Das erste Licht des Sommers -  Daniela Raimondi

Das erste Licht des Sommers (eBook)

Roman | Der Buchhandelsliebling aus Italien: Ein Familienepos, farbenfroh und mitreißend erzählt!
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3229-1 (ISBN)
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Wie retten wir die, die wir lieben? Drei Generationen von Frauen und drei Freundschaften, deren Standhaftigkeit auf die Probe gestellt wird: Norma wächst in einem lieblosen Haushalt auf, und ihr großer Trost ist die enge Beziehung zu ihrer Cousine Donata, die gleichzeitig ihre beste Freundin ist. Als Norma in ihren Zwanzigern in London lebt, trifft sie die Nachricht vom Tod ihrer Freundin völlig unvorbereitet. Nur Elia, ihre große Liebe aus Kindertagen, fängt sie auf. Die beiden heiraten, doch das Glück hat keinen Bestand: Norma begreift, dass Elia sie in den Flitterwochen betrogen hat. Und das Kind, das aus dieser Liaison entsteht, wird auch Normas Leben von Grund auf verändern ...   Der große Publikumsliebling aus Italien, endlich auf Deutsch. 

Daniela Raimondi wurde in der Lombardei geboren und verbrachte den größten Teil ihres Lebens in England. Sie hat zehn Gedichtbände veröffentlicht, die mit wichtigen nationalen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden. Ihr Romandebüt An den Ufern von Stellata hat es auf Anhieb auf die italienische Bestsellerliste geschafft und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt.

~ 1947 ~


Und wenn ich es nicht schaffe, sie gernzuhaben?, fragte sich Elsa, kaum dass man ihr die Tochter in die Arme gelegt hatte, und sie schämte sich sogleich für den Gedanken. Anders als sie stolz zu machen, versetzte die Geburt ihrer Tochter sie urplötzlich zurück in die bitteren Zeiten ihrer Kindheit, als sie, statt wie ihre Schulkameradinnen Seil zu springen oder auf dem Hof Himmel und Hölle zu spielen, mit ihrem kleinen Bruder auf der Hüfte spazieren gegangen war oder seine schmutzigen Stoffwindeln am Ufer des Flusses Po ausgewaschen hatte. Jedes Mal, wenn ihre Mutter wieder ein Kind gebar, hoffte Elsa, dass es das letzte sein würde, doch immer sagte ihr dann eine Nachbarin, mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen: »Ich habe gehört, deine Mama hat dir schon wieder das Kleidchen kürzer gemacht!« Eine Redewendung, mit der man in ihrer Gegend eine Schwangerschaft zum Ausdruck brachte. Elsa, die als Kind vom Lande wusste, wie Tiere sich paarten, glaubte sowieso nicht mehr an den Klapperstorch. Wenn jemand so etwas sagte, lief sie deshalb rot an und rannte in die Flussauen, um vor Enttäuschung und Scham zu weinen. Ja, sie schämte sich, denn in ihren Augen war ihre Mutter eine alte Frau, und ganz gewiss machte man solche Dinge im Alter nicht mehr.

Kaum war sie zwanzig Jahre alt, hatte Elsa festgestellt, dass auch sie schwanger war, nicht nur im selben Alter wie damals ihre Mutter mit ihr – sie war auch noch unverheiratet. Jetzt war die Scham doppelt so groß, denn damals war es eine große Schande, wenn ein Mädchen ein Kind erwartete, ohne einen Ehering am Finger zu haben.

Es war eines Abends im Juni passiert. Sie und Guido waren tanzen gewesen und hatten danach in einem Feld in der Nähe des Flusses ein Päuschen eingelegt. Die Luft war lau und warm, und über ihnen hing ein tiefer, runder Mond. Guido hatte sie gefragt, ob es ein sicherer Tag in ihrem Zyklus sei, und unter dem einen oder anderen Seufzer hatte sie bejaht.

Als ihr allerletztes Geschwisterchen auf die Welt gekommen war, hatte das Mädchen mitangehört, wie der Arzt ihrer Mutter erklärt hatte: »Du musst einfach nur mitrechnen, und in der Woche in der Mitte des Zyklus sagst du zu deinem Mann, er soll sich im Bett umdrehen und dich in Ruhe lassen.« Elsa hatte sofort begriffen, was er meinte, und seinen Rat auch selbst befolgt. Doch an jenem Abend machte sie, benommen von den Küssen und Zärtlichkeiten, einen Rechenfehler. Kaum war sie wieder zu Hause, warf sie einen Blick auf den Kalender, rechnete nach und bemerkte voller Bestürzung ihren Irrtum. Schon an jenem Abend schien ihr, sie könnte dieses winzige Wesen in sich spüren: ein leises Glucksen, eine kleine Laune der Natur in den Tiefen ihres Fleisches. Sie hielt den Atem an und lauschte, voller Vorfreude und ebenso voller Angst, jener Stille, die kaum länger war als die Spanne
zwischen einem bum
und dem anderen bum
ihres Herzens.

In jener Nacht träumte Elsa von einem blauen Wald, von einer Wiese voller Glühwürmchen, vom Sirren eines Kolibris.

Einen Monat später hatte sie Guido verkündet, dass sie schwanger war. Ihn schien es zu freuen, auch wenn sie beide erst zwanzig Jahre alt waren oder vielleicht gerade deshalb.

Am 27. September 1946 hatten sie geheiratet. Elsa, in einem perlgrauen Kostüm und mit einem Hütchen mit Schleier, küsste die Gäste, lachte und weinte vor Freude, doch der Traum währte nur kurz. Kaum war sie Mutter geworden, schien es ihr, als hätte sie nur ein weiteres Geschwisterchen bekommen, um das sie sich kümmern musste. Nur dass es diesmal noch schlimmer war, denn ihr kleines Mädchen musste auch gestillt werden, und das tat mit den entzündeten Brustwarzen höllisch weh. Außerdem hatte Norma nachts oft Koliken und weinte stundenlang. Kaum hatte sich ihre Brust an den groben Vorgang des Stillens gewöhnt und das Bauchweh ihrer Tochter aufgehört, bekam Norma Zähne. Und als sie erst einmal anfing zu laufen, war sie im Haus kaum mehr zu bremsen; sie machte Schubladen auf, zog an der Tischdecke des gedeckten Tisches, krabbelte auf allen vieren die Treppe auf und ab. Ein Albtraum! Manchmal war Elsa so erschöpft, dass sie sie machen ließ. Sie beschränkte sich dann darauf, sie zu beobachten und dabei kreuzunglücklich zu sein. Je mehr sie die Kleine betrachtete, desto fremder kam sie ihr vor, und sie fragte sich, ob dieses kleine Wesen wirklich in ihrem Bauch herangewachsen war.

Das war nicht die Ehe, von der sie geträumt hatte. Sie wünschte sich ein bisschen Freiheit, wollte an Guidos Seite leben, einfach frisch verheiratet sein, doch dazu war keine Zeit geblieben. Nach der Trauung war das Paar nach Caposotto di Sermide gezogen, ins Flachland von Mantua. Sie hatten zwei Zimmer an der Via San Giovanni gemietet, in einem alten Gebäude, das zwar langsam am Zerbröckeln war, von den Menschen im Dorf jedoch wegen seiner gewaltigen Ausmaße großspurig al palás, der Palast, genannt wurde. Das Haus war heruntergekommen, doch der Jasmin, der um das Eingangstor wucherte, erfüllte den ganzen Hof mit seinem Duft.

Zena, Elsas Freundin seit Kindertagen, lebte mit ihrem Mann Dolfo zwei Häuser weiter. Dolfo war Guidos Zwillingsbruder, auch wenn sich die beiden überhaupt nicht ähnlich sahen: Ersterer war kräftig gebaut und ein Draufgänger, Letzterer mager und schüchtern. Während Dolfo gerne und viel redete, war Guido eher der schweigsame Typ. Ihre Mutter Neve erzählte, er habe bis zum dritten Lebensjahr kein einziges Wort gesagt. Nicht, dass er es nicht gekonnt hätte; er überließ das Reden einfach lieber seinem Bruder.

Elsa und Zena hatten die Zwillingsbrüder am selben Abend beim Tanzen kennengelernt. Ein Jahr später waren beide Pärchen verheiratet, und so kam es, dass die beiden Freundinnen auch zur gleichen Zeit ihre Kinder zur Welt brachten. Alle waren jung und verliebt, doch das Kriegsende lag noch nicht lange zurück, und das Leben war alles andere als leicht. Guido und Dolfo verdienten ihr Geld mit Feldarbeit, und wenn sie Glück hatten, wurden sie als Saisonarbeiter in der Zuckerfabrik von Sermide angestellt, doch die Hälfte des Jahres waren die Kassen der beiden jungen Paare gähnend leer.

Seit ihrer Jugendzeit verbrachten Elsa und Zena den Frühsommer in den Reisfeldern von Piemont, bei der sogenannten stagione della monda: anderthalb Monate harte Arbeit des Jätens und Pflanzens, von der sie jedoch immerhin ein Kilo Reis pro Arbeitstag und ein schönes Geldsümmchen, im BH versteckt, nach Hause brachten. Im Abstand von nur wenigen Monaten waren die Freundinnen nach ihren Hochzeiten Mütter geworden und dachten, damit könnten sie die Schufterei in den Reisfeldern hinter sich lassen. Doch das Geld war immer zu knapp, und kaum waren ihre Töchter entwöhnt, sahen sich beide gezwungen, wieder für die Arbeit in den Norden zu reisen.

Es war das Frühjahr 1949, und Zena brach es schier das Herz, als sie ihre kleine Tochter, die tonda e ciara cme un ninín, pummelig und rosa wie ein Schweinchen war, bei ihrer Mutter ließ. Für Elsa hingegen war der Aufbruch nach Piemont fast wie Urlaub: Ja, die Arbeit war anstrengend, doch vermochte sie nachts wenigstens acht Stunden am Stück zu schlafen, etwas, an das sie sich kaum mehr erinnern konnte.

Die beiden Frauen machten sich am letzten Sonntag des Mai vor Sonnenaufgang auf den Weg. Guido und Dolfo brachten sie auf den Fahrrädern zum Bahnhof. Still saßen die Frauen quer auf der Stange des Drahtesels und spürten den Atem ihrer Ehemänner wie eine warme Brise in ihrem Nacken. Der Himmel war schwarz, die Luft prickelnd frisch. Einer hinter dem anderen stiegen die Brüder in die Pedale, die Straße war von den wenigen Laternen schwach beleuchtet. Nur in den Ställen, mitten in den Feldern, brannte bereits Licht. Dort hatten die Bauern schon ausgemistet und machten sich ans Melken.

Als sie den Bahnhof von Sermide erreicht hatten, küssten Guido und Dolfo ihre Frauen zum Abschied, wegen der Leute jedoch nur auf die Wange.

»Setz der Kleinen immer ein Hütchen auf, und lass sie nie in die Sonne«, bat Elsa.

»Aber schreib mir, Dolfo. Denk daran, dass ich mindestens alle zwei Tage einen Brief haben will«, mahnte Zena, die einen Kloß im Hals hatte.

»Na los, der Zug wartet nicht«, unterbrach Guido sie.

Elsa setzte sich in Bewegung, doch Zena zog Dolfo rasch in eine Ecke, und sie begannen, sich zu küssen.

»Zena, komm schon, es ist Zeit!«, rügte ihre Schwägerin mit leiser Stimme.

Doch die ließ auf sich warten, bis sie schließlich laufen mussten, um den Zug nicht zu verpassen.

Als die beiden einstiegen, war bereits alles voll besetzt. Das Gefährt Zug zu nennen, war eigentlich übertrieben, vielmehr handelte es sich um einen Waggon, eher dafür ausgelegt, Vieh statt Menschen zu transportieren. Die beiden Schwägerinnen fanden nur noch einen Platz direkt neben dem Klo.

»Puh, das stinkt aber«, jammerte Zena jedes Mal, wenn jemand die Tür öffnete.

»Das hast du nun davon, so viel Zeit zu verplempern, weil du deinen Mann knutschen musst«, nörgelte Elsa.

Kaum hatten sie den Bahnhof verlassen, begannen einige der Frauen zu singen.

Si lasciava il moroso, lo sposo, un saluto, un bacio, un sorriso
per riportare...

Erscheint lt. Verlag 27.6.2024
Übersetzer Judith Schwaab
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-8437-3229-9 / 3843732299
ISBN-13 978-3-8437-3229-1 / 9783843732291
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