Stürzende Feuer (eBook)

Kriminalroman. Ein Martin-Bora-Roman (3)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
448 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31142-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stürzende Feuer -  Ben Pastor
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Im Juli 1944 kehrt Oberstleutnant Martin Bora von der italienischen Front zurück in ein demoralisiertes Berlin. Die ganze Stadt steht unter Anspannung, Kontrollstellen registrieren jede Bewegung, im Hotel Adlon geht die Nazi-Elite ein und aus. Bora wird zur Kripo beordert und erhält einen ungewöhnlichen Auftrag: Er soll den Mord an einem illustren Hellseher aufklären, eine Legende der Zwanzigerjahre. Doch in der Stadt lauert noch weit mehr unter der Oberfläche: Gerüchte einer Verschwörung machen die Runde - eine Verschwörung um Graf von Stauffenberg, gerichtet gegen die höchsten Kreise des NS-Regimes. Bora muss sich entscheiden, auf welcher Seite er steht. Ben Pastor entwirft einen vielschichtigen Kriminalroman um die Tage vor dem Attentat des 20. Juli, in einer Stadt, die am Abgrund taumelt.

Ben Pastor, geboren 1950 in Rom, studierte dort Archäologie und lehrte an verschiedenen Universitäten in den USA, u. a. in Ohio, Illinois und Vermont. Sie lebte über vierzig Jahre in den Staaten, bis sie schließlich in ihr Heimatland zurückkehrte. Sie schreibt historische Romane über das antike Rom und den Zweiten Weltkrieg. 2018 erhielt sie den Premio Internazionale Speciale Flaiano per la Letteratura, 2020 war sie für den Premio Emilio Salgari di Letteratura Avventurosa nominiert.

Ben Pastor, geboren 1950 in Rom, studierte dort Archäologie und lehrte an verschiedenen Universitäten in den USA, u. a. in Ohio, Illinois und Vermont. Sie lebte über vierzig Jahre in den Staaten, bis sie schließlich in ihr Heimatland zurückkehrte. Sie schreibt historische Romane über das antike Rom und den Zweiten Weltkrieg. 2018 erhielt sie den Premio Internazionale Speciale Flaiano per la Letteratura, 2020 war sie für den Premio Emilio Salgari di Letteratura Avventurosa nominiert.

1


Die großen Ereignisse pflegen überraschend zu kommen,
und jede Erwartung bewirkt nur, daß sie zögern.

JOSEPH ROTH, Hotel Savoy

Im Anflug auf den Flugplatz Schönefeld, unweit von Teltow, Montag, 10. Juli 1944, 6.38 Uhr


Die Tinte in seinem Füllfederhalter ging zur Neige. Der letzte Satz in seinem Tagebuch war von einem wässrigen Blau, Bora würde ihn überschreiben müssen, damit er leserlich wurde – sofern er irgendwo Nachschub kaufen konnte. Das Löschpapier war praktisch überflüssig. Er verwendete es als Lesezeichen und legte das Tagebuch auf seinen Knien ab. Er konnte spüren, wie das Flugzeug im Sinkflug durch die Wolkenschichten stieß. Schwerfällig traf der metallene Rumpf auf Luftlöcher und sackte immer wieder durch, um im nächsten Moment erneut Auftrieb zu bekommen. Nun ging das Flugzeug in eine Kurve, richtete sich wohl am Rollfeld aus und gewann noch einmal an Höhe. Im Landeanflug vibrierte die Maschine, die Triebwerke jaulten auf, rumpelnd wurde das Fahrgestell ausgefahren, für einen Moment war der Luftwiderstand spürbar. Dann setzten die Räder mit einem dumpfen Schlag auf grasigem Boden auf.

Bora kam von der Front in Italien und hielt es für einen glücklichen Umstand, dass es keine Fenster gab und er daher keine Ahnung hatte, wie das Gebiet, das sie überflogen hatten, aussah. Natürlich wusste er von den jüngsten Luftangriffen, fand es allerdings durchaus hilfreich, nicht zu sehen, was sie angerichtet hatten. Aus der Luft hatte er also noch nicht mitbekommen, welche Zustände in Berlin herrschten – aber schon bald würde er hinausgehen und sich umsehen müssen.

Während das Flugzeug zum Hangar rollte, las er noch einmal, was er Stunden zuvor rasch in sein Tagebuch notiert hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er noch angenommen, sein Ziel vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen – eine trügerische Hoffnung, wie so viele in diesem Sommer. Da sich feindliche Jagdflugzeuge im Luftraum befanden, musste die Transportmaschine den erstbesten Flugplatz auf deutschem Gebiet für eine Zwischenlandung ansteuern. Und so kam es, dass sie noch immer in der Luft waren, als der Morgen graute.

Eintrag begonnen am 9. Juli auf einem Flugplatz im Norden Italiens, während ich darauf warte, ins Vaterland zu fliegen. Der Anlass ist traurig. Onkel Alfred ist überraschend gestorben. Nina (mit der ich kurz am Telefon gesprochen habe und die ich Gott sei Dank bald sehen werde) hatte zuletzt am Geburtstag meines Stiefvaters im Juni etwas von ihm gehört. Onkel Alfred war sechsundsechzig Jahre alt und, soweit wir wussten, gesund. Er war vollauf mit seiner Klinik beschäftigt, in der man sich um junge Patienten kümmert, die bei Luftangriffen körperliche oder seelische Verletzungen davongetragen haben. Letztere würden seiner Meinung nach länger unter den Folgen zu leiden haben.

Zivilisten und Soldaten verwenden Wörter auf sehr unterschiedliche Weise. Das Adverb »hinterher« versuche ich, so gut es geht, zu vermeiden. Aus Aberglauben? In Stalingrad hat uns einer meiner Kommandeure verboten, in seiner Gegenwart das Wort »morgen« zu benutzen. Wir waren eingekesselt, und schon bald sollten vierundachtzig Prozent von uns dem Feind in die Hände fallen, tot oder als Gefangene – oder verwundet und damit so gut wie tot. Es ist noch keine zwanzig Monate her, dass Oberst von Guzman das Wort »morgen« nicht mehr hören wollte. Man stelle sich einmal vor, welche Wortschöpfungen wir bemühen mussten, wenn wir über den folgenden Tag sprechen wollten. Ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Ob er Ende 1942 wohl auch in den Fleischwolf von Rschew geraten ist? Womöglich schmachtet er in einem sowjetischen Gefangenenlager, wo es tatsächlich kein Morgen gibt, oder – Gott bewahre! – er hat sich denen angeschlossen, die das Vaterland aus Verzweiflung oder aus Feigheit verraten haben, so wie unser Oberbefehlshaber an jener Front? Den Namen dieses Generalfeldmarschalls werde ich gewiss nicht niederschreiben.

Ich jedenfalls werde weiterhin von »morgen« sprechen, auch angesichts der brutalen Wirklichkeit. Ich bin davon überzeugt, dass ein Morgen kommen wird, in welcher Form auch immer. »Die Sonne geht auf«, so steht es beim Prediger Salomo. Ob ich allerdings den Sonnenaufgang erleben werde, ist mir im Moment weniger wichtig als der Hornknopf an meinem Hemdkragen.

Ich muss mich zwingen, meiner Familie zu schreiben (ich bin »der Einzige, der noch übrig ist«, wie mir meine Mutter Nina gern in Erinnerung ruft, ohne dabei vorwurfsvoll zu klingen – ein Jahr und einen Monat nach dem Tod meines Bruders Peter). Wie kann ich Nina oder meinem vierundsiebzig Jahre alten Stiefvater begreiflich machen, dass mich jeder Brief, ob nun von mir geschrieben oder an mich gerichtet, große Mühe kostet, weil Briefe meine Bindung an sie nur noch stärken? Keine Bindungen zu haben, bedeutet frei zu sein, weil man nicht einmal unbedingt Hoffnung haben muss, wenn man allein ist.

PS: Hinzugefügt am nächsten Morgen, 10. Juli, noch unterwegs. Die Tinte wird knapp. Mit Professor Heidegger und Hauptmann Ernst Jünger wechsele ich immer noch gern Briefe. Die Zwiesprache mit ihnen ist vollkommen abstrakt und bei Weitem nicht so schmerzlich. Ich habe sogar einen Brief von meinem Freund Bruno Lattmann bekommen, der schwer verwundet wurde, aber glücklicherweise am Leben ist. Er erholt sich in der Nähe von Berlin, seiner Heimatstadt. Ihn zu sehen (sofern es überhaupt möglich ist), aber vor allem Nina zu sehen, ist gerade jetzt, nach dem Tod eines Familienmitglieds, tröstlich.

»Wir haben es geschafft, Herr Oberst!«, rief ihm der Co-Pilot zu. »Näher an die Stadt heran ging es nicht, für Tempelhof haben wir heute Morgen keine Freigabe bekommen.«

Dass sie auf einer Graspiste gelandet waren, hatte Bora bereits registriert.

»Wo sind wir denn eigentlich?«

»In Schönefeld.«

»Ich hatte angenommen, dass es hier befestigte Landebahnen gäbe.« Aus seiner Haut als Offizier der Abwehr kam er nicht heraus, Fragen zu stellen war Bora zur zweiten Natur geworden. Davon abgesehen war er zeitlich gebunden.

»Es gibt drei. Aber sie sind zu kurz, um darauf zu manövrieren, und Tante Ju muss schließlich auch wieder abheben.«

»Danke.« Das Tagebuch war inzwischen in Boras Aktentasche verschwunden. »Scheint so, als sei ein Sturm im Anzug. Regnet es vielleicht?«

»Nein.«

Der Wagen, der Bora nach Dahlem im Südwesten der Stadt bringen sollte, erwartete ihn vermutlich am Zivilflughafen Tempelhof, der in der Nacht zuvor für seinen Militärflug ausnahmsweise offen gehalten worden war. Die Zeremonie sollte in zwei Stunden beginnen. Die Planänderung gab wenig Anlass zur Hoffnung, dass er sich hier, auf diesem ländlichen Flecken im Südosten des Großraums Berlin, einen Wagen würde beschaffen können, um noch pünktlich dort zu sein. Bora benutzte das Telefon im Kontrollturm, um seine Verspätung anzukündigen, doch es stellte sich heraus, dass der ihm zugewiesene Fahrer Bescheid wusste und bereits Richtung Schönefeld unterwegs war.

Kaiser-Wilhelm-Institut, Dahlem, 8.55 Uhr


Eilig betrat Bora das überfüllte Auditorium der Universität, kurz bevor die Regierungsvertreter hereinkamen. Er konnte gerade noch seine Mutter Nina begrüßen, als sich auch schon alle erheben mussten, weil der Leiter der Partei-Kanzlei erschien. Auf dem Weg ins Gebäude hatte Bora hektisch seine Orden angelegt. In dem Moment hielt ihn jemand auf, der sich als Dr. Olbertz vorstellte – und offensichtlich auf ihn gewartet hatte. Nur einen einzigen Satz hatte er Bora ins Ohr geflüstert, aber den wurde er jetzt nicht mehr los. Angehörige der Wehrmacht und Parteimitglieder zu begrüßen, hier ein Nicken, da ein Händeschütteln, das alles kam ihm nach diesen Worten seltsam und unangebracht vor. Und er stand noch immer unter dem Eindruck, dass sich ein Sturm zusammenbraute: Die Gerüche wurden intensiver und die Farben greller, eine unheilvolle Erwartung lag in der Luft.

Die Kränze mit den Schleifen, die um den Sarg herum aufgestellt waren, verströmten einen fremdartigen Duft, als ob über die Zweige und Blumen, die keinen Eigengeruch hatten, Parfüm versprüht worden wäre, so süßlich, künstlich und kitschig wie Karneval-Konfetti. Boras Platz war in der ersten Reihe, und er war dankbar dafür, hier an der Seite seiner Mutter stehen zu dürfen – jedenfalls mehr als für das Staatsbegräbnis, das zu einem öffentlichen Spektakel geriet. Sie hatte den schwarzen Trauerschleier zurückgeschlagen und verstieß damit gegen die üblichen Gepflogenheiten, wenn nicht sogar gegen die Etikette, indem sie die ruhige Unerschütterlichkeit ihrer Trauer allen Blicken preisgab. Eine typische Nina-Botschaft. Meinen Schneid hab ich von ihr, dachte er. Olbertz’ hastig hervorgestoßene Enthüllung wäre gar nicht nötig gewesen. Die Andeutungen in dem Zeitungsartikel, den er beklommen gelesen hatte, waren Bora nicht entgangen. Die Aufzählung der Trauergäste aus der Partei hatte mehr Platz eingenommen als die Lebensgeschichte des Verstorbenen. Es hatte ihn nicht weiter überrascht, dass Reinhardt-Thomas Adoptivsohn, der seit acht Jahren in Amerika lebte, nicht erwähnt...

Erscheint lt. Verlag 8.7.2024
Übersetzer Hella Reese
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 2. Weltkrieg • Berlin • Deutschland • Italien • Kriminalroman • Nationalsozialismus • Operation Walküre • Stauffenberg • Weimarer Republik
ISBN-10 3-293-31142-3 / 3293311423
ISBN-13 978-3-293-31142-8 / 9783293311428
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