Im Schatten zweier Sommer (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31286-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Schatten zweier Sommer -  Jan Koneffke
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Von der Leichtigkeit eines Wiener Sommers 1914 - und dem drohenden Gewitter des Krieges im Paris der späten Dreißiger. Es wird Frühjahr in Wien, und bei der jüdischen Familie des Schuhmachers Fischler wird ein Zimmer zur Untermiete frei. Der neue Mieter ist ein schüchterner, etwas verquerer Student aus Galizien. Sein Name: Joseph Roth.   Bald lernen Fanny, die ältere Tochter der Familie, und er sich kennen, und für die beiden beginnt ein heimlicher verliebter Sommer. Der allerdings endet in einer Trennung - und in geschichtlicher Dimension in einer Menschheitskatastrophe: Der Erste Weltkrieg bricht aus. Lange Jahre werden die beiden sich nicht wiedersehen - bis es Fanny nach abenteuerlicher Flucht aus Wien 1938 nach Paris verschlägt, wo sie zufällig im Deutschen Hilfskommitee ihren ersten Sommerschwarm wiedertrifft. Roth ist inzwischen berühmter Schriftsteller geworden, befindet sich ebenfalls im Exil in Paris und gerade hat Irmgard Keun, seine letzte Geliebte, die Flucht vor ihm ergriffen. Fanny wird den cholerischen, mit sich und der Welt zerstrittenen charismatischen Autor, der in seinem Kreis Hof hält wie ein Fürst und doch gerade keinen Pfennig mehr hat, bis kurz vor seinem Tod begleiten.

Jan Koneffke, geboren 1960 in Darmstadt, studierte und arbeitete ab 1981 in Berlin. Nach seinem Villa-Massimo-Stipendium 1995 lebte er für weitere sieben Jahre in Rom und pendelt heute zwischen Wien, Bukarest und dem Karpatenort M?neciu. Koneffke schreibt Romane, Lyrik, Kinderbücher, Essays und übersetzt aus dem Italienischen und Rumänischen. Er wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, zuletzt dem Uwe-Johnson-Preis 2016. Zuletzt erschienen bei Galiani Ein Sonntagskind (2015), 2020 sein von der Presse gefeiertes Erzählkunststück Die Tsantsa-Memoiren.

Jan Koneffke, geboren 1960 in Darmstadt, studierte und arbeitete ab 1981 in Berlin. Nach seinem Villa-Massimo-Stipendium 1995 lebte er für weitere sieben Jahre in Rom und pendelt heute zwischen Wien, Bukarest und dem Karpatenort Măneciu. Koneffke schreibt Romane, Lyrik, Kinderbücher, Essays und übersetzt aus dem Italienischen und Rumänischen. Er wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, zuletzt dem Uwe-Johnson-Preis 2016. Zuletzt erschienen bei Galiani Ein Sonntagskind (2015), 2020 sein von der Presse gefeiertes Erzählkunststück Die Tsantsa-Memoiren.

7


Wir standen vor einem schmiedeeisernen Eingangstor mit hohem und prachtvollem Aufsatz, an das links und rechts eine Steinmauer grenzte. Sie verlief um einen Park von beachtlicher Ausdehnung, der Teil eines Stadtpalais in seiner Mitte war, eines Baus mit Pilastern und Karyatiden und einer Feststiege, die sich zum Vorplatz verbreiterte.

Ich zerrte am Strick einer Glocke am Eingangstor. Es regte sich nichts, was nicht weiter erstaunlich war, bei der Entfernung von Straße und Haus, erst mussten wir den vom Efeu am Pfeiler dem Auge entzogenen Klingelknopf finden, bis ein Diener, livriert und mit Handschuhen, ins Freie kam. Er beeilte sich nicht auf dem Kiesweg zur Einfahrt und machte beileibe keinen offenen Eindruck. Ein barscher und grußloser Auftritt: »Wer sind Sie?«, erkundigte er sich bereits aus der Ferne und zeigte auf unsere Koffer: »Was ist das?« Ich reichte dem Diener das Schreiben Elisabeths. »Wollen Sie es bei den Herrschaften abgeben, bitte?«

Er stierte den Briefumschlag missmutig an, gab sich endlich einen Ruck und entfernte sich wieder, nur eintreten ließ uns der Hausangestellte nicht … dumm und verratzt standen wir auf dem Trottoir, und es verging eine Ewigkeit, bis sich das Eisentor in seinen Angeln bewegte.

Nein, diese Leute waren nicht aus politischem Antrieb bereit, Emigranten zu helfen. Was sie mit der Enkelin Kaiser Franz Josephs verband, waren nichts als Verwandtschaftsbeziehungen und Adelsrang. Bei einem Mittagsmahl mit meinen Hausherren beweinten sie wortreich das Schicksal Elisabeths, aus einer Kaiserfamilie zu stammen, die man um Krone und adligen Titel beraubt hatte. Nur aus Standesbewusstsein kamen sie sich verpflichtet vor, den Bitten Elisabeths Rechnung zu tragen.

Am Fuße der Feststiege fing uns der Schani ab und bedauerte, was meinen Begleiter anging, er komme im Schreiben der Archiduchesse nicht vor und solle das Anwesen bitte verlassen. Aussichtslos, mit dem Diener zu diskutieren. Meine Gastgeber zeigten sich nicht. Ich bat Emil beim Abschied, das Geld zu behalten, nahm meinen Koffer und schloss mich dem Hausangestellten an, der mich auf Kieswegen kreuz und quer zu einem Gartenhaus neben der Parkmauer brachte … in diesem Winkel war ich meinen Hausherren genehm.

An sich war im Gartenhaus alles vorhanden, ein Sofa, Gewandkasten, Waschtisch und Kanne – gleich neben der Laube befand sich ein Wasserhahn –, und ein Holzofen, den ich mit Scheiten befeuerte, die sich in großer Zahl an der Verandawand stapelten. Bald war es im Inneren trocken und einigermaßen warm. Ich litt keinen Hunger, der Diener, den ich bereits kannte, mit Vornamen passenderweise: Pierre, der niemals anders als steif, ernst und maskenhaft war, stellte mir dreimal am Tag ein Tablett auf die Schwelle. Ich hatte einen Nachttopf und nutzte ansonsten das Plumpsklo, das windschief im Dickicht stand. Pierre brachte mir, was ich verlangte: ein Radio (allem Rauschen zum Trotz hielt es mich auf dem Laufenden), Schellackplatten (im Gartenhaus gab es ein Grammophon) und Werke von Gustave Flaubert bis zu André Gide (an Literatur in nicht gerade zerlesenen Ausgaben herrschte bei meinen adligen Hausherren kein Mangel). Ich brauchte Kerzen, er schleppte sie an. Und bald hatte ich nichts mehr zu rauchen und keinen Franc … Zigaretten verschaffen, das konnte mir Pierre zwar nicht, der Comte zog Zigarre und Schnupftabak vor, freilich ließ er mir von seinen teuren Havannas bringen, und wenn sie alle waren, brachte der Diener mir neue.

Es war ein befremdliches Leben im Gartenhaus, weitab vom beschwerlichen Alltag als Emigrant und von der betriebsamen Stadt vor den Parkmauern. Meine Tage verbrachte ich mit Grammophonmusik, las und erforschte den winterkahlen, in milder werdender Witterung wiedererwachenden Park. Ich schrieb Briefe an Esti, die in Syrakus, sizilianisch verheiratet, dreifache Mutter war, und an meine Eltern und Paula, die am See Genezareth lebten, in einem Kibbuz … Lux war 1919, zu Ende des Krieges, der Spanischen Grippe erlegen. Meine Eltern und Schwestern waren nicht mehr in Reichweite Hitlers, nichts konnte erleichternder sein … und ich musste mich nicht beim Schreiben in Acht nehmen, um keine Dinge zu sagen, die sie in Gefahr brachten.

Um »nach Paris zu kommen«, reichte es, aus einer seitlichen Pforte ins Freie zu treten, die sich versteckt in der Mauer befand. Pierre hatte mir diese Pforte empfohlen, mit der ich beim Ausgehen und Heimkehren unsichtbar blieb und den Hausherren nicht in die Quere kam.

Ich war mit Emil verabredet, den ich am Arc de Triomphe oder vor Sacré-Cœur traf … als er blank war und in einem Fremdenheim am Quai d’Orsay seine Rechnung nicht zahlen konnte, sich aus dem Staub machte und an der Seine schlief, schmuggelte ich meinen Freund in den Park. Nachts blieb er im Trockenen und hatte zu essen, bei Tag schlich er sich aus dem Gartenhaus, um in der Stadt seine Lebensbedingungen zu ordnen: Bleibeerlaubnis, einen Broterwerb finden …

Pierre bemerkte nichts von meinem heimlichen Gast oder stellte sich absichtlich blind. Anders als in der ersten Zeit aß ich jetzt alles auf – der Diener verdoppelte meine Portionen (und auch diese verputzte ich bis auf den letzten Rest). Und statt einer Karaffe vom guten Bordeaux pro Tag standen mehrere bauchige Flaschen vorm Eingang, die Emil und ich vor dem Schlafengehen leerten.

Was uns zwei miteinander verband, war das Heimweh. Uns fehlte Wien, unser fesches und resches Wien, das sich mit Ende der Winterzeit streckte und reckte … wenn es vom Kahlenberg mild in die Stadt wehte und in den Parks nach Holunder und Flieder roch … was war mit unseren Kaffeehausgewohnheiten, Theaterpremieren und Partien zum Heurigen, Grantlergeseres und Schrammelmusik? … jetzt marschierte das Hitlergesindel am Ring und von Marchfeld bis Ottakring machten sich Rohheit und Stumpfsinn breit, umso verzweifelter war unsere Sehnsucht. Sie vereinte uns, wenn wir im Kerzenschein, rauchend und weintrinkend, unsere Erinnerungen austauschten und ich mir von Emil verstanden vorkam. Ich erkannte in seinem Gesicht eine Schwermut … in Stirnfalten, Augenringen, leidvollem Ausdruck, den fleischigen Wangen, die schlaff in die Tiefe hingen … die meine Befindlichkeit spiegelte.

Sicher, mein Heimweh war schlimmer als seines … Emil strengte sich an, auf die Beine zu kommen, ich tat nichts, als mich treiben zu lassen. Ich hatte meinen seelischen Kompass verschmissen, in Feldkirch, in Buchs, am Gare de Lyon, wer weiß. Ich wartete auf eine Einladung seitens der Hausherren zum Tee in der Bibliothek oder zu einem Glas Portwein vorm offenen Kaminfeuer. Ich nahm an, sie werde mein Schicksal entscheiden (und sie tat es, auf andere als von mir vermutete Weise).

Zwei Wochen vergingen oder drei, es war Anfang April, als ich auf meiner Gartenhausschwelle einen blassrosa Umschlag mit Einladungskarte fand, die in einer Handschrift aus großteils nur schwer zu entziffernden Schnecken und Brezeln verfasst war. Ich hatte keine Garderobe bei mir, die man schick oder vornehm nennen konnte, und meinen Schmuck notgedrungen der Nazibagasch vermacht, als sie meine Wohnung kleinhackte und ausraubte …

Pierre runzelte seine Stirn vor meiner Alltagskluft, mit der ich zum Mittagsmahl bei meinen Gastgebern aufkreuzte. Sie empfingen mich mit einem belegten »Bon jour, Madame«, strengten sich an, gute Miene zu machen und die gebotene Form zu bewahren. Er, der Comte, mit seinem langen Gesicht und der hohen Stirn, Spitzbart, vorquellenden Augen und Truthahnhals, der aus Krawatte und Kragen quoll, wirkte, als sei er von Jugend an grau und vertrocknet gewesen. Sie, die Comtesse, kurz- und krummbeinig, hatte den Charme eines klebrigen Zuckerls in Goldpapier. Wir nahmen im Speisesaal an einer Tafel Platz, zirka acht Meter lang, ich in der Mitte und Comte und Comtesse jeweils an einer Stirnseite. Es fiel mir schwer, meine Gastgeber zu verstehen. Sie waren zu weit entfernt, das war das Erste. Zweitens hatten sie letscherte Stimmen und lispelten. Drittens sprach niemals einer alleine, mit Vorliebe fielen sie sich gegenseitig ins Wort, ich wusste nie, wem ich mich zuwenden soll: Das machte das Déjeuner zu einer Qual.

Der Comte sprach von seinen aquitanischen Vorfahren, einem wahren Grafengeschlecht aus dem Ancien Régime, und stellte mir nach und nach alle Familienmitglieder vor, die uns, behelmt und bedreispitzt, behaubt und bepudert, von der Speisesaalwand aus belauerten … das war nur ein kleinerer Teil seiner Ahnen, mehr hingen in Bibliothek und Empfangszimmer, erfuhr ich (zu meinem Entsetzen) vom Grafen.

Bei der Comtesse ging es mehr um Elisabeth, die sie abwechselnd Erzsi und Archiducesse Windisch-Graetz nannte, trotz Elisabeths Scheidung von Otto zu Windisch-Graetz und beider Gerichtsstreit ums Sorgerecht, der zudem eine Ewigkeit her war. Ob der Comtesse diese Trennung entgangen war oder sie sie als kirchlich nicht rechtens betrachtete, ließ sich dem Singsang der Gastgeberin nicht entnehmen. Sie bedauerte nur, dass die Enkelin Kaiser Franz Josephs nicht mehr auf dem Thron sitzen konnte und sich nicht mit dem Kronprinzen Wilhelm verheiratet hatte, dem Sohn Kaiser Wilhelms II. Das sei der Plan von Franz Joseph gewesen, Elisabeth Wilhelm von Preußen anzuvertrauen, um Europa vor Krieg und Verderben zu retten, von dem das Erzsi-Kind nichts habe wissen wollen, leider … »leider, leider!«, sie hob beide Augen zur Decke.

Comte und Comtesse wussten nichts von den »roten Ideen« der Erzherzogin, das war klar, oder weigerten sich, sie zur Kenntnis zu nehmen....

Erscheint lt. Verlag 8.2.2024
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erster Weltkrieg • Exil • Exil-Autoren • Hommage • Jan Koneffke • Joseph Roth • jüdischer Schriftsteller • Legende vom heiligen Trinker • Liebesgeschichte • Paris • Wien
ISBN-10 3-462-31286-3 / 3462312863
ISBN-13 978-3-462-31286-7 / 9783462312867
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