Und vor uns das Meer -  Jule Henning

Und vor uns das Meer (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
320 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60630-1 (ISBN)
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Eine unvergessliche Reise nach Sylt Als Mette erfährt, dass ihre Schulfreundin Josefa mit Anfang fünfzig an Krebs verstorben ist, trifft deren Tod sie, obwohl sie schon lange keinen Kontakt mehr zu Josefa hatte. Ausgerechnet Ole, ein gemeinsamer Freund aus der Schulzeit, überbringt ihr die traurige Nachricht und berichtet ihr vom letzten Wunsch der Verstorbenen: Gemeinsam sollen sie deren Asche auf Sylt verstreuen. Auf der Insel angekommen, wird Mette von ihren Erlebnissen als Verschickungskind eingeholt und setzt sich endlich mit ihrer Vergangenheit auseinander. Nur die Gespräche mit dem einfühlsamen Ole lenken sie ab. Dabei wird ihre Verbindung zueinander immer stärker ...  Einfühlsam und gut recherchiert erzählt Jule Henning vom Schicksal der Verschickungskinder auf Sylt und greift damit ein schwarzes Kapitel in der deutschen Geschichte auf. 

Jule Henning ist das Pseudonym einer erfolgreichen Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Schon als Kind hat sie die Sommerferien an der Ost- und Nordsee verbracht. Nach ihrem Germanistikstudium in Hamburg und einer Phase als Journalistin war sie Stipendiatin an der Drehbuchwerkstatt München. Heute lebt sie in Berlin und hat neben Drehbüchern fürs Fernsehen und Kino zahlreiche Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene geschrieben, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Entspannung findet sie nach wie vor am Meer, am liebsten im beschaulichen Hörnum auf Sylt.

Jule Henning ist das Pseudonym einer erfolgreichen Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Schon als Kind hat sie die Sommerferien an der Ost- und Nordsee verbracht. Nach ihrem Germanistikstudium in Hamburg und einer Phase als Journalistin war sie Stipendiatin an der Drehbuchwerkstatt München. Heute lebt sie in Berlin und hat neben Drehbüchern fürs Fernsehen und Kino zahlreiche Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene geschrieben, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Entspannung findet sie nach wie vor am Meer, am liebsten im beschaulichen Hörnum auf Sylt.

Eins


Mit dem Anruf fing es an. Er veränderte alles. Den Sommer und auch mein Leben.

Das Telefon läutete kurz vor acht, ich stand in der Küche und bereitete das Frühstück zu. Zwei Scheiben getoastetes Sauerteigbrot mit Konfitüre. Das Brot musste den richtigen Bräunungsgrad haben, da war meine Mutter eigen.

Sie hob den Blick. »Sei doch so lieb, mein Schatz.«

Ich ging auf den Flur, wo der Apparat in der Ladestation steckte, da verstummte es.

»Verwählt«, sagte ich, als ich zu ihr zurückkehrte.

Auf dem Festnetz rief kaum jemand an. Es gab ein paar wenige Freundinnen und Bekannte, doch die meldeten sich – das schien in der Generation 80plus ein unausgesprochenes Gesetz zu sein – nie vor elf. Wenn meine Mutter gefrühstückt, Lippenstift aufgetragen und mit dem Rollator eine Runde durch die Nachbarschaft gedreht hatte.

Ich stellte den Korb mit den getoasteten Brotscheiben auf den Tisch und goss mir Kaffee ein. Es war ein kurzer Moment, den ich am Morgen feierte. Durchatmen. Kraft schöpfen, bevor mich der Alltag mit seinen Anforderungen überrollte. Nicht, dass es mir etwas ausmachte, meine Mutter zu pflegen, es war nun mal so. Ein niemals endender Marathonlauf. Es gab Tage, da war sie voller Energie, an anderen schaffte sie es kaum aus dem Bett. Das waren die schlimmsten Augenblicke, weil ich glaubte, schuld an ihrer schlechten Verfassung zu sein. Und dass es ihr besser gehen würde, hätte ich neben dem täglichen Cocktail aus Einkaufen, Kochen und Den-Boden-Wischen mehr Zeit für sie. Um mit ihr zu reden, zu lachen und einen Spaziergang zu unternehmen, ohne dass mir der überfällige Waschgang oder die nächste Mahlzeit im Nacken saßen.

Ich trat mit der Kaffeetasse ans Terrassenfenster und schaute in den Garten. Die Rabatte waren zugewuchert, der Rasen vermoost, und die Bäume schienen förmlich darum zu betteln, zurückgeschnitten zu werden. Ich kam nicht dazu. Schon des Öfteren hatte ich einen Gärtner bestellen wollen, aber meine Mutter hatte jedes Mal protestiert. »Mette-Schatz, bitte keine fremden Leute im Haus.« Und sie wollte auch keine Reinemachefrau in Anspruch nehmen. »Die putzen doch nur wischiwaschi und huschhusch«, lautete das Totschlagargument. Wenn ich ihr sagte, dass es mir zu viel wurde, die hundertfünfzig Quadratmeter allein in Schuss zu halten, griff sie selbst zum Putzlappen und schrappte mit dem Rollator übers Parkett. Sauber wurde das Haus davon nicht. Und weil ich Angst haben musste, dass sie stürzte und sich etwas brach, nahm ich ihr die Arbeit meistens ab.

Wieder klingelte das Telefon.

»Vielleicht ist es Renate.« Meine Mutter streckte mir die Hand hin. »Es ging ihr gestern nicht so gut.«

Renates Gesundheitszustand war ein überzeugendes Argument, also eilte ich nach nebenan, um den Apparat zu holen. Meine Mutter meldete sich mit dem munteren Tonfall, den sie sich für Fremde aufgespart hatte. Waren wir unter uns, klang sie oft leidend, eine Spur anklagend.

»Einen Moment bitte.« Sie hielt den Lautsprecher zu. »Für dich, Schatz.«

»Ja, hallo?«

»Ich bin’s, Ole«, sagte eine Stimme, und in Sekundenbruchteilen war ich wieder siebzehn. Spürte dieselbe Unsicherheit und Verwirrung.

»Ole … wer?«, erwiderte ich, obwohl ich sehr genau wusste, wer dran war.

»Ole August Graf von Freyendorf. Matthias-Claudius-Gymnasium. Kunst-AG. Erinnerst du dich …?«

Und ob ich mich erinnerte. Die ganze Oberstufe über hatte sein Name am Schwarzen Brett gestanden und sich wie die Derbys meines Englischlehrers, wie der Geruch der Turnhalle und wie der Geschmack des Kakaos, den es in der Milchausgabe zu kaufen gab, in mein Hirn gebrannt.

Alle Mädchen hatten für Ole geschwärmt, ich wohl mehr als meine beste Freundin Josefa, die ein paar Jahre mit ihm zusammen gewesen war. Ich hatte mir nie ernsthafte Hoffnungen gemacht. Der Leiter der Kunst-AG, ein ehemaliger Schüler des Gymnasiums, sah gut aus, keine Frage. Honigfarbene Locken, graublaue Augen, filigrane Hände. Aber er war weit über zwanzig und damit zu alt für ein Schulmädchen wie mich. Das hatte mich nicht davon abgehalten, in meinem Tagebuch Seite für Seite von ihm zu schwärmen. Und jede war mit seinen Initialen verziert. OAGvF. Zu oft hatte ich die Buchstabenkombination geschrieben, um sie jemals vergessen zu können.

»Ach, hallo … guten Morgen.« Die Hand, mit der ich mir nervös den Nacken rieb, war eiskalt.

»Entschuldige, dass ich so früh anrufe. Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Nein, nein, gar nicht.«

Ich gab meiner Mutter einen Wink und verzog mich in mein Zimmer im ersten Stock. Mehr und mehr beschlich mich ein mulmiges Gefühl, und ich wusste nicht, weshalb.

»Wie geht es dir?«, fragte ich, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Unverbindlicher Tonfall.

»Gut. Eigentlich sogar sehr gut.«

Ole erzählte, dass er eine Weile in Portugal gelebt und gearbeitet habe, vor neun Jahren nach Deutschland zurückgekehrt sei und seit vier Jahren in Berlin lebe. Ich stellte kurze Zwischenfragen, er antwortete ebenso knapp, und während ich die Bücher und den Laptop auf dem neuen Arbeitstisch hin und her rückte, lief parallel ein Film in meinem Kopf ab. Wie hatte es nur dazu kommen können, dass ich bisher keine Zeile zu Papier gebracht hatte? Dabei war es meine feste Absicht gewesen, als ich den Job als Deutschlehrerin am Spracheninstitut gekündigt, die Zwei-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg aufgegeben hatte und in mein Elternhaus nach Friedenau gezogen war. Endlich wieder einen Roman schreiben, an den Erfolg von damals anknüpfen, auf Buchmessen fahren, Lesungen halten. Aber alles andere war immer wichtiger gewesen. Das Bettenbeziehen, die Einkäufe, die unzähligen Erledigungen, die anfielen, wenn man seine Mutter pflegte. Und wie ich so über die lederne Schreibunterlage strich, die von meinem Vater stammte, ging mir auf, dass ich mir mit der Angst vor dem leeren Bildschirm, den es mit Worten und Sätzen zu füllen galt, selbst im Weg gestanden hatte.

Ole ließ seinen Bericht mit einem heiseren Lacher ausklingen, dann erkundigte er sich, wie es mir ergangen sei. So hatte ich ihn in Erinnerung: stets korrekt, stets freundlich.

»Auch gut.«

Was sollte ich auch sonst sagen? Dass nichts Aufregendes in meinem Leben passierte? Weil ich um meine Mutter kreiste wie ein Satellit um die Erde und meine Mutter um mich? Dass ich beruflich versagt hatte, mir die Erkenntnis aber soeben erst gekommen war?

Ole hustete. Raucher. Jetzt fiel es mir wieder ein. Damals waren es selbst Gedrehte ohne Filter gewesen. Wir Mädchen hatten das sexy gefunden.

»Was gibt es denn?«, fragte ich, um dem unverbindlichen Geplauder ein Ende zu setzen.

»Mette«, sagte Ole mit Nachdruck, und es rührte mich, dass er mich mit meinem Vornamen ansprach. Früher hatte er das nie getan, sodass ich irgendwann angenommen hatte, er kenne ihn gar nicht. »Du klingst nicht so, als ob du es wüsstest.«

»Was meinst du?«

»Hast du heute keine Post gekriegt?«

»Nein, ich … Ich war noch nicht am Briefkasten.«

»Und gestern auch nicht?«

»Nein, gestern auch nicht.«

»Willst du eben nachschauen?«

Ich setzte mich auf die hellblaue Couch, die meine Eltern mir zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Eine Handbreit von dem Rotweinfleck entfernt, der nie mehr rausgegangen war. Damals bei der Knutscherei mit Andreas. Wegwerfen mochte ich das Relikt aus meiner Jugend nicht. Weil es so wäre, als würde man einen Teil seiner selbst auslöschen.

»Nein, das kann warten. Aber erzähl. Worum geht’s?«

Wieder dieser Husten.

»Josefa.«

Ich hielt die Luft an. Vergaß zu atmen. Es war absurd, aber ich hatte so eine Ahnung gehabt. In dem Moment, als ich Oles Stimme am Ohr gehabt hatte.

Der Kontakt zu meiner Schulfreundin war vor Jahren abgerissen. Waren es fünf? Oder sechs? Und waren wir am Ende überhaupt noch Freundinnen gewesen? Oder wie nannte man das, wenn man von einem Tag auf den anderen nicht mehr miteinander sprach?

»Was ist mit ihr?«, stieß ich hervor.

»Es tut mir leid, es dir sagen zu müssen …«

Er stockte.

»Ja?«

»Josefa ist tot.«

Ein paar Sekunden verstrichen, in denen ich seine Worte zu begreifen versuchte. Aber ...

Erscheint lt. Verlag 28.3.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 50 plus • Bücher Frauen 2024 • Dora Heldt • Freundinnen • Kinderverschickung • Küstenroman • Lebenswege • letzter Wunsch • Meer • Neuanfang • Norddeutschland • Nordsee • Roman ältere Frauen • Roman Frauen 50 • Schulfreunde • Selbstfindung • Sommer-Roman • Svenja Lassen • Sylt • Trauer • Urlaub • Verlust
ISBN-10 3-492-60630-X / 349260630X
ISBN-13 978-3-492-60630-1 / 9783492606301
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