Seeraum -  Adam Nicolson

Seeraum (eBook)

Ein schottisches Inselleben
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
382 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0083-9 (ISBN)
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An seinem einundzwanzigsten Geburtstag erhält Adam Nicolson von seinem Vater, dem Sohn von Vita Sackville-West und Sir Harold Nicolson, eine kleine schottische Inselgruppe: die Shiants. Gelegen an den äußeren Hebriden fallen ihre steilen schwarzen Klippen fünfhundert Meter tief in den kalten, nach mystischen, halb menschlichen Kreaturen benannten »Strom der Blauen Männer«. Robben tummeln sich an ihren Ufern. Hummer suchen sich ihren Weg durch Steine und Tang. Und am Himmel drehen Tausende von Papageientauchern ihre Runden. Auf diesen Inseln mit ihrer jahrhundertealten Vergangenheit, die von ruhelosen Geistern und Geschichten über alte Schätze heimgesucht werden, bietet sich Nicolson ein Ort der Zuflucht und der Einsamkeit. Sie werden ihm zur Heimat und offenbaren ihm »das Freiheitsgefühl, das einen auf einer wasserumtosten Insel durchflutet«. In leidenschaftlicher, zum Funkeln gebrachter Sprache zelebriert Seeraum die Landschaft dieses windgepeitschten, bezaubernd schönen Anwesens und teilt mit uns die Wunder der natürlichen Welt in all ihren Facetten und Paradoxien.

Adam Nicolson, 1957 in Bransgore, UK, geboren, ist ein vielfach ausgezeichneter Autor zahlreicher Bücher über Geschichte, Natur und Landschaft. Er ist Preisträger des Ondaatje Prize der Royal Society of Literature, des Somerset Maugham Award, des British Topography Prize und des renommierten Wainwright Prize for Nature Writing.

KAPITEL 1


In den vergangenen zwanzig Jahren gehörten mir ein paar Inseln. Sie heißen Shiants: eine unzweideutige, sanft gerundete Silbe, »the Shant Isles«, wie ein um das y beraubtes Shanty. Für die Welt im Allgemeinen sind sie keine große Sache. Auf einer Karte von den Hebriden würde schon die Kuppe eines kleinen Fingers reichen, um sie zu verdecken, und wenn ihre zweihundertzwanzig Hektar Gras und Felsen als ein unscheinbares Stück Moor mit ein paar weidenden Schafen in der Tiefe des schottischen Festlands begraben wären, hätte ihnen wohl kaum jemand auch nur die geringste Beachtung geschenkt. Doch die Shiants sind ganz anders. Keineswegs sind sie klein und unbedeutend. Etwa sieben Kilometer vor der Küste von Lewis ragen sie hoch und unübersehbar auf, umgeben von den in der Meerenge des Minch herrschenden Rippströmen. Ihre schwarzen, hundertfünfzig Meter hohen Klippen fallen ab in eine kalte, minzgrüne See, Robben faulenzen an ihren Ufern, Hummer suchen sich ihren Weg durch Steine und Tang und über den Felsen drehen Tausende und Abertausende Seevögel ihre Runden.

Im Sommer steht das Gras auf den Anhöhen über den Klippen voller Blumen: Moorlilie und Zarter Gauchheil, vielblütige Orchideen, die Sterne von Dilledapp und Kreuzblume. »Großen Überfluss von Wachstum darf man in dergleichen Himmelsstrichen nicht erwarten«, schrieb Dr. Johnson, doch dieser Mikrokosmos der Hebridenflora, deren Gelb- und Dunkelvioletttöne stets nur ein paar Zentimeter über die Grasnarbe hervortreten, ist ein großer und kaum beachteter Schatz. Ich denke daran, wenn ich, zurück in England, über teure Perserteppiche gehe – die gleichen Tupfer dichter, unaufdringlicher Farbe, das gleiche Verhältnis von Untergrund und Verzierung – das plötzliche Aufscheinen der Hebriden in den Räumen eines wohlhabenden Menschen. Es ist ein privates Signal für mich, ein vom Boden kommendes Piepsen, das durch das Geraune aus Unterhaltungen und dargebotenen Getränken zwinkert: Denk an mich. Es gab Zeiten in den vergangenen zwei Jahrzehnten, da diese Inseln zum Wichtigsten in meinem Leben gehörten. Sie sind mir eine Art Heimat geworden, ein Ort, an den ich immer wieder zurückkehre. Vor über sechzig Jahren hatte sie mein Vater für 1.400 Pfund erworben. Als ich einundzwanzig wurde, übergab er sie an mich, und ich werde sie meinem Sohn übergeben, wenn er, in vier Jahren, einundzwanzig Jahre alt wird. Nicht dass dies, wie Zyniker manchmal behaupten, aus Steuergründen geschehen würde. Die Shiants haben mit Geld so gut wie nichts zu tun, jedenfalls waren sie eine katastrophale Investition. Seinerzeit hätte mein Vater für die gleiche Summe ein jakobinisches Herrenhaus in Sussex oder in Cambridgeshire eine Farm mit achtzig Hektar besten Ackerlandes kaufen können. Beides wäre inzwischen eine Million Pfund wert, wenn nicht mehr. Bei einem Verkauf der Shiants würde ich mir heute vielleicht eine Zweizimmerwohnung in Fulham leisten können.

Es ging also nie um finanziellen Reichtum. Mein Vater kaufte die Inseln und gab sie später an mich weiter, weil er als noch junger Mann das Gefühl hatte, sich durch den Besitz eines solchen Orts weiterentwickeln zu können. Er hoffte, sich durch das Erlebnis, dort allein mit seinen Freunden zu weilen, durch die Verbundenheit mit einer Natur, die so schlicht und schnörkellos ist, mit einer Landschaft und einer See, die so großartig sind, dass sie eine Flucht in eine anscheinend andere Dimension erlauben, neue Anreize zu verschaffen. Es war wie ein Aufbruch von Zuhause, ein Schritt in eine andere Welt. Als er 1937 zum ersten Mal die Inseln aufsuchte, beschrieb der damals einundzwanzig Jahre alte Student am Balliol-College dies etwas launig und sprunghaft in einem Brief an seinen Bruder Ben:

Am nächsten Morgen wache ich auf und sehe die Sonne in einem Himmel, so rein wie eine bayerische Jungfrau. … Ich liege gewöhnlich den ganzen Morgen ohne Kleider auf einem Felsen hoch über dem Meer, lese und kommentiere Hegel. Nachmittags laufe ich barfuß eine Meile über die Heide an den Rand des nördlichen Kliffs, wo ich mich hinwerfe, um zu lesen, zu schreiben oder auf das Meer zu blicken und über das Leben oder über den Himmel als solchen nachzudenken. Der Blick von dort oben ist so beschaffen, dass es wohl nur Griechenland mit ihm aufnehmen könnte.

Und dann, etwas betreten, torpedierte er das Ganze: »Ich fürchte, man wird unter diesen Umständen ziemlich Golden Bough.1«

Trotz allen Blendwerks, die Erfahrung war echt, und vierzig Jahre später wollte er, so denke ich, diese Erfahrung der Größe an mich weitergeben: den wunderbaren Seeraum, das Freiheitsgefühl, das einen auf einer wasserumtosten Insel durchflutet. Das Geschenk war das folgende: die nun überall und jederzeit aufzurufende Empfindung, in der sauberen, über den Atlantik strömenden Luft zu stehen, allein auf diesen Inseln, die die letzten Einwohner vor mehr als hundert Jahren verlassen hatten. Ich habe diese Inseln bis in die letzten Ritzen ausgespäht, habe Hummer und Samtkrabben aus dem Meer gezogen, den essbaren Lappentang von den Wänden der Meeresgrotten und dem großen gotischen Felsbogen gepflückt, der auf einer der Inseln eine schmale Landspitze durchbricht, bin zwischen den fauchenden Krähenscharben umhergeklettert und habe in die dunklen verdreckten Tunnel geschaut, in denen die Papageitaucher leben und ihr seltsam herzerweichendes Blöken von sich geben, das wie eine schwere, sich in ihren rostigen Angeln drehende Tür klingt; und ich habe im hohen Gras gelegen, während die Raben über mir krächzten und Kapriolen schlugen und die Skuas in einem milchig blauen Himmel ihre Kreise zogen. Bisweilen habe ich, und das ist vielleicht eine Art Delirium, keinen Abstand mehr verspürt zwischen mir und diesem Ort. Ich habe ihn absorbiert, wie ich von ihm absorbiert wurde, als würde ich außerhalb von ihm nicht mehr existieren. Ich bin von den Zeiten auf den Inseln geformt worden, und nun fällt es mir schwer, Distanz zu ihnen zu finden. Die Landschaft ist in mich eingedrungen und hat mein Leben eingefärbt wie eine Beize. Fast alles andere fühlte sich weniger dicht und weniger intensiv an als diese Momente des Ausgesetztseins. Die Gesellschaft, die Politik, das Vorantreiben der Arbeit und der Karriere – all dies ist von der Größe und Ernsthaftigkeit jener kurzen Phasen meines Insellebens in den Schatten gestellt worden.

Es gab eine Zeit, als ich dachte, es würde mir unerträglich schwer fallen, die Inseln abzugeben, selbst an Tom. Manchmal, spät in der Nacht in fremden Hotels und weit von ihnen entfernt, hörte ich den Seewetterbericht: »Hebriden, Minches, Sturm der Stärke 10, dreht ab in Richtung Südwesten, Eisregen, Sichtweite 200 Meter«. Ich stellte mir dann vor, wie sie wohl sein mochten, nass, zerschmettert und unerträglich, der Regen wie eine Handvoll Reis gegen das Fenster der Hütte schleudernd, das Schäumen der See, wenn, wie in einem berühmten gälischen Gedicht, »die gewundene schwärzliche Wellhornschnecke, die unten am Meeresboden lebt / sich an der Bootsreling festhakt und dem Schiffsboden einen Riss verpasst«, wenn die Vögel hinter den großen Steinen kauern und die Schafe den Sturm mit der Geduld von Heiligen und der Würde von Märtyrern ertragen. In diesen Momenten, wenn die Inseln weit weg waren, fühlte ich mich ihnen am meisten verbunden. Die Shiants sind die mächtigste Abwesenheit, die ich kenne. Auf jedem Flug über den Atlantik halte ich nach ihnen Ausschau, suche in den Wolken nach einer Öffnung, um sie zu sehen, wie sie still und wie auf einer Landkarte unter mir daliegen, in einem schimmernden und funkelnden Meer, während die Stewardess Kopfhörer und warme Handtücher verteilt. Auch das ein Aspekt des befürchteten Verlusts.

Inzwischen ist dies anders geworden. Ich habe mich geändert und ich brauche die Inseln nicht mehr so sehr wie früher. Das Geschenk, das ich erhielt, ist das Geschenk, das ich nun machen möchte. Die Inseln sind, was sie immer waren, ein Ort für einen jungen Mann. Tom wird hier seine Zeit verbringen, mit seinen eigenen Freunden und seinen eigenen Entdeckungen. Er wird die Shiants auf andere Weise kennen und missen als sein Vater oder sein Großvater. Ein Ort entfaltet sich in den Köpfen der Menschen, die ihn besitzen, und nun ist Tom an der Reihe.

Das Buch ist mein letztes Eintauchen in diese Welt. Ich habe versucht, die Inseln auf eine Weise kennenzulernen wie nur selten zuvor etwas. Über die Shiants ist noch nie in größerer Ausführlichkeit geschrieben worden, und diese Schilderung hier bezeichnet sowohl einen Anfang als auch, jedenfalls für mich, ein Ende. Es ist ein Versuch, die ganze Geschichte eines kleinen Flecks, so wie ich sie heute sehe, in möglichst vielen Dimensionen – geologisch, spirituell, botanisch, historisch, kulturell, ästhetisch, ornithologisch, etymologisch, emotional, politisch, sozial, archäologisch und persönlich – zu erzählen. Es...

Erscheint lt. Verlag 18.4.2024
Übersetzer Dirk Höfer
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7518-0083-2 / 3751800832
ISBN-13 978-3-7518-0083-9 / 9783751800839
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