PYROGLYPHEN -  Katja A. Freese

PYROGLYPHEN (eBook)

oder die Kunst ein Feuer zu lesen
eBook Download: EPUB
2024 | 11. Auflage
485 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-2934-4 (ISBN)
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ZWEI EPOCHEN - EIN VERHÄNGNIS Archäologiestudent Morrison lädt drei Gäste auf das Anwesen seiner Familie in Hampshire ein. Sie ahnen nicht, dass er die dunkelste Nacht seines Lebens zu vergessen sucht. Auf Llewellyn Hall wird Morrison unerwartet mit dem pyromanisch veranlagten Remington und seiner Vergangenheit konfrontiert. Als ebenso verhängnisvoll erweist sich der Fund eines Briefes in der Bibliothek des Hauses. Das Schreiben aus dem 18. Jahrhundert offenbart den Skandal um einen leeren Sarg. Wohin verschwand Fairleigh Llewellyn 1799? Wieso behauptet zweihundert Jahre später ein Dieb, Llewellyn selbst zu sein? Morrison erforscht das Leben seines Ahnherrn und folgt ihm tief hinab in eine Welt aus Lügen und gefährlichen Obsessionen. Die Entdeckungen drohen, sein eigenes Geheimnis bloßzulegen. Ein Spiel mit dem Feuer beginnt.

Katja A. Freese ist Schriftstellerin, Sängerin und philosophische Spaziergängerin im Ruhrgebiet - zudem ist sie ständig (mit und ohne Kamera) auf der Suche nach Wahrheit, Schönheit und dem Zen des Lebens. Ihr erster Roman 'Der Rückwärtsleser' ist im Govinda Verlag, Zürich erschienen, der zweite 'Noch tausend Schritte bis Jerusalem' bei neopubli.

Kapitel eins


– 1998­ –


Es ist ganz unvermutet geschehen, hätte ich vor einem Jahr behauptet. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist es mir, als wäre die Wahrscheinlichkeit immer in unserer Mitte gewesen. Ashton, Remington und ich waren achtlos auf die Katastrophe zugegangen. Nicht, dass dieses Drama in jener Novembernacht hatte passieren müssen, dennoch war die Auswirkung so, als hätte mir schon vorher jemand davon erzählt.

Manchmal gibt es Symbole, die einen Menschen verraten, so wie es bei mir das A und die 3 tun. Ich bin A. Morrison Arkwright und mein Verhängnis ist die Drei. Wofür das A steht? Es steht für einen Namen, mit dem ich niemals gerufen worden bin und den ich doch vergessen will.

Vielleicht reicht es nicht, mich nur mit meinen Erkennungszeichen vorzustellen, ich könnte von dem fraglichen Glück erzählen, einer privilegierten Familie anzugehören. Das Ergebnis ihrer Mühen sind aufschlussreiche physische Anlagen und eine Ziellosigkeit hinsichtlich meiner Zukunft. Was ich nicht schon alles werden wollte­ ... Rockstar, Karate-Trainer und verkannter Regisseur. Und was ich seither nicht alles begonnen habe­ ... Erst einmal­ – zur allgemeinen Befriedigung­ – ein Jurastudium. Es erwies sich als unpassend.

„Niemand verlangt, dass dich dein Studium mit Leidenschaft erfüllt!“, lamentierte Vater Arlyn, als wir in der Bibliothek meines Londoner Elternhauses standen. Gewichtige Gespräche wurden immer in diesem Raum abgehandelt. Von Kindesbeinen an hieß es „Morrison, in die Bibliothek!“ oder es war nur der Wink mit Arlyns rechter Hand, wie eine Ohrfeige in die Luft.

„Zu welchem Fach wirst du wechseln? Nach Möglichkeit zu keinem, das mir eine Herzattacke beschert. Und lass dir die Haare schneiden, Junge!“

„Arlyn“, mahnte Mama Fiona. Sie saß am Fenster in der Sonne und arrangierte ein Blumengesteck; die Teerosen reihten sich aufrecht wie Debütantinnen in einer Kristallvase, ihr Duft hing blassrosa in der Luft. Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte Fiona zu.

Eine der Teerosen widersetzte sich dem Gleichmaß und bog ihren Hals zur polierten Tischplatte, als wollte sie ihr Spiegelbild betrachten. Fiona zog sie aus der Vase und sagte lächelnd: „Sicherlich hast du dich für etwas anderes Akzeptables entschieden. Nicht wahr, Darling?“

Hatte ich das? Davon wusste ich ja gar nichts.

„Aber natürlich.“ Meine Augen irrten diskret hysterisch über die Regalwand hinter Arlyn. Schimmernde Lettern auf blauem Grund zogen meinen Blick zu B wie Balzac. Glanz und Elend der Kurtisanen. War dies eine göttliche Anspielung auf eine Karriere im Prostitutionswesen?

„Nun, Junge?“

Ich schwitze und machte einige Schritte in die andere Richtung des Alphabets. Tolstoi.

„Es hat etwas mit Auferstehung zu tun“, sagte ich.

„Wie bitte?“, fragten beide Elternteile gleichzeitig. Fiona erhob sich und stellte sich neben meinen Vater. Sie gaben ein ansehnliches Paar ab: Sie war zart und silberblond und er imposant mit dem gleichen schwarzen Haarschopf wie ich. Sie glichen sich beide in ihrer tadellosen Contenance.

„Was soll das heißen, Morrison? Theologie?“, fragte Arlyn und runzelte die Stirn.

Nein! Keine Theologie!“ Erschüttert starrte ich auf das Sonnenquadrat, das meine Eltern mit goldenem Staub beleuchtete. „Ich meine selbstverständlich Auferstehung im übertragenen Sinne.“ Auf diesen Satz hin waren im Raum drei verständnislose Gesichter zu bemerken: Arlyns, Fionas und meines.

„Seht ihr, Auferstehung ist weit mehr, als man glaubt! Durch die Auferstehung wird der Mensch zurück ins Leben gerufen. Man kann ihn vom Tod heilen­ ...“ Ich hielt inne und spuckte das Wort „Heilen!“ noch einmal aus. Ich lächelte die beiden verstörten Menschen an und sagte: „Ich werde Medizin studieren!“

Für sieben Monate hielt ich das Studium sogar durch und war mit meinem Dasein einigermaßen zufrieden. Bis zu der Nacht im Novemberdunkel. Wie ein Untier zerriss sie mein Leben, und alles, was bis dahin von Bedeutung gewesen war, zerfiel zu Vergangenheit. Ich will diese grausamen Stunden nicht wieder heraufbeschwören, sie haben nicht viel von mir übrig gelassen.

Mit Beginn des Jahres wurde es nicht besser, und doch musste ich anfangen, meinen Alptraum zu akzeptieren, um zumindest einen Teil von mir zu retten.

Zunächst suchte ich meine Eltern auf. Wir versammelten uns wieder in der Bibliothek, und der Regen klatschte gegen die Fensterfront. Die ernste Stimmung hing wie kalter Rauch über unserem Familientreffen.

„Ich höre mit dem Studium auf. Ich kann gegen meinen Leichenwiderwillen nichts tun“, teilte ich ihnen mit.

Mama Fiona mit ihrem sensiblen Gemüt verstand es durchaus, aber Vater Arlyn empfand es als unsportlich.

„Außerdem werde ich England für eine Weile verlassen.“

Dass ich Arlyns aufkommende Maßregelung mit einem einzigen Blick stoppen konnte, empfand ich als äußerst sportlich.

Wo ich hinging, war fast egal, nur dass ich es tat, war ausschlaggebend. Da ich die deutsche Sprache durch verwandtschaftliche Einflüsse gut beherrschte, siedelte ich kurz darauf nach Berlin um. Ich fand ein Zimmer bei Theodor Jordes­ – einem hochgewachsenen Archäologiestudenten mit zweifach gebrochener Nase und einer Unbekümmertheit, die auch ich mal besessen hatte. Ich nannte ihn Terry und wurde für ein halbes Jahr sein Mitbewohner. Die relevanten Teile meiner Vergangenheit verschwieg ich und versuchte, mich innerhalb dieser Vorkehrungen auszunüchtern.

Nahezu direkt schloss ich mich Terrys Beispiel an und nahm ein Archäologiestudium auf. Die Kurse waren arbeitsintensiv und die Exkursionen ereignislos. Deshalb verscharrten Terry und ich Trödelstücke für unsere Mitstreiter im Boden, um etwas mehr Kurzweil zu erzeugen. Terry vertraute mir an, dass er diese Ausflüge nur durchhielt, weil er auf den ganz großen Fund hoffe.

Musste man dafür wirklich so tief im Dreck wühlen? Dass es angenehmer ging, stellten wir etwa fünf Monate später, nach meiner Rückkehr in die Heimat, fest. Die Entdeckung, die wir in Hampshire machten, war so skandalös wie verhängnisvoll; ihr Radius erwies sich als groß genug, um selbst mich zu umfassen. Ich war gezwungen, mich an alles Dunkel zu erinnern.

Am 11. Oktober war es bereits am Nachmittag dämmerig. Mit jammernden Scheibenwischern brach ich vom Flughafen auf, um mit meinem Ford über den M3 von London Richtung Westen zu kriechen. „Drivers on the storm“, murmelte ich, während der Herbstregen das Dach mit dem Klang rastloser Warnungen traktierte.

Ich schaute immer wieder nervös in den Rückspiegel auf mein Motorrad, es trieb in Begleitung von Terry wie ein Unterseeboot durch die Nässe. Mit einem Seitenblick vergewisserte ich mich, dass ich nicht doch allein im Auto saß. Wie in der halben Stunde zuvor verstieß meine Beifahrerin Zoe gegen die Regeln der leichten Konversation und genoss den Anblick einer graugeregneten Fensterscheibe.

„Uh, Terry experimentiert ganz schön mit den Verkehrsregeln“, wandte ich mich auf Deutsch an sie, und für einen Moment ließ Zoe etwas mehr von sich sehen als einen Haarvorhang. „Ob dein Cousin sich vorgenommen hat, sämtliche Autofahrer um ihr emotionales Gleichgewicht zu bringen?“

Zoe honorierte meinen neuerlichen Gesprächsversuch mit einem Schulterzucken, und ich gab mich geschlagen. Dieses unerwartete Schweigen verdichtete meine Unruhe; sie hatte am Morgen als Übelkeit eingesetzt und mich wie ein schlechtes Omen den Tag über verfolgt. Ich stellte das Radio an und überließ es der BBC, für Ablenkung zu sorgen.

In Hampshire wurden die Regenfäden dünner, nur in der Ferne flackerten Blitze durch die finsteren Wolken. Gegen sieben Uhr abends hielt ich an Llewellyn Halls Eingangstor mit dem interessantesten Gefühl im Magen, zu dem dieser imstande war. Der Ort war eigenwillig und doch vertraut; bis vor einem Jahr war ich oft mit Freunden hergefahren, möglicherweise hatte ich deshalb vor, ihn für die Wiederannäherung an mein eigenes Leben zu nutzen.

Ich stieg aus dem Wagen, um das hohe Eisentor zu öffnen; die Flügel glitten bereitwillig auseinander. Seltsam angespannt fuhr ich auf das Grundstück. Das Scheinwerferlicht streckte sich in die feuchte Dunkelheit, kam jedoch immer nur einige Meter weit, ehe es gegen einen der Buchenstämme stieß.

Der Asphaltweg schnitt in vielen Kurven durch das herbstliche Braun und erlaubte noch keinen Blick auf das Herrenhaus. Die Statuen am Wegesrand leuchteten fahl auf. Als Anubis auf der rechten Seite­ – halb verdeckt von einem Rhododendron­ – zu sehen war, wusste ich, dass es sich um die letzte Kurve handelte, bevor das Haus erschien. Llewellyn Hall war imposant genug, um zu imponieren, und dennoch bescheiden genug, um nicht protzig zu wirken.

Die Außenbeleuchtung sprang bei unserer Ankunft nicht an, aber das Wagenlicht ließ zumindest erkennen, dass dem Gebäude verträumte Zinnen und Türmchen fehlten. Eine steinerne Girlande rankte sich über die Fassade, blieb allerdings im Dunkeln; auf ihr wechselten Fratzen, Engelslächeln, Flügel und Flammen einander ab.

Terry verharrte auf meinem Motorrad und bestaunte die Phönixstatue neben sich. Ich verließ den Wagen und öffnete Zoe die klemmende Beifahrertür. Sie nahm ihren Trekking-Rucksack entgegen und schaute lange an Llewellyn Halls Mauern empor, so als versuchte sie, die Stärke ihres Gegenübers...

Erscheint lt. Verlag 18.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
ISBN-10 3-7598-2934-1 / 3759829341
ISBN-13 978-3-7598-2934-4 / 9783759829344
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