Pathologien -  Jacob Israël De Haan

Pathologien (eBook)

Der Untergang des Johan van Vere de With
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
360 Seiten
Männerschwarm Verlag GmbH
978-3-86300-090-5 (ISBN)
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Johan ist jung, schön und hat alles, was er braucht. Mit seinem Vater und der alten Haushälterin Sien lebt er in einem großen Haus am Markt des traditionsreichen Städtchens Culemborg, genießt das noble Leben und studiert die wissenschaftliche Literatur des Vaters. Im Laufe der Pubertät überkommen ihn sexuelle Fantasien mit anderen Jungen, die sich auch auf seinen Vater ausdehnen. Als Johan sich seinem Vater offenbart, wendet der sich empört von ihm ab. Doch der belesene Johan ist überzeugt, dass seine Art zu lieben das gleiche Recht hat wie die Liebe der anderen. Er verlässt das Haus des Vaters, zieht in eine Pension, lernt den Maler René Richell kennen und lieben. Doch schon nach wenigen Wochen ungetrübten Glücks kommen Renés sadistische Neigungen zum Tragen - der Beginn eines brutalen Ringens von Liebe, Abhängigkeit und Verachtung, an dem Johan zugrunde gehen wird. Der jüdisch-niederländische Jurist und Autor Jacob Israël de Haan ist international vor allem bekannt, weil er 1924 in Jerusalem einem politischen Mord zum Opfer fiel. Zuvor hatte er 1904 mit 'Pijpelijntjes' den ersten homosexuellen Roman der Niederlande herausgebracht. Das Buch kostete ihn seine Anstellungen als Lehrer und Journalist, hielt ihn aber nicht von der Veröffentlichung von 'Pathologieën' (1908) ab. In Anbetracht seiner Entstehungszeit geht der Roman ungemein selbstbewusst an das Thema Homosexualität heran: Obwohl der Vater ihn dafür moralisch verdammt, lebt Johan sein Anderssein unbefangen aus - bis er an René gerät. Zum 100. Jahrestag der Ermordung de Haans hat der Übersetzer Olaf Knechten Pathologien erstmals ins Deutsche übertragen. Zudem enthält diese Ausgabe de Haans Erzählung 'Die Erlebnisse des Hélénus Marie Golesco' und ein Nachwort des niederländischen Soziologen Gert Hekma.

Jacob Israël de Haan, geboren 1881 in Smilde, Niederlande, wuchs in armen Verhältnissen auf. Er machte eine Ausbildung zum Grundschullehrer, studierte Jura und wurde Vertreter einer semiologischen Rechtslehre ('Significa'). Er arbeitete als Journalist und Dichter und veröffentlichte 1904 mit 'Pijpelijntjes' den ersten homosexuellen Roman der Niederlande. 'Pathologien' (OA 1908) ist sein zweiter Roman. Ende der 1910er Jahre schloss sich de Haan der zionistischen Bewegung an und zog nach Israel. Weil ihn der kämpferische Nationalismus der Zionisten zunehmend abstieß, wechselte er zum orthodoxen Judentum und kritisierte in Artikeln für niederländische und englische Zeitungen den Zionismus, was ihm den Hass vieler Mitbürger eintrug. 1924 wurde er von einem Mitglied der zionistischen Haganah ermordet.

Kapitel 1


1

Dies ist meine präzise, in aufgewühltem Zustand verfasste Beschreibung der Pathologien, die den Untergang des Johan van Vere de With bedeuteten.

2

Der längliche Marktplatz befindet sich im Zentrum des Städtchens Culemborg, das eigentlich eher einem Dorf ähnelt. In der Mitte einer der beiden Längsseiten stand das alte Haus, in dem sie wohnten.

Von außen sah es aus wie ein Doppelhaus mit zwei Treppengiebeln und Wohnungen zu beiden Seiten einer breiten Tür, breiter als zwei gewöhnliche Haustüren. Doch dahinter befand sich nur ein einziges Wohnhaus. Drei Personen lebten dort: ein Junge, Johan, sein Vater und eine sehr alte Frau namens Sien. Da das Haus so groß war und die drei ein sehr ruhiges Leben führten, wirkte es oft wie unbewohnt.

Johans Mutter war schon vor langer Zeit gestorben, noch bevor er und sein Vater nach Culemborg gezogen waren. Es gab in diesem Haus kein Zimmer, das sie bewohnt hatte, und deshalb war Johans Vater hier weniger unglücklich. Doch sie besaßen noch viele Dinge, die ihr gehört hatten. Johan, dem sie fremd waren, bedeuteten sie nichts, aber für seinen Vater waren es kostbare, unersetzliche Schätze.

Johan bewohnte zwei Zimmer an der Rückseite des Hauses, die beide Blick auf den üppigen alten Garten boten, der groß, finster und geheimnisvoll wie ein Wald war. Doch die Dunkelheit reichte nicht bis ans Haus, denn zwischen ihm und dem Garten befanden sich ein gepflasterter Weg und eine Wiese, die zur schönen Jahreszeit viele bunte Blumen zierten. Wenn Johan abends am Fenster saß und lernte, warf seine Stehlampe mattes Licht nach draußen, golden wie Sonnendunst, das die Farben der Blumen veredelte und sie fremdartig erscheinen ließ wie Gewächse aus einer seltsamen, zarten Mär. In den waldgleich dichten, dunklen Garten drang das Licht der Lampe nicht. Die Bäume wirkten wie eine schwarze Wand, hinter der sich eine andere Welt befand.

3

Die schönsten Gegenstände in ihrem prachtvoll eingerichteten Haus waren die Türglocke und die Standuhr im Flur. Die Glocke hing hinter der breiten Haustür. Sie war nicht aus Silber, sondern aus einem unbekannten Metall, dessen Klang viel reiner war als der von Silber und viel ergreifender. Es war herrlich, in den hohen, stillen Fluren der hellen Glocke zu lauschen, wie sie langsam ausklang, bis im Haus wieder völlige Stille einkehrte. Johan bedauerte, dass die köstliche, königliche Glocke so selten erklang, denn die meisten Besucher kamen nicht durch die vornehme Vordertür, sondern durch das Gartentor und über Wiese und Weg zum Hintereingang. Wenn Johan abends allein, ohne seinen Vater, an seinen Hausaufgaben saß und seine Lampe weiß dampfte und matt atmete, wünschte er sich oft, dass jemand käme, die Glocke die Stille durchbräche und sich etwas Außergewöhnliches ereignen würde. Doch da sie ein so stilles Leben führten, geschah dies nie.

Die Uhr, die Johan so liebte, stand im hohen, hellen Vestibül. Ihr Ticken klang dunkel und ernst wie die Stimme eines alten Manns. Doch ihr Schlagen war leicht und heiter wie das Lachen eines Jungen, eines großen Jungen. Wenn Johan spätabends noch wachte, vernahm er ihr Ticken nicht, sondern hörte nur, wie sie zu jeder vollen Stunde schlug.

Ihrem Haus gegenüber stand eine Kirche aus braunem Stein, in der hoch über den Häusern eine schwere Glocke hing, die abends von Viertel vor zehn bis zehn Uhr läutete. Johan versäumte es nie, anschließend hinunter ins weiße Vestibül zu gehen, um nachzusehen, ob ihre Standuhr mit der Glocke im Einklang war.

4

Als Johans Vater mit achtzehn Jahren in Amsterdam Jurisprudenz studierte, ging er eine intime Beziehung mit einer älteren Frau ein, einer Ärztin, die er kurz darauf heiratete. Schon bald brachte sie ein Kind zur Welt, denn aufgrund ihres Alters befürchtete sie, eine Geburt in späteren Jahren berge zu große Gefahren. Der junge Mann und die ältere Frau freuten sich sehr über den Nachwuchs.

Doch kurz nach der Geburt des Jungen wurde die Mutter psychisch krank, was sich darin äußerte, dass sie sich schreckliche Vorwürfe machte, in ihrem Alter noch ein Kind zur Welt gebracht zu haben. Sie glaubte, ihm nicht die nötige Fürsorge zukommen lassen zu können. Auf die Selbstvorwürfe folgte eine Phase heftiger Selbsterniedrigung und fortwährender Schuldgefühle. Schließlich entschied sie, sie sei unwürdig, weiterhin mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn zusammenzuleben, und beschloss, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Wiederholt brachte sie sich schwere Verletzungen bei und konnte nur daran gehindert werden, sich etwas anzutun, indem man sie Tag und Nacht beaufsichtigte, ohne sie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Einige Monate lang wurde sie auf diese Weise bewacht, bis ihre Todessehnsucht nachließ. Sie begriff, dass sie krank war, doch nun machte sie sich Vorwürfe, weil sie nach dem Tod verlangt hatte. Ihr Körper war dauerhaft geschwächt, und auch ihr seelisches Gleichgewicht fand sie nie völlig wieder.

Eines Nachts, als niemand mehr damit rechnete, wurde sie plötzlich wieder von Schuldgefühlen und Todessehnsucht überwältigt. Ihr Gatte schlief mit dem Kind im Zimmer nebenan. Die seelisch kranke Frau stand auf und ging auf weißen Füßen leisen Schritts zu Mann und Kind hinüber. Lange Zeit betrachtete sie beide und lauschte dem nächtlich-tiefen Atem ihres Manns, den sie so liebte. Während sie das Kind anschaute, dachte sie: Hans ist ein so hübscher Junge. Sein Vater wird später glücklich mit ihm sein. Doch ich muss sterben, denn mich erdrückt die Schuld, in meinem Alter noch ein Kind geboren zu haben, das ich nicht einmal selbst stillen kann.

In ihrem Wahnsinn war die Frau völlig ruhig. Sie begab sich wieder in ihr Zimmer, um den Tod zu suchen. Doch sie wusste nicht, wie sie es anstellen sollte. Sie verfügte über keine scharfen Gegenstände, nichts, um sich die Luft abzuschnüren, und wagte kaum, sich zu bewegen, weil jedes Geräusch ihren Mann hätte wecken können.

Jedoch hatte sie üppiges Haar, das ihr offen bis über die Hüften fiel. Mit ihren flinken, zartgliedrigen Fingern flocht sie es zu zwei festen Zöpfen, seidenen Stricken gleich. Leise und mit ruhiger Hand würgte sie sich mit diesen lebendigen Waffen, die sich wie aus eigener Kraft immer fester um ihre sterbende Kehle schnürten.

5

Am nächsten Morgen traf ihren Mann der entsetzliche Anblick der Leiche.

Nach dem Begräbnis bezog der junge Mann mit seinem so außergewöhnlich hübschen Sohn das alte Haus an einer der Längsseiten des Markts im Zentrum des Städtchens Culemborg, das eigentlich eher einem Dorf gleicht.

In stiller Verzweiflung beendete er dort sein Studium der Jurisprudenz und widmete sich danach der weiteren Erforschung des kriminellen Menschen. Doch ließ er sich nie als Rechtsanwalt nieder. Weder mit seinen wenigen Verwandten noch mit den Bürgern Culemborgs pflegte er Umgang, und sein Kontakt zu italienischen und französischen Kollegen war rein fachlicher Natur. Er sprach mit ihnen niemals über sein Haus oder seine strangulierte Ehe.

Johan wusste, dass seine Mutter sich getötet hatte, und auch, dass sein Vater nicht gern über sie redete.

Er hatte in seinem Zimmer ein Porträt von ihr, an dem er sehr hing, nicht so sehr, weil es seine Mutter zeigte, die er nicht gekannt hatte, sondern weil es so schön und außergewöhnlich war.

Dieses Bild war nun siebzehn Jahre alt, denn es war zur Zeit der Heirat seiner Eltern entstanden. Der stille Zahn der Zeit hatte sowohl die Schwärze des Drucks als auch das Weiß des Papiers aschen und grau werden lassen. Ihr Gesicht war nun übersät von berstenden Bruchlinien wie das milchigfeine Porzellan aus China, von dem Johan ein äußerst kostbares Stück besaß. Immer, wenn er das Porträt betrachtete, freute es ihn, dass seine Mutter eine so ruhige und vornehme Frau gewesen war. Sie hatte eine hohe Stirn, ihr Blick war tief, ihre Nase gerade und ihr Mund fest geschlossen.

6

Den Haushalt der Familie besorgte Sien, eine kleine alte Jungfer in frommen, hoch geschlossenen Kleidern. In dem zerbrechlich wirkenden Gesicht unter ihrer plissierten weißen Haube boten die Züge um Augen, Mund und Nase häufig ein bebendes Wechselspiel dar.

Beschwerliche körperliche Arbeiten verrichtete sie nur noch selten. Sie hatte eine Zugehfrau, die sich morgens um die drei Schlafzimmer kümmerte, und eine Putzfrau fürs Grobe. Sie selbst tat, was sie konnte, und beklagte sich gegenüber Johan oft über die Faulheit der heutigen Dienstboten. Nachmittags, wenn die beiden Haushaltshilfen gegangen waren, saß Sien immer lange Zeit still in einer Kammer am Gartenweg und ließ die Tür zum Flur geöffnet, damit sie trotz zunehmender Schwerhörigkeit ins Haus lauschen und die Haustürglocke hören konnte. Aber da sie ein so ruhiges und abgeschiedenes Leben führten, kam fast nie jemand, um die alte Jungfer zu stören. Oft las sie in ihrer Bibel, all die Stellen, die ihr alter Kopf schon längst auswendig kannte. Wenn Johan nachmittags durch den düsteren Garten nach Hause kam, erzählte sie ihm von Gottes großen Wundern, an die so viele Menschen nicht glaubten, bis sie sie mit eigenen Augen sähen. Der Junge hörte ihr dann zu, ruhig und höflich, wie er und sein Vater es immer waren.

7

Johans Vater entstammte ebenso wie seine Mutter einer Gesellschaftsschicht von hoher Bildung und Lebensart, der harte körperliche Arbeit fremd war, in der man jedoch mit allen Arbeiten vertraut war, für die es eines guten Denkvermögens bedurfte. Johan glich seinen beiden Eltern. Er war seit jeher ein auffallend schöner Knabe. Bis sein Leben auf entsetzliche Weise erschüttert wurde, war er stets von...

Erscheint lt. Verlag 20.2.2024
Übersetzer Olaf Knechten
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-86300-090-0 / 3863000900
ISBN-13 978-3-86300-090-5 / 9783863000905
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