zusammen, Brigges Mund wurde dunkel, und er sagte: »Zwölf Jahre oder höchstens dreizehn muß ich damals gewesen sein. Mein Vater hatte mich nach Urnekloster mitgenommen. Ich weiß nicht, was ihn veranlaßte, seinen Schwiegervater aufzusuchen; die beiden Männer hatten sich jahrelang, seit dem Tode meiner Mutter nicht gesehen, und mein Vater selbst war noch nie in dem alten Schlosse gewesen, in welches der Graf Brahe sich erst spät zurückgezogen hatte. Ich habe das merkwürdige Haus später nie wiedergesehen, das, als mein Großvater starb, in fremde Hände kam. So wie es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung bewahrt ist, ist es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern nur wie ein Fragment aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut, – die Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich niederließen, und andere kleine rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer kleinen Tür hinausgedrängt wurde, – alles das, ist noch in mir und wird nie auf hören, in mir zu sein. Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen; in jedem meiner Organe ist ein Stück davon, und das größte ist in meinem Herzen. Da ist, so scheint es mir, vollkommen erhalten, jener Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden Abend um sieben Uhr. Ich habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen, ich erinnere nicht einmal, ob er Fenster hatte und wohin sie aussahen; jedesmal, sooft die Familie eintrat, brannten die Kerzen in den schweren Armleuchtern, und man vergaß in einigen Minuten die Tageszeit und alles, was man draußen gesehen hatte. Dieser hohe, wie ich vermute, gewölbte Raum war stärker als alles; er saugte mit seiner dunkelnden Höhe, mit seinen niemals ganz aufgeklärten Ecken alle Bilder aus einem heraus, ohne einem einen bestimmten Ersatz dafür zu geben. Man saß da wie aufgelöst, völlig ohne Willen, ohne Besinnung, ohne Lust und ohne Abwehr. Man war wie eine leere Stelle. Ich erinnere mich, daß dieser vernichtende Zustand mir zuerst fast Übelkeit verursachte, eine Art Seekrankheit, die ich nur dadurch überwand, daß ich mein Bein ausstreckte, bis ich mit dem Fuß das Knie meines Vaters berührte, der mir gegenübersaß. Erst später fiel es mir auf, daß er dieses merkwürdige Benehmen zu begreifen oder doch zu dulden schien, obwohl zwischen uns ein fast kühles Verhältnis bestand, aus dem ein solches Gebaren nicht erklärbar war. Es war indessen jene leise Berührung, welche mir die Kraft gab, die langen Mahlzeiten auszuhalten. Und nach einigen Wochen krampfhaften Ertragens hatte ich, mit der fast unbegrenzten Anpassung des Kindes, mich so sehr an das Unheimliche jener Zusammenkünfte gewöhnt, daß es mich keine Anstrengung mehr kostete, zwei Stunden bei Tische zu sitzen; jetzt vergingen sie sogar verhältnismäßig schnell, weil ich mich damit beschäftigte, die Anwesenden zu beobachten. Mein Großvater nannte es die Familie, und ich hörte auch die anderen diese Bezeichnung gebrauchen, die ganz willkürlich war; denn obwohl diese vier Menschen miteinander in entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen standen, so gehörten sie doch in keiner Weise zusammen. Der Oheim, welcher neben mir saß, war ein alter Mann, dessen hartes und verbranntes Gesicht einige schwarze Flecken zeigte, wie ich erfuhr, die Folgen einer explodierenden Pulverladung; mürrisch und malkontent, wie er war, hatte er als Major seinen Abschied genommen, und nun machte er in einem mir unbekannten Raume des Schlosses alchymistische Versuche, war auch, wie ich die Diener sagen hörte, mit einem Gefangenhause in Verbindung, von wo man ihm ein-oder zweimal jährlich Leichen zusandte, mit denen er sich Tage und Nachte einschloß und die er zerschnitt und auf eine geheimnisvolle Art zubereitete, so daß sie der Verwesung widerstanden. Ihm gegenüber war der Platz des Fräuleins Mathilde Brahe. Es war das eine Person von unbestimmtem Alter, eine entfernte Cousine meiner Mutter, von der nichts bekannt war, als daß sie eine sehr rege Korrespondenz mit einem österreichischen Spiritisten unterhielt, der sich Baron Nolde nannte und dem sie vollkommen ergeben war, so daß sie nicht das geringste unternahm, ohne vorher seine Zustimmung oder vielmehr etwas wie seinen Segen einzuholen. Sie war zu jener Zeit außerordentlich stark, von einer weichen, trägen Fülle, die gleichsam achtlos in ihre losen, hellen Kleider hineingegossen war; ihre Bewegungen wären müde und haltlos, und ihre Augen flossen...

Erscheint lt. Verlag 2.1.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
ISBN-10 65--4779822-4 / 6547798224
ISBN-13 978-65--4779822-8 / 9786547798228
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