Der Sommer, in dem alles begann (eBook)
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31086-3 (ISBN)
Claire Léost wurde 1976 in der Bretagne geboren und lebt heute in Paris. Ihr erster Roman »Le monde à nos pieds« wurde für das französische Fernsehen verfilmt. Ebenso wie ihr zweiter Roman »Der Sommer, in dem alles begann«, für den sie 2021 den Literaturpreis der Bretagne erhielt.
Claire Léost wurde 1976 in der Bretagne geboren und lebt heute in Paris. Ihr erster Roman »Le monde à nos pieds« wurde für das französische Fernsehen verfilmt. Ebenso wie ihr zweiter Roman »Der Sommer, in dem alles begann«, für den sie 2021 den Literaturpreis der Bretagne erhielt. Stefanie Jacobs, geboren 1981, lebt und arbeitet als freie Übersetzerin in Wuppertal. Für ihre Übersetzungen von K-Ming Chang, Lisa Halliday, Ben Marcus, Edna O'Brien und vielen anderen Autor:innen wurde sie mehrfach auszeichnet, zuletzt mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis. Jan Schönherr, geboren 1979, lebt in München und hat Autoren wie Jack Kerouac, Jacques Poulin und NoViolet Bulawayo übersetzt. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Bayerischen Übersetzerstipendium 2022.
Es war das Paradies
Alles geriet aus den Fugen, als Marguerite im Gymnasium von Bois d’en Haut ankam. So ziemlich genau zu der Zeit, als Hélènes Vater seine ersten Aussetzer hatte, im Sommer des Abiturs, dem Sommer, in dem sie sechzehn war. Die Alten sagen, es sei alles schon viel früher durcheinandergekommen, während des Kriegs, aber zu dieser Erkenntnis sollte Hélène erst viel später gelangen.
Ihr Vater sagt oft, kein Dorf besitze eine Seele wie ihres, und sie glaubt ihm und ist kein bisschen neugierig auf das Leben jenseits der Monts d’Arrée. Ihre Heimat, das ist nicht die anmutige Bretagne mit Meer und Möwen, den Gezeiten und dem Stechginster, der Salz und Sonne trotzt, nicht die Bretagne der Touristen und Segeljachten. Ihre Heimat, das ist das Landesinnere, die Bretagne der Kalvarienberge und Kapellen, mit moosbewachsenen Steinen, Farnkraut und Laubteppichen unter den Bäumen. Die Bretagne, in der man nicht Urlaub macht, das primitive Gebein der Bretagne, sagt ihr Vater oft, ohne dass sie genau weiß, was das heißen soll, Gebein. Primitiv dagegen, das wird sie schnell lernen.
Unterhalb des Gymnasiums, tief im Wald, fließt ein Bach, dessen Gemurmel man bei Wind bis ins Klassenzimmer hört. In Hélènes Klasse spricht niemand von nachher, morgen oder später, so als hätte das Schicksal jedem bereits die Hand auf die Schulter gelegt: Die Söhne der Bauern werden sich auf den Höfen verdingen, die anderen werden das Heer aus Büroangestellten, Beamten, Handwerkern und Arbeitslosen vergrößern, die in der Gegend ihr Dasein fristen. Hélène als gute Schülerin wird die Uni in Brest besuchen und wie ihre Mutter Grundschullehrerin werden.
Eines sehr winterlichen Herbstmorgens jedoch taucht Marguerite auf. Burschikos kurzes Haar, zarte Armbänder an den Handgelenken. Eine zierliche Erscheinung in ihrem gemusterten Kleid.
»Mensch, glaubst du, das ist echte Seide?«, sagt eine Schülerin, die hinter Hélène sitzt. »Und hast du ihre Handtasche gesehen? Eine Hermès. Genau so eine hat Sophie Marceau auch!«
»Ruhe dahinten«, murmelt der Direktor und poliert seine Brille.
Er sieht seine neue Mitarbeiterin an, als wäre sie die Venus von Milo.
»Ich möchte euch Madame Renaud vorstellen, Dozentin für Literaturwissenschaften und aus Paris zu uns geschickt. Das ist eine Ehre für unsere Einrichtung und für Sie, liebe Schüler und Schülerinnen. Bitte zeigen Sie sich von Ihrer besten Seite!«
Von der ersten Unterrichtsstunde an nimmt Marguerite ihre Klasse für sich ein, erobert sie mit einer einzigen Handbewegung wie einst Cleopatra die römischen Legionen. Zu Beginn jeder Stunde dasselbe Ritual. Ganz in Ruhe schlägt sie ihre Gedichtsammlung auf, scheint wie eine Naschkatze vor bunten Bonbongläsern einen Augenblick zu zögern, für welches sie sich entscheiden soll, bis plötzlich ihre Augen aufleuchten. Die ganze Klasse hängt förmlich an ihren Lippen. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Selbst der Faulpelz in der letzten Reihe hört auf, Papierflieger zu basteln oder Galgenmännchen zu malen.
In jeder Schulstunde ein Gedicht, das sie anschließend kommentiert. Einmal »Morgen, von der Dämmerung an« von Victor Hugo, und die Jugendlichen erfahren, dass der große Dichter auch Vater war, rasend vor Trauer, und teilen schweigend seinen Schmerz. In der Woche darauf rezitiert sie »Der Pont Mirabeau« von Apollinaire. Mit ihren sechzehn Jahren nehmen sie hinter ihren Worten den reißenden Schmerz der unglücklichen Liebe und die traurige Schönheit der Seine wahr, die sie nur aus dem Fernsehen kennen. Die meisten von ihnen waren noch nie im Theater. Also lässt Marguerite donnerstags wie von Zauberhand einen Reisebus kommen, und auf geht’s nach Brest oder Quimper. Atrides, Molière und Beaumarchais, wir kommen!
Sie ist keine spröde, schroffe und frustrierte Lehrerin. Nein, sie ist eine Traumlehrerin, Herrscherin eines Landes, dessen Regeln nur sie bestimmt. Sie ist fröhlich, sie strahlt förmlich. Wenn sie allein vor der Klasse steht, wirkt es, als wäre sie viele. Sie lässt sich siezen, aber mit Vornamen ansprechen. Sie muss weder laut werden noch künstliche Distanz schaffen und wirkt kraftstrotzend wie eine alte Eiche. Mit ihr sind die Autoren und Autorinnen keine einschüchternden Denkmäler mehr, sondern leben, lieben und leiden, sie werden Teil der Familie. Flaubert wird ein alter Onkel mit lüsternem Blick, Stendhal der karrierebesessene Cousin.
Eines Tages schneidet Hélènes Vater die letzte Seite des Télégramme aus, ein Porträt des Schriftstellers Raymond Berger, dem Ehemann von Marguerite – Stell dir vor, der tritt sogar im Fernsehen auf! Hélène pinnt den Artikel an die Wand gegenüber ihrem Bett und hat nun allabendlich das Bild dieses Mannes vor Augen, durch den sie sich mit Marguerite verbunden fühlt. Auf dem Foto schaut er in die Kamera, und in seinem Blick liegt etwas Geheimnisvolles, das sie nicht greifen kann. Er ist verführerisch. Aber nicht so wie ihr Freund Yannick mit seiner jungenhaften Schönheit, seinem sanften und vertrauensvollen Blick. Nein. Er besitzt eine männliche Schönheit. Eine schmerzhafte und unzüchtige Schönheit. Marguerite spricht zwar nie darüber, aber aufgrund ihrer Gedichtauswahl vermutet Hélène, dass die Liebe ihr Lieblingsthema ist. Wie alt ist sie?, fragt ihr Vater. Was für eine seltsame Frage. Sie ist so alt wie alle Troubadoure, alle Poetinnen, sie ist tausend und zugleich zehn Jahre alt.
In diesem magischen Jahr entdeckt Hélène ein neues Land, bevölkert von Schriftstellern und Worten. Jedes Buch ist eine Schatzkiste. Sie will diese Welt bewohnen, die schon immer da war, zum Greifen nah, nur dass sie sie bisher nicht gesehen hat.
Eines Abends bittet Marguerite sie, nach dem Unterricht noch zu bleiben. Sie möchte mit ihr über den Concours General sprechen, einen Wettbewerb, der den Besten der Besten vorbehalten ist. Sie würde sich wünschen, dass Hélène sich darauf vorbereitet. Sie gibt ihr Zusatzaufgaben, trainiert sie wie eine Weltmeisterin: Erörterungen, Textkommentare, Resümees, Romane, Gedichte, Theater und Philosophie. Hélène versteckt die Bücher unter ihrem Kopfkissen, wartet, bis ihre kleine Schwester Françoise eingeschlafen ist, um mit der Taschenlampe zu lesen, bis der Schlaf sie übermannt. Im Bibliobus, der mobilen Bibliothek, die jeden Mittwoch im Dorf hält, fühlt sie sich wie ein Seemann auf seinem Schiff und will keinen Fuß mehr an Land setzen.
Jeden Freitag bringt Marguerite ihr einen Gedichtband mit, den sie übers Wochenende lesen soll. Da ist alles dabei, die Romantiker, die Symbolisten, die Surrealisten, das Hochmittelalter, ja sogar erotische Lyrik-Sammlungen. Marguerite hört ihr zu und ermutigt sie, erdrückt sie nicht mit ihrem Wissen. Dass eine Lehrerin einer Schülerin so viel Zeit widmet, kommt Hélène ganz normal vor, Lehrerin, das ist in diesem Fall eine Berufung, kein schnöder Brotjob wie für den Sportlehrer, der sich hinstellt und Gitanes raucht, während er die Klasse um den See herumlaufen lässt.
Nach dem Unterricht sieht Hélène ihr durchs Fenster nach, wie sie zierlich und auf hohen Absätzen den quadratischen Hof des Gymnasiums durchquert und hin und wieder über Löcher und Pfützen springt. Obwohl es mit dem Concours General nicht geklappt hat, erklärt Marguerite ihr weiterhin den Dünkel bei Corneille und die Schwermut bei Baudelaire.
Nachdem sie eines Abends eine Stunde lang einen Text von Mallarmé zerpflückt haben, sagt sie zu ihr:
»Du bist nicht wie die anderen, du kannst eigenständig denken und wirst deinen Weg gehen. Du solltest fürs Abitur an eins der großen Pariser Gymnasien wechseln. Es wäre schade, wenn du hier bleiben und dein Talent vergeuden würdest. Ich helfe dir auch mit den Anmeldeformularen, wenn du willst.«
Hélène steckt die Nase in ihr Schulheft. Was für eine verrückte Idee. Sie war noch nie außerhalb der Bretagne. Nach Paris gehen, das wäre so ungefähr, als würde sie auf den Mond geschossen, das würde sie nicht überleben.
Das enge Verhältnis zu ihrer Lehrerin isoliert sie zunehmend vom Rest der Klasse. Die anderen langweilen sie mit ihren armseligen Ablenkungen: Punkrock, selbst gedrehte Zigaretten und Bier. Ihre simple Syntax, ihre nachgeplapperten Meinungen und die endlosen Klischees schmerzen Hélène wie aufgeschlagene Knie, seit sie in der Welt der Worte lebt. Als sie es einmal wagte, ihrem Freund Yannick zu sagen, seinen Sätzen mangele es an Musikalität, handelte sie sich damit einen halb ratlosen, halb resignierten Blick ein. Was bin ich doch manchmal für ein hochmütiges Dummerchen, sagt sie sich.
Yannick lässt sich Yannig rufen, seit er bei einem Pfadfinderlager entdeckt hat, dass er einem versklavten und unterdrückten Volk angehört: den Bretonen. Er stammt aus Saint-Malo, wo seit dem Mittelalter kein Keltisch mehr gesprochen wird, und kann deshalb nicht auf seine Eltern zählen, um die Sprache seiner Vorfahren zu erlernen. Als er sich an Hélènes Mutter wandte, die im Dorf geboren wurde, antwortete die nur seufzend:
»Was hast du davon, Bretonisch zu lernen? Das sprechen ja nicht mal mehr die Alten. Vergeude nicht deine Zeit und lern lieber Englisch.«
Bretonisch-Kurse waren gerade sehr angesagt in der Gegend und zogen Jahr für Jahr mehr Interessierte an, die auf der Suche nach ihren Wurzeln und nach bretonischer Urwüchsigkeit waren. Hélènes Mutter wollte es ihren Kindern nie beibringen. Die Bretagne, in der man Bretonisch spricht, das erinnert sie an Winter ohne Heizung, Frostbeulen an den Zehen, strohgefüllte Holzschuhe und Plumpsklos auf dem Hof.
»Und außerdem hat es das...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2024 |
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Übersetzer | Stefanie Jacobs, Jan Schönherr |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • Anthony Doerr • Bretonische Geschichte • Deutsche Besatzung • Die Nachtigall • Erste Liebe • Familiengeheimnis • Familienschicksal • Frauenschicksal • Heimat • Jean-Luc Bannalec • Kate Morton • Krieg • Kristin Hannah • Landleben • Liebe • resistance • Schicksal • Sozialer Aufstieg • Verlust |
ISBN-10 | 3-462-31086-0 / 3462310860 |
ISBN-13 | 978-3-462-31086-3 / 9783462310863 |
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