Das Schweigen des Wassers (eBook)
336 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12254-1 (ISBN)
Mecklenburg, Anfang der Neunziger: Hauptkommissar Groth wird nach Jahren im Westen zurück in seine Heimatstadt geschickt. Als Aufbauhelfer Ost soll er Kollegen in westdeutscher Polizeiarbeit schulen. Dabei hat er selbst so seine Schwierigkeiten mit den Vorschriften, seit seine Tochter gestorben ist.
Auf seinen Instinkt kann er sich allerdings noch immer verlassen.
Als die Leiche des Bootsverleihers Siegmar Eck aus dem örtlichen See gefischt wird, weiß Groth, dass das kein Unfall war. Warum sollte ein guter Schwimmer wie Eck im See ertrinken? Und das kurz nachdem er Groth aufgesucht und behauptet hat, er würde verfolgt? Die Kollegen wollen den Fall zu den Akten legen, doch Groth ermittelt weiter. Und stößt dabei auf eine Spur, die ihn zu einer Kellnerin im nahegelegenen Ausflugslokal und zurück zu einem ungelösten Mordfall führt.
Susanne Tägder, geboren 1968 in Heidelberg, hat in Deutschland und den USA studiert und arbeitete danach als Richterin in Karlsruhe. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Schweiz und in Kalifornien. Für ihre literarischen Texte wurde sie u. a. mit dem Walter-Serner Preis und dem Harder Literaturpreis ausgezeichnet. Das Schweigen des Wassers ist ihr erster Kriminalroman.
»Tägders zwischen Poesie und Realismus schwebender Sound kann süchtig machen.« Christian Schröder, Tagesspiegel, 04.03.2024
»Scharfsichtig und spannend bis zum Schluss zeigt Susanne Tägder in ihrem Debütroman ›Das Schweigen des Wassers‹, was geschieht, wenn Menschen um jeden Preis ihre Macht erhalten wollen.«
F.F., Nr. 06/2024, 09. bis 22. März 2024 F.F. (TV Today und TV Spielfilm XXL)
»Diese Autorin ist gekommen, um zu bleiben.« Andreas Pflüger
»Ein Roman von einer ungeheuer subtilen Wucht, der einen einsaugt und nicht mehr loslässt, nicht mal nach der letzten Seite. Susanne Tägder ist eine absolute Entdeckung!« Lucy Fricke
1
Groths neues Büro liegt nach hinten raus, Erdgeschoss, mit Blick auf den Fuhrpark der Polizeiwache Wechtershagen. Er hatte um ein ruhiges Büro gebeten, ein wenig ab vom Schuss, gerne in einer der oberen Etagen, und das genaue Gegenteil erhalten. Direkt vor seinem Fenster parken Einsatzfahrzeuge, Dienstwagen aus DDR-Bestand mit kreisrunden Lautsprechern auf dem Dach, die wie Ohren aussehen. Bei jedem Ausrücken zittert der Stifteköcher auf Groths Schreibtisch.
Das Zimmer ist spärlich möbliert; Schreibtisch, grünes Telefon, Klemmleuchte. Ein Holzstuhl für Besucher, auf dem Groth morgens seine Aktentasche abstellt. Ein Waschbecken mit Spiegel in der Ecke und daneben ein Schrank. Der einzige Wandschmuck ist ein Abreißkalender, der noch immer den Spruch vom 30. September zeigt. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. M. Gorbatschow.
Groth steht am Fenster und kämpft mit der Gardine, die sich im Kippspalt verhakt hat, als er auf der anderen Hofseite den Mann im gelben Hemd sieht. Groth hat ihn schon vor einigen Tagen bemerkt, er erinnert sich genau, da stand der Mann im Schatten der gegenüberliegenden Hauswand rauchend da und schien zu warten. Groth fand das nicht weiter ungewöhnlich, es hätte ja sein können, dass der Unbekannte jemanden begleitet hatte, das kam im Hof einer Polizeiwache häufig vor, aber als Groth an jenem Abend zum Auto ging und im aufflammenden Licht der Hoflampen einen interessierten Blick in seine Richtung warf, da nahm der Mann seinen Rucksack vom Boden auf, duckte sich unter der Schranke durch und verschwand. Er erinnert sich, dass er den Mann in Gedanken als lichtscheu betitelt hatte.
Groth geht zurück zum Schreibtisch und nimmt das Diktiergerät zur Hand. Er hört Gelächter aus dem Nebenraum, Gerda Küttels Schreibmaschinengeklapper im Vorzimmer, dann die Stimme von Bekendorf, seinem Chef, der nach Lübeck pendelt und sich ins Wochenende verabschiedet. Kurz darauf wird im Hof ein Auto angelassen.
Groth seufzt. Er sitzt an seiner Unterrichtsvorbereitung. Bekendorf hat ihm die Fortbildung der Volkspolizisten, Modul Vernehmungslehre, übertragen. Groth ist Aufbauhelfer Ost, als solcher steht er jede Woche vor einer Klasse an der Polizeischule in Pasewalk. Viele der Rekruten sind bereits voll ausgebildete Volkspolizisten, denen das altbekannte Rechtssystem weggebrochen ist, manche so erfahren wie Groth selbst. Dass sie ein Polizeihauptkommissar aus Hamburg unterrichtet, beeindruckt sie wenig. Wenn Groth in die Gesichter schaut, liest er Sorge in den Blicken. Manchmal auch Wut. Wut ist ihm lieber, damit kann er umgehen. Bisher hat niemand mit ihm gesprochen. Sobald die Unterrichtsstunde beendet ist, leert sich der Raum.
»Die kriminalpolizeiliche Vernehmung«, diktiert Groth, »ist eine Mischung aus gezielter Fragetechnik und genauem Zuhören. Besonders Letzteres wird oft vernachlässigt. Das Ungesagte«, diktiert er weiter, dann unterbricht er sich. Er darf nicht philosophisch werden. Die Rekruten haben aufgrund seiner Exkurse bereits einen Spitznamen für ihn, Laberoth, was Groth beinahe originell findet. Ebenso originell findet er, dass man ausgerechnet ihm die Anpassungsfortbildung übertragen hat, denn eigentlich ist es Groth selbst, der einen Neuanfang braucht. Nach der Diagnose, die ihm der Polizeiarzt Dr. Ewald schon vor einem Jahr in Hamburg gestellt hat, schrammte er knapp an der Dienstuntauglichkeit vorbei.
Er spult zurück und beobachtet eine Weile die Blähbewegung der dünnen Gardine im Wind. Sein Hamburger Büro war kaum größer als dieses, noch dazu teilte er es sich mit Geert Lüppert, der schon morgens Fischbrötchen mit Zwiebeln aß, aber es lag im vierten Stock mit Blick über den Hafen. Dieser Blick, so merkt Groth jetzt, hat seinem Leben eine gewisse Weite verliehen. Eine Weite, die er vermisst. Als Groth nach einigen Minuten wieder zur anderen Hofseite hinüberschaut, denkt er im ersten Moment, dass der junge Mann mit dem gelben Hemd verschwunden ist. Aber dann entdeckt er ihn. Der Mann lehnt jetzt keine zehn Meter entfernt an Groths VW Passat.
Groth öffnet den Fensterflügel.
»Kann man was helfen?«, ruft er.
»Möglich«, sagt der Mann.
Er löst sich von der Kühlerhaube, nimmt seinen Rucksack vom Boden und bewegt sich auf Groth zu. Aus der Nähe wirkt der junge Mann mager. Er trägt eine weite Cordhose, die ihm selbst mit Gürtel fast über die Hüften rutscht. Wie alt mag er sein? Um die dreißig vielleicht? Schwer zu schätzen im schwindenden Licht. Das Gesicht des Mannes wirkt grau. Wenn Groth richtig sieht, ist er barfuß, ein Detail, das Groth nicht einzuordnen weiß.
Seine neue Nachbarin aus dem Parterre hat ihm erst kürzlich erzählt, dass es plötzlich Obdachlose gebe in der Stadt. Auch wenn man sich frage, so die Nachbarin, wohin der ganze Wohnraum plötzlich verschwunden sein soll. Groth wusste es auch nicht.
»Das ist eben die Freiheit«, sagte die Nachbarin. »Det hamwa jetzt davon.«
Die Gestalt, die sich seinem Fenster nähert, scheint gegen das feuchtkalte Wetter immun, die Schritte sind lautlos und tastend wie die einer Katze.
Sie stehen sich also mit reichlich Abstand gegenüber. Groth spürt die Herbstkälte, er nimmt wahr, dass ein strenger Körpergeruch ins Zimmer weht. Er versucht, sich nichts anmerken zu lassen, konzentriert sich auf das Gesicht seines Gegenübers.
»Darf man hier rauchen?«, fragt der Barfüßige. Er zieht einen Tabakbeutel aus der Hosentasche.
»Frau Küttel«, ruft Groth ins Nebenzimmer. »Hätten Sie vielleicht einen Aschenbecher für Herrn –«
Groth schaut den Barfüßigen fragend an.
»Eck«, sagt der Mann.
»Für Herrn Eck«, vervollständigt Groth.
Er hört, wie Gerda Küttel nebenan aufsteht und kurz darauf eine Schranktür zufallen lässt. Sie erscheint mit einem Keramikbecher im Büro, geht einige Schritte Richtung Schreibtisch, bevor sie Groth am Fenster entdeckt und im Hof davor den Unbekannten.
»Hier.« Sie reicht Groth eine Tasse, die wie das Töpferstück eines Grundschülers aussieht. Seine Tochter brachte früher solche Stücke aus der Schule mit nach Hause, Tiegel, Becher, Vasen, alle identisch geformt. Groth fragt sich, ob er sie weggeworfen hat. Das sähe ihm ähnlich.
An der Tür dreht sich Gerda Küttel noch einmal um.
»Ich würde dann jetzt ins Wochenende gehen«, sagt sie. Ihr Blick streift den Mann vor dem Fenster. »Oder brauchen Sie mich noch?«
»Nein, das geht in Ordnung«, sagt Groth. »Bis Montag.«
Er kann spüren, dass Gerda Küttel etwas auf der Zunge liegt, etwas über diesen ungewaschenen Gast, den er, Groth, auch noch mit einem Aschenbecher bedient. Sie ist ohnehin der Meinung, dass Kommissar Groth sich zu schnell um den Finger wickeln lässt.
Während Eck sich am Fensterbrett einrichtet und seine Zigarette dreht, überlegt Groth, wie er ihn abwimmeln kann.
Dieser Eck wirkt schreckhaft. Das dünne Blättchen, das er mit Tabak befüllt, zittert zwischen seinen Fingern. Außerdem kann Groth in dem Geruch, den Eck verströmt, eine Schnapsfahne ausmachen.
»Das da ist Ihr Auto, oder?«, fragt Eck. Er zeigt mit dem Kinn auf Groths Passat.
»Stimmt«, sagt Groth.
»Sie sind aus dem Westen«, sagt Eck.
Groth ist sich nicht sicher, ob das eine Frage ist.
»Aus Hamburg.«
»Freiwillig?«, fragt Eck.
Groth hört die Frage, er hört den Unterton und muss sich anstrengen, die Leichtigkeit in der Stimme zu behalten.
»Freiwillig«, antwortet er.
Es ist gelogen. Jo Allers, sein Vorgesetzter in Hamburg, hat ihn überredet, es doch mal im Osten zu versuchen.
»Die suchen erfahrene Kollegen wie dich«, sagte Allers. »Kein Mensch kennt sich da drüben mit dem neuen Rechtssystem aus.«
Als Groth schwieg, fügte Allers hinzu: »Kann ein echtes Sprungbrett sein, Arno.«
»Warum gehst du dann nicht selbst hin?«, hatte Groth gefragt. Aber der Stachel saß bereits in seinem Fleisch. Groth stammt aus Wechtershagen. Er hat hier Wurzeln. Und nach allem, was vorgefallen ist, läuft er in Hamburg als Altlast. Da macht er sich nichts vor.
Eck scheint mit Groths Antwort zufrieden zu sein. Er entzündet die Zigarette hinter der gewölbten Hand. Dabei kneift er die Augen zusammen, als müsse er sich konzentrieren.
»Jemand ist hinter mir her«, sagt Eck jetzt.
Groth horcht auf.
Eck steht so nah am Fenster, dass das Licht aus Groths Büro auf seinen Oberkörper fällt. Groths Blick folgt Ecks Hand, mit der er die Zigarette zum Aschenbecher führt, er betrachtet die blonden Härchen auf Ecks Unterarm und fragt sich, wie viel von dem Teint Sonnenbräune ist und wie viel Schmutz.
»Wer ist hinter Ihnen her?«, fragt Groth.
»Jemand, den ich von früher kenne.«
»Und was will derjenige von Ihnen?«
Eck zuckt mit den Schultern.
»Mein Leben.«
»Ihr Leben?« Die Rückfrage gerät Groth ein wenig zu laut.
»Sie glauben mir nicht.«
Groth bemüht sich, ein ernstes Gesicht zu machen. Er hat es im Lauf seiner Dienstjahre mehrfach mit Verfolgungswahn zu tun gehabt und weiß, dass er seine Worte vorsichtig setzen muss.
»Ich glaube, dass es viele Gründe gibt, warum man sich verfolgt fühlt. Die meisten sind harmlos. Haben Sie denn Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr?«
Eck scheint zu überlegen.
»Man hat mir ein Boot geklaut.«
Groth sieht ihn ratlos an.
»Ein Boot?«
»Tretboot.«
»Sie besitzen ein Tretboot?« Was für eine seltsame Geschichte, die ihm da aufgetischt wird, denkt Groth.
Eck hält seine Zigarette wie einen Nagel beim Einschlagen zwischen Daumen und Zeigefinger und nimmt einen tiefen Zug. Eine Antwort auf seine Frage erhält Groth...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2024 |
---|---|
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller | |
Schlagworte | Andreas Pflüger • Aufbauhelfer Ost • Autorin • bester deutscher Krimi • Buch • DDR • Die Toten von Marnow • Ferdinand von Schirach • historischer Krimi • Juli Zeh • Justiz • Korruption • Krimibestenliste • Kriminalroman • Lucy Fricke • Macht • Mord • Mordfall • neue krimis 2024 • Neuer Krimi 2024 • neuerscheinung 2024 • Neue Spannung 2024 • ostdeutsch • Ostdeutschland • politisch • Polizei • Polizeiarbeit • Provinz • Provinzkrimi • Regiokrimi • regional • Regionalkrimi • Richterin • spannend • Tatort • Westdeutsch |
ISBN-10 | 3-608-12254-0 / 3608122540 |
ISBN-13 | 978-3-608-12254-1 / 9783608122541 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 3,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich