Meine Arbeit (eBook)
460 Seiten
März Verlag
978-3-7550-5029-2 (ISBN)
Olga Ravn, geboren 1986 in Kopenhagen, studierte Literarisches Schreiben an der dortigen Autorenschule. Neben der Veröffentlichung diverser und mit vielen Preisen ausgezeichneter Lyrikbände arbeitete sie als Literaturkritikerin, Lektorin und Übersetzerin. Auf Deutsch erschien zuletzt ihr Gedichtband Rose werden (Nord Verlag, 2020) sowie ihr weltweit gefeierter Roman Die Angestellten, der im Januar 2024 am Wiener Volkstheater aufgeführt wird. 2020 wurde sie mit dem Politikens-Literaturpreis ausgezeichnet.
An einem Freitag, den 13. fuhr Anna zur Akupunkteurin, und darüber hatte Anna nicht wirklich nachgedacht, die Akupunkteurin aber sehr wohl. Die Tür war verschlossen.
»Ich kann nicht anders an einem Tag wie heute«, sagte sie, nachdem sie Anna hereingelassen hatte. »Mille Sille«, sie gab Anna die Hand, ihre dichten Haare waren gekreppt und grau, und sie trug klimpernde Silberohrringe.
»Anna«, sagte Anna. »17 + 4.«
Mille Sille nickte.
Die Praxis befand sich im Erdgeschoss eines alten Fachwerkhauses neben einer grasbewachsenen Böschung am Ende eines Kanals. Ein Kübel mit verwelkten Pflanzen und ein abblätternder Gartenzwerg standen draußen, darüber hing ein Windspiel. Im Inneren war der Raum überfüllt mit Bücherregalen, Topfpflanzen, Buddhastatuen und anatomischen Figuren mit Körperteilen aus Plastik. Zwei klobige Sofas, darauf indische Decken, über dem Tisch ein riesiges Wandbild vom Kronprinzen und der Kronprinzessin Mary. Es roch merkwürdig.
»Komm rein«, sagte Mille Sille und führte Anna in einen angrenzenden kleinen Raum. Anna setzte sich auf die Liege.
»Also, was führt dich zu mir?«
»Ich kann nicht schlafen, ich bin ein wenig unruhig«, sagte Anna. »Meine Hebamme hat dich empfohlen.«
»Bei wem bist du?«
»Marianne, im Rigshospitalet.«
Mille Sille nickte. »Sie ist gut.«
»Ja.«
»Ich werde gleich anfangen, dich ein wenig abzutasten. Hattest du schon einmal eine Akupunktur-Behandlung?«
»Nein«, sagte Anna. »Ich bin aber offen für alles.«
Mille Sille nahm Annas Handgelenk zwischen zwei Finger.
»Hm«, sie runzelte die Stirn.
»Hast du eine alte Verletzung?«
Mit einem Mal bekam Anna Angst.
»Ähm … ja?«
Der merkwürdige Geruch aus dem vollgestopften Sprechzimmer drang durch Annas Nase in sie hinein.
»Du hast zu viel Feuer«, sagte Mille Sille. »Deswegen hast du auch diese roten Flecken auf den Wangen.« Der obere Part von Annas Wangen brannte, sie fühlte unwillkürlich mit den Fingerspitzen nach.
»Das bedeutet, du hast zu viel Yang. Dir fehlt Wasser«, sagte Mille Sille. »Du verhinderst den Durchfluss von Yin. Ich könnte mir vorstellen, mit Schröpfen anzufangen.«
»Könnte ich vorher noch mal ins Bad?«
»Die zweite Tür links.«
Auf der Toilette starrte Anna auf ein Stück zerknittertes Papier, das an der Tür hing. Ninas und Martins Geburtsplan stand darauf.
- – Keine Schmerzblocker
- – Ninas Rhythmus folgen
- – Die Geburt dauert so lange wie nötig
- – Gern in der Badewanne
- – Rebozo-Massage
Sie arbeitete also noch als Hebamme, dachte Anna.
»Ich fange mit ein paar Schröpfgläsern an, um dich für das Yin zu öffnen.«
Anna lag auf dem Bauch, mit freiem Oberkörper, und Mille platzierte Plastikgefäße auf Annas Rücken, die sich dort festsaugten. Es tat sehr weh. Anna lag mucksmäuschenstill.
»Wie lange geht das schon bei dir?«
»Ähm, die Schwangerschaft?«
»Die Unruhe.«
»Seit meiner Kindheit, glaube ich.«
»Das tut mir so leid für dich.«
Anna fühlte sich lächerlich und wie gelähmt, puppenhaft. Bin ich vollkommen verrückt? Bin ich wahnsinnig, dachte sie, wer ist Anna? War sie im Grunde ein hoffnungsloser Fall, nicht mehr zu retten?
»Jetzt versuch mal, das Wasser fließen zu lassen. Stell dir große Wassermassen vor, die einfach durch dich hindurchfließen«, sagte Mille Sille. Sie hatte die Gefäße weggenommen, Anna gebeten, sich umzudrehen, und begann mit den Nadeln. Es gab eine Nadel, bei der es ihr nicht gelingen wollte. Sie zog sie aus Annas Hand heraus und stach sie wieder und wieder hinein. Du musst jetzt versuchen, mitzugehen, dachte Anna und verfolgte aufmerksam, wo die Nadeln gesetzt wurden, im Gesicht, an den Händen und am Fußknöchel.
»Normalerweise würde ich hier auch eine setzen«, sagte Mille Sille und drückte mit dem Finger an eine Stelle hinter Annas Ohr. »Aber bei Schwangeren kann ich das nicht machen.«
»Okay«, sagte Anna.
»Ich mache jetzt Entspannungsmusik an, mit Wassersounds.«
»Okay«, sagte Anna und lag ganz still, die Nadeln zitterten.
»Ich gehe jetzt raus, aber ich stelle eine kleine Glocke neben deine Hand hier, du kannst einfach klingeln, wenn du fertig bist. Es ist individuell verschieden, wie lange man braucht. Es ist ein bisschen wie auf die Toilette gehen, wenn man fertig ist, ist man fertig.«
»Okay«, sagte Anna und sah an die Decke, während die Klänge der rauschenden Wellen aus Mille Silles Ghettoblaster aufstiegen.
Am Anfang war es schön. Es vibrierte, und Anna fühlte sich ein bisschen angetrunken. Das war sie seit Beginn der Schwangerschaft nicht mehr gewesen. Sie fühlte sich, als hätte sie ein eiskaltes Fassbier gekippt. Die Nadel in der Hand tat weh. Vorsichtig senkte Anna das Kinn Richtung Brust, um die Nadel sehen zu können. Ein wenig Blut war darunter hervorgelaufen. Dann wurde es langsam unangenehm. Anna konnte sich nicht bewegen. Sie traute sich nicht zu klingeln, sie wusste nicht, wie lange man normalerweise liegen bleiben sollte. Aus dem Vorraum draußen hörte Anna, wie Mille Sille eine andere Kundin begrüßte. Anna hatte kein Gefühl dafür, wie viel Zeit vergangen war. Es rauschte und rauschte in einer unendlichen Schleife aus dem Ghettoblaster. Sie hatte Lust, aufzustehen und die Nadeln abzuschütteln, das Wort Verletzung, sie fühlte sich schwach, als hätte sie den ganzen Tag noch nichts gegessen, ihr Hals schwoll an, ihr wurde schlecht, Anna wollte schreien. Jetzt hörte sie, wie sich Mille Sille von der anderen Frau verabschiedete, sie hatte also mindestens noch einen weiteren Raum, in dem eine andere Frau unterdessen genadelt worden war. Wie lange sollte man denn liegen bleiben? Anna traute sich nicht zu klingeln, aus Angst, nicht genügend Respekt vor dem Prozess zu zeigen.
Schließlich kam Mille Sille herein. »Liegst du immer noch hier?«, sagte sie.
»Ja«, sagte Anna.
Mille Sille nahm die Nadeln heraus.
»War es okay?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Anna und lächelte. Sie rieb sich über ihre Hand. »Wie spät ist es?«
»Es ist Viertel vor zwei.« Sie hatte eine Stunde hier gelegen.
»Kann ich hier mit der Karte bezahlen?«
»Ja, das geht«, sagte Mille Sille. »Ich schließe dir gleich die Tür auf, man weiß ja nie an einem Freitag, den 13., ich kann nicht anders.«
Anna kramte in ihrer Tasche.
»Ich bin auch gerade erst aus New York zurückgekommen«, sagte Mille Sille. »Ich bin etwas gejetlagt.«
War das eine Entschuldigung? Wusste Mille Sille, dass die Behandlung nicht so verlaufen war wie geplant? Hatte sie es Anna angemerkt? Dass es schrecklich für sie gewesen war? Dass es unmöglich für sie gewesen war, sich darauf einzulassen – zu viel Feuer und viel zu wenig Wasser? Oder merkte sie gar nichts und machte einfach Small Talk? Was stimmte nicht mit Anna, warum wirkte Akupunktur bei ihr nicht?
»Wie viele Behandlungen braucht man normalerweise?«, fragte Anna, während Mille Sille ihr die Tür aufhielt.
»Das kommt ganz darauf an«, sagte Mille Sille. »Lass uns mal abwarten, wie sich das angefühlt hat, ob es schon geholfen hat oder ob du noch mehr brauchst.«
»Okay«, sagte Anna, und die Tür fiel hinter ihr zu, das Windspiel klimperte.
Sie ging am Kanal entlang und überquerte ihn. Sie hatte ihr Tuch vergessen, ihr Hals wurde schnell kalt, und sie bekam die Jacke wegen ihres Bauchs nicht mehr richtig zu. Sie setzte sich auf eine Bank, mit dem Rücken zu Mille Silles Haus, und rief Aksel an.
»Hej, ich bin’s«, sagte Anna. »Ich bin jetzt fertig.«
»Wie war’s?«, fragte Aksel.
»Uff, ich weiß nicht genau.«
»Es war bestimmt gut.«
»Es war teuer.«
»Wie viel?«
»800 Kronen.«
Aksel pfiff.
»Mir ist ein bisschen schlecht«, sagte Anna.
»Das geht bestimmt vorbei.«
»Ich rufe nur an, um zu sagen, dass ich dich liebe.«
»Ich liebe dich auch.«
»Manchmal habe ich Angst, dass ich außen vor bin, weißt du, irgendwie außerhalb der Familie, und jetzt bist du ja meine...
Erscheint lt. Verlag | 28.2.2024 |
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Übersetzer | Alexander Sitzmann, Sondermann Clara |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7550-5029-3 / 3755050293 |
ISBN-13 | 978-3-7550-5029-2 / 9783755050292 |
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