Die Dinge beim Namen -  Rebekka Salm

Die Dinge beim Namen (eBook)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70491-1 (ISBN)
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Ein Dorf wie viele andere: Es gibt eine Selbstbedienungstankstelle, einen Laden und einen Haufen Einfamilienhäuser. Die Kirche ist leer, das Wirtshaus voll. Die Dorfmusik probt über dem Magazin der Feuerwehr. Kleine Dramen, großes Geschwätz. Etwas außerhalb wohnt die schöne Chantal, die eigentlich anders heißt und von Berufs wegen zu viel weiß. Freddy sammelt leidenschaftlich Käfer, die jung gebliebene Micha fährt samstagabends mit dem Bus in die große Stadt. Der pensionierte Dorfpolizist Lysser hütet ein dunkles Geheimnis - und der Vollenweider schreibt das alles auf. Und dann ist da noch Sandra, mal hell- und mal schwarzhaarig. Im Februar 1984, gerade mal sechzehn Jahre alt, verschwand sie am Unterhaltungsabend des örtlichen Musikvereins aus der Turnhalle - gemeinsam mit dem schönen Max. Vierunddreißig Jahre später bewegt diese eine Nacht die Gemüter noch immer.Zwölf Dörfler geben Einblicke in ihr Leben und mehr noch in das der anderen - in flüchtiges Glück und ängstlich gehütete Geheimnisse. Rebekka Salm verbindet die eng verwobenen Geschichten zu einer. Und alle sind sie wahr. So wahr Geschichten eben sein können.

Rebekka Salm geboren 1979 in Liestal, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern. Sie arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch Das Schaukelpferd in Bichsels Garten (2021) erschienen. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen.

Rebekka Salm geboren 1979 in Liestal, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern. Sie arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch Das Schaukelpferd in Bichsels Garten (2021) erschienen. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen.

Der Vollenweider


Als der Vollenweider am Donnerstagabend die Eingangstür des Feuerwehrmagazins in die sternenlose Nacht drückte, war er in Gedanken zwei Stockwerke weiter oben im Proberaum des Musikvereins. Dort hatte er gerade noch seine Trompete in das abgeschossene Innenfutter des Instrumentenkoffers gelegt. Neben ihm der Tschudin, der Dorfmetzger, der das Kondenswasser aus seinem Mundstück schüttelte. Sie plauderten über die Obstbaumleiter mit den höhenverstellbaren Stützen, die der Tschudin von ihm ausleihen wollte, wegen der faulen Blätter in der Regenrinne. Das Wasser laufe die Fassade runter und über das Schaufenster der Metzgerei. Eine Sauerei sei das, sagte der Tschudin. Und wenn er nicht bald was unternehme, müsse er im Frühling den Maler kommen lassen. Was das wieder koste. Morgen wolle er sie holen kommen, die Leiter, in der Mittagspause.

So war das im Musikverein. Da half jeder jedem. Als letzten Frühling Vollenweiders Auto den Auspuff über den Asphalt geschleift hatte, das Material von Rost und Salzfrass brüchig geworden, hatte sich ein Kollege aus dem Baritonregister daran gemacht, eine Aufhängung zu schweissen. Der hatte eine Ahnung von Landmaschinen, da war ein Auto nicht weit her. Brauchte jemand Festbänke und Tische für eine Geburtstagsfeier, holte sie der Tschudin aus dem Schuppen hinter der Metzgerei, wo er das Material für seinen Partyservice eingelagert hatte. Schmorte die Stromleitung durch, kam Max, der war Elektriker. Max verlegt sein Kabel überall rein, hatten sie früher gewitzelt.

Und jetzt lieh sich der Tschudin eben eine Leiter.

Der Vollenweider liess die beiden Verschlüsse des Trompetenkoffers zuschnappen. Rundherum ein Klicken und Klappern von Überwurfschlössern, Rostinseln überall dort, wo der Nickel abgeblättert war. Er wollte sich gerade zum Gehen umdrehen, da packte ihn der Tschudin am Oberarm. Verdutzt drehte der Vollenweider sich um. Es war nicht üblich, dass ihn der Tschudin anfasste.

»Pass auf dich auf«, sagte der Tschudin leise.

Fragen, was er damit meinte, konnte der Vollenweider den Tschudin allerdings nicht. Der hatte sich bereits Beat zugewandt, der sich lässig an eine der beiden Kesselpauken lehnte.

Daran dachte der Vollenweider, als er ins Freie trat. Im Rhythmus seiner Atemzüge hingen ihm Wolken an den Lippen und lösten sich wieder auf. Vom Parkplatz her rief ihm Helen aus dem Flötenregister zu, ob er noch mit in die Beiz auf ein Bier komme. Der Vollenweider winkte ab. Er wollte nach Hause. Nach der Arbeit war er direkt ins Musiklokal gekommen und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, den Briefkasten zu leeren.

Der Vollenweider erwartete Post.

 

Drei Wochen war es jetzt her, da hatte er einen maschinenbeschriebenen Stapel Papier in ein gelbes Kuvert geschoben. Das Kuvert mit der Zunge angeleckt. Adresse drauf. Dann hatte er sich das Kuvert unter den Arm geklemmt und war zur alten Post marschiert. Wo früher vergitterte Schalter gewesen waren, wo man Briefe und Geldnoten unter dicken Glasscheiben durchgeschoben hatte, standen nun Sträusse und Gestecke in Helens Blumenladen. Seit Jahren gab es keine Post mehr im Dorf. Sparmassnahmen. Wer ein Paket aufgeben oder Einzahlungen tätigen wollte, musste die gut vier Kilometer ins Nachbardorf fahren. Dort stand die einzige Post im Tal. Der Briefkasten vor Helens Laden – das PTT-Signet mit gelber Farbe übermalt und nur noch als Relief erkennbar – war jedoch noch in Betrieb. Wollte Beat, der Briefträger, den Briefkasten öffnen, musste er in den Blumenladen rein. Gleich neben den Orchideen, eingelassen in die mit feinen Haarrissen und Bohrlöchern übersäten Kacheln, war die Rückwand des Briefkastens. Einmal am Tag öffnete er den Kasten mit seinem Generalschlüssel und warf die Briefe in seinen Postsack aus Jute.

Dann sah Beat auch gleich, ob seine Frau arbeitete.

Mit wem sie einen Schwatz hielt.

Ob der Blumenlieferant wieder weg war, von dem sie in letzter Zeit so häufig sprach.

Dann sah Helen auch gleich, ob ihr Mann arbeitete.

Ob er das frische Uniformenhemd angezogen hat, das sie ihm am Vorabend rausgelegt hatte.

Ob sein Atem schon vor dem Mittag nach Bier roch.

 

An der Kreuzung Sappentenstrasse und Birkenweg blieb der Vollenweider stehen und schnäuzte sich die Nase. Die Strassenlaterne flackerte und warf zitternde Schatten an die Fassade des Eckhauses. Dort hatte früher Doktor Mundschin seine Praxis gehabt. Der Vollenweider erinnerte sich an einen grauen Bart, unter dem ein Stethoskop um den faltigen Doktorhals hing. Er erinnerte sich auch an feuchte Schwämme, die ihm als Bub ums verstauchte Handgelenk gebunden worden waren, und an einen Regler, der je nach Position mehr oder weniger Strom durch die Kabel zwischen Apparatur und Schwämme fliessen liess. Meist war es mehr als weniger gewesen. Danach hatte er sich jeweils die Haut vom Handgelenk ziehen können. Nach der Pensionierung des alten Dorfdoktors war einer von ausserhalb gekommen, ein junger Arzt, kaum das Studium beendet. Der hatte versucht, die Praxis weiterzuführen. Ein Jahr hatte der durchgehalten, dann war er wieder weg gewesen. Im Dorf verliess man sich lieber auf Kartoffelwickel und Essigsocken als auf einen fremden Fötzel.

 

Der Vollenweider schob das Taschentuch zurück in seine Hosentasche, griff nach dem Trompetenköfferchen und setzte seinen Weg fort. Dabei dachte er an das gelbe Kuvert und wie er es in den Briefkasten bei der alten Post geschoben hatte. Wie er Helen durch die gläserne Tür hindurch gegrüsst und wie sie ihn reingewinkt hatte.

Der Vollenweider plauderte gerne mit Helen.

Mit Helen war er zur Schule gegangen.

Wie es ihm gehe, hatte Helen gefragt, und wieso er sich hier rumtreibe. Er sei auf dem Weg in die Apfelbäume, hatte er ihr geantwortet. Er müsse auf Feuerbrand kontrollieren. Schlimme Geschichte. Kein Wunder sei das, es habe ja nur geregnet die letzten Wochen. Im Nachbartal habe es bereits erste Fälle gegeben. Hundert Bäume und mehr mussten die roden. So was könne einen Obstbauern ruinieren, eine Bürgergemeinde auch. Am Nachmittag wolle er dann noch nach den Büeler-Zwetschgenbäumen schauen, sie hie und da zurückschneiden. Aber vorher habe er noch diesen Brief einwerfen wollen. Ob Beat heute schon dagewesen sei. Helen hatte den Kopf geschüttelt und gefragt, was denn das für ein Brief sei. Da hatte der Vollenweider abgewinkt. Nichts Wichtiges.

Das würden sie alle behaupten, lachte Helen. Besonders dann, wenn es wichtig sei.

Sie hatten sich noch eine Weile unterhalten über die vielen Musikproben, die bereits zwei Monate vor dem Unterhaltungsabend bis weit nach zweiundzwanzig Uhr dauerten, und über den Tschudin, der letzthin gesehen worden war, wie er bei Nacht und Kälte zu Fuss unterwegs zu Chantal gewesen war.

»Armer Tscholi«, hatte Helen noch spöttisch gesagt und der Vollenweider hatte ihr beigepflichtet. Sie hatten es beide nicht böse gemeint. Stärker noch als das Dorfwappen oder das Dorflied, das sie am ersten August oder am Banntag auf dem Schulhausplatz gemeinsam sangen, waren es Geschichten wie die vom Tschudin und seiner rabiaten Frau, die das Dorf im Kern zusammenhielten.

Auch über den Vollenweider redeten die Leute. Natürlich taten sie das. Sie redeten über ihn als den Sonderling, den Waldschrat, den ewigen Junggesellen.

Sie hatten nicht unrecht, die Leute.

Am liebsten war er allein im Wald. Der Vollenweider mochte die Gesellschaft der Bäume. Bäume standen da, aufrecht oder windschief, aber immer in sich ruhend. Unter der Erde schickten sie sich elektrische Signale zu, kommunizierten über ein Netzwerk aus Myzelien und Wurzeln – das Wood Wide Web. Wurden Bäume von Schädlingen angegriffen, gaben sie Warnsignale ab. Somit war die restliche Waldgesellschaft gewarnt und konnte Verteidigungsmechanismen aktivieren.

Bäume, da war sich der Vollenweider sicher, sprachen miteinander und nicht übereinander.

Aber ein Mann kann nicht allein unter Bäumen sein. Er braucht Menschen. Darum ging der Vollenweider einmal die Woche in den Musikverein.

 

Er war nicht ehrlich gewesen zu Helen.

Der Brief war wichtig gewesen.

Seit der Vollenweider schreiben konnte, schrieb er. Früher mit Füllfeder auf liniertem Papier, heute mit seinem in die Jahre gekommenen Computer. All die Geschichten, die sich durch seinen Kopf frassen, Borkenkäfern gleich, schrieb der Vollenweider aus sich heraus, bannte sie auf Kopierpapier Bio, 80 g/m2, chlorfrei – eine hauchdünne Scheibe Baum.

Der Selbstmord des Bruders.

Die unglückliche Liebe zu Sandra.

Der frühe Tod der Mutter.

Die Grausamkeiten des Vaters.

Im Korpus seines Schreibtischs, sorgfältig abgeheftet und weggeschlossen, schmerzten die Geschichten deutlich weniger als in Vollenweiders Kopf. Das war zwar viel, genug war es ihm nicht. Er wollte Wort an Wort an Wort reihen, bis seine Wortschnüre weit über die Dorfgrenze hinausreichten. Er wollte Sätze schreiben, die sich ins Bewusstsein anderer Menschen eingruben, es aufwühlten wie Regenwürmer den Waldboden.

All die Jahre hatte der Vollenweider davon geträumt und sich doch nicht getraut, eine seiner Geschichten zu veröffentlichen. Die Dörfler hätten das nicht gewollt. Was im Dorf geschah, das blieb im Dorf.

Vor drei Wochen aber hatte er sich endlich ein Herz gefasst und einen seiner Texte in die Welt hinausgeschickt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er begriffen, dass es besser war, die Dinge beim Namen zu nennen, Geschichten zu erzählen, alle, auch die unschönen. Ungeachtet dessen, ob man selbst gut dabei wegkam. Die Wahrheit verletzte womöglich Menschen und man lief Gefahr, sie zu verlieren. Die...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dorf • Dorfleben • Geheimnis • Gemeinschaft • Geschichten
ISBN-10 3-311-70491-6 / 3311704916
ISBN-13 978-3-311-70491-1 / 9783311704911
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