Tag der Befreiung -  George Saunders

Tag der Befreiung (eBook)

Stories
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
320 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-29172-3 (ISBN)
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George Saunders, der 'König der Kurzgeschichte' (NZZ), erzählt einfühlsam und virtuos von den Gefängnissen, in denen wir stecken - den realen wie den eingebildeten.
'Tag der Befreiung' versammelt so virtuose wie einfühlsame Erzählungen über die Gefängnisse, in denen wir stecken, die ganz realen und die eingebildeten. Sie handeln von Macht und Moral, Liebe und Verlust, von der Sehnsucht nach menschlicher Verbindung und dem Versuch, sich von allem zu befreien. Und davon, dass die Befreiung manchmal die noch größere Katastrophe ist.

George Saunders erzählt mir großer Klarsicht von einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft: Da ist der Großvater, der in einer nicht allzu fernen dystopischen Zukunft einen Brief mit einer zärtlichen Warnung an seinen Enkel schreibt. Oder die Mutter, die ein Unrecht an ihrem Sohn sühnen möchte, dabei jedoch nur noch größeres Unrecht verursacht. Oder der Obdachlose, der sich zu einer Gehirnwäsche bereiterklärt und doch eingeholt wird von seinem früheren Leben. Oder der unterirdische Vergnügungspark, in dem Hölle gespielt wird und der alles auf die Probe stellt, was wir für die Wirklichkeit halten...

George Saunders wurde 1958 in Amarillo, Texas, geboren, lebt heute mit seiner Frau und zwei Töchtern in Oneonta, New York, und ist Dozent an der Syracuse University. Er hat mehrere Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht, erhielt u.a. 2013 den PEN/Malamud Award und 2014 den Folio Prize. Das Echo auf seinen ersten Roman »Lincoln im Bardo« war überwältigend: Man Booker Prize 2017, Shortlist für den Golden Man Booker Prize, Premio Gregor von Rezzori 2018, New York Times-Nr.1-Bestseller, SWR-Bestenliste Platz 1 und SPIEGEL-Bestseller.

LIEBESBRIEF


22. Februar 202_

Lieber Robbie,

hab Deine E-Mail bekommen, mein Junge. Entschuldige, dass ich handschriftlich antworte. Weiß nicht, ob bei dem Thema E-Mail der beste Weg ist, aber das liegt natürlich bei Dir, mein Lieber (wie Deine Mutter sagt, bist Du ja jetzt bald schon 1,80 groß), wobei, Du weißt ja: komische Zeiten.

Wunderschöner Tag hier. Gerade kam eine Familie Rehe vorbeigelaufen, Deine Großmutter und ich saßen draußen auf der Terrasse, mit den hellblauen Tassen, Deinem lieben Weihnachtsgeschenk, und kriegten gleichzeitig so ein Zucken in der Hüfte, als die Rehe Richtung Seascape sprangen, wo sie auf dem Golfplatz leicht und viel zu fressen finden, denk ich mir.

Sieh es mir nach, wenn ich im Folgenden nur Initialen verwende. Würde ungern G., M. oder J. noch mehr Schwierigkeiten einbrocken (alles gute Leute, wir haben uns sehr gefreut, sie kennenzulernen, als Ihr letzte Ostern bei uns vorbeigekommen seid), falls das hier in falsche Hände gerät und von jemand anders als Dir gelesen wird.

Ich glaube, in Bezug auf G. hast Du recht. Der Zug ist abgefahren. Ich empfehle Loslassen. Und M. hat, laut Deinen Erläuterungen, ihre Papiere zwar in Ordnung, aber wusste die ganze Zeit, dass G. keine Papiere hatte, richtig? Und hat nichts deswegen unternommen? Will natürlich nicht sagen, dass sie was hätte tun sollen. Aber wenn wir kurz mal so denken wie »sie« (die Loyalisten) – ich glaube, heutzutage empfiehlt sich das –, dann könnten wir fragen: Warum hat M. nicht getan, was sie hätte tun »sollen« (wie gesagt, laut denen und wie sie denken), nämlich jemand Zuständigen über G. informieren? Wo es doch »ein Privileg, kein Recht« ist, hier zu sein. Sind wir (ich kann’s schon nicht mehr hören) »ein Rechtsstaat« oder nicht?

Auch wenn sie ständig das Recht ändern, um es ihren Überzeugungen anzupassen!

Glaub mir, mich widert all das genauso an wie Dich.

Aber nach meiner Erfahrung (der eines alten Mannes) bewegt sich die Welt manchmal in eine bestimmte Richtung, und sobald sie das getan hat, kann sie, weil sie so groß und unergründlich ist, nicht in ihren vorherigen, besseren Zustand zurückgeführt werden, und deshalb ist es in der derzeitigen Situation an uns, würde ich sagen, so zu denken wie sie, soweit wir dazu in der Lage sind, um möglichst viele Unannehmlichkeiten und zukünftigen Schaden zu vermeiden.

Natürlich hast Du eigentlich geschrieben, um wegen J. nachzufragen. Ja, ich bin immer noch in Kontakt mit dem Anwalt, den Du erwähnt hast. Ehrlich gesagt kann der uns nicht wirklich helfen, glaube ich. Inzwischen. Als junger Mann ist er stolz wie ein Prinz ins Gericht geschritten, absolut, aber heute ist er nur noch ein Schatten seiner selbst. Damals, als das Verteidigungsministerium amtierende Richter überprüfte/ihres Amtes enthob, stellte er sich dagegen, vielleicht etwas zu engagiert, und wurde in der Presse beschimpft, sein Haus wurde beschmiert, er wurde kurzzeitig verhaftet, und heutzutage werkelt er, wie ich höre, die meiste Zeit nur in seinem Garten herum und behält seine Meinung hübsch für sich.

Wo ist J. jetzt? Weißt Du das? In einem staatlichen oder einem Bundesgefängnis? Das könnte von Bedeutung sein. Ich denke, »sie« (die Loyalisten) werden jetzt (wo sie die Macht der Gerichte hinter sich wissen) sagen, dass J., auch wenn sie Bürgerin ist, durch ihre Weigerung, die erfragten Informationen über G. & M. zu liefern, bestimmte Rechte und Privilegien verwirkt hat. Vielleicht erinnerst Du Dich an R. & K., Freunde von uns, die Dir zu Deinem fünften (sechsten?) Geburtstag diese Lincoln-Spardose aus Bronze geschenkt haben? Sie sind Loyalisten, wir haben immer noch Kontakt zu ihnen, und sie folgen genau dieser Art von Logik. Aus ihrem Fitnessstudio kennen sie einen Mann aus Aptos Village, der sich dort mit einem Typen angefreundet hat, sie waren zusammen joggen und so, und nachdem dieser Mann ablehnte, das bisherige Wahlverhalten seines neuen Freundes zu kommentieren, stellte er auf einmal fest, dass er seinen Dienstwagen nicht mehr anmelden konnte (er war Florist, das war also ein Problem). Was meinen R. & K. dazu? Wer sich weigert, »eine einfache Frage« von seiner »eigenen Heimatregierung« zu beantworten, »ist kein Patriot«.

So sieht unsere Situation derzeit aus.

Du hast gefragt, ob Du etwa danebenstehen und zuschauen sollst, wie das Leben Deiner Freundin zerstört wird.

Zwei Antworten: eine als Bürger, die andere als Großvater. (Du hast Dich in einer Lebenslage, die schwer für Dich sein muss, an mich gewandt, und ich versuche, ganz offen zu Dir zu sprechen.)

Als Bürger: Natürlich kann ich verstehen, warum ein junger (intelligenter, gutaussehender) Mensch (den zu kennen übrigens eine stetige Freude ist) es als seine Pflicht betrachtet, für seine Freundin J. »etwas zu tun«.

Aber was genau?

Das ist die Frage.

Wenn Du ein gewisses Alter erreicht hast, begreifst Du, Zeit ist das Einzige, was wir haben. Damit meine ich solche Momente wie vorhin mit den springenden Rehen, oder als ich zusah, wie Deine Mutter geboren wurde, oder als ich hier am Esszimmertisch saß und auf den Anruf wartete, der mir mitteilte, dass ein gewisses Baby (Du) auf die Welt gekommen war, oder den Tag, als wir alle draußen in Point Lobos wandern waren. Dieser irrsinnig laute Seehund, wie der Schal Deiner Schwester nach unten segelte, auf diesen salzschlierigen schwarzen Felsblock, und wie Du ihr in Monterey einen neuen gekauft hast, so großzügig warst Du, und ihre Freude darüber, wie lieb Du zu ihr warst. Das ist die Wirklichkeit. Das (und nicht mehr) bekommen wir geschenkt. Alles andere ist nur in dem Maße Wirklichkeit, wie es solche Momente stört.

Nun könntest Du sagen (ich höre Dich schon und sehe, wie Du dabei guckst), dass dieser Vorfall mit J. genau eine solche Störung ist. Das respektiere ich. Aber als Dein Großvater bitte ich Dich dringend, die Macht/Gefahr dieses Augenblicks nicht zu unterschätzen. Vielleicht habe ich Dir eine Geschichte noch nicht erzählt: In den frühen Tagen dieser ganzen Sache schrieb ich zwei Leserbriefe an das Lokalblättchen, einer war etwas überdreht, der andere humorvoll. Beide blieben ohne jede Wirkung. Wer meiner Meinung war, fühlte sich bestätigt; wer es nicht war, ließ sich nicht beeindrucken. Nachdem ein dritter Brief nicht veröffentlicht wurde, passierte Folgendes: Ich wurde, hier nicht weit vom Haus entfernt, rechts rangewunken, ohne erkennbaren Grund. Der Cop (netter Kerl, fast noch ein Kind eigentlich) fragte, was ich so den ganzen Tag täte. Ob ich irgendwelche Hobbys hätte? Ich sagte nein. Er sagte: Man hört, Sie tippen gern. Ich saß in meinem Auto und betrachtete seinen großen blassen Arm. Und dazu sein Kindergesicht. Der Arm war allerdings der Arm eines Mannes.

»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte ich.

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Sir«, sagte er. »Und Hände weg vom Computer.«

Meine Güte, seine Dummheit und Klotzigkeit da im Dunkeln, das metallische Klickern von seinem Gürtel her, die spürbare Selbstgewissheit, mit der er seine Ziele vertrat, Ziele, die mir selbst zu diesem späten Zeitpunkt einfach nicht in den Kopf wollen, in die ich mich nicht hineinversetzen kann.

Ich will nicht, dass Du irgendwann einmal unter die Fuchtel so eines Menschen gerätst, nicht mal in seine Nähe, niemals.

Jetzt möchte ich unbedingt noch den letzten Teil Deiner E-Mail ansprechen, der (da kannst Du Dir ganz sicher sein) mich weder aufgeregt noch »verletzt« hat. Nein. Wenn Du in mein Alter kommst und das Glück hast, so einen (brillanten) Enkel wie Dich zu haben, dann wirst Du auch wissen, dass nichts, was dieser Enkel sagen könnte, Dich je verletzen könnte, vielmehr hat es mich sehr berührt, dass Du in Deiner Notlage daran gedacht hast, mir zu schreiben, mich so direkt und sogar (das gebe ich zu) hart anzugehen.

Im Rückblick, ja: Es gibt einiges, was ich bedaure. Es gab eine bestimmte entscheidende Phase. Das ist mir heute klar. In jener Zeit saßen Deine Großmutter und ich jeden Abend beim Puzzeln an dem Esstisch, den Du ja sehr gut kennst, sie an ihrem, ich an meinem Puzzle. Wir hatten vor, die Küche renovieren zu lassen, waren gerade mitten dabei, die Mauern draußen im Garten für ein Heidengeld neu bauen zu lassen, bei mir gab es die ersten Anzeichen für die Zahnprobleme, von denen Du so viel (wahrscheinlich viel zu viel) gehört hast. Jeden Abend saßen wir einander gegenüber und legten unsere Puzzles, während aus dem Fernseher im Nebenzimmer diese Litanei von Dingen blökte, die es noch nie zuvor gegeben hatte, die wir uns nie im Leben vorgestellt hätten und die jetzt passierten, und die Fernsehexperten reagierten mit ironischer, satirischer Selbstgefälligkeit, wie wir alle nahmen sie an, dass all das irgendwann wieder rückgängig gemacht und das Leben zur Normalität zurückkehren würde – dass irgendwann ein erwachsener Mensch (oder mehrere) kommen und alles in Ordnung bringen würde, so wie es in der Vergangenheit immer gewesen war. Es war nicht vorstellbar (bitte vernichte diesen Brief, nachdem Du ihn gelesen hast), dass so ein Clown etwas so Edles und Erprobtes und scheinbar Stabiles zerrütten könnte, etwas, mit dem wir buchstäblich jeden Tag unseres Lebens gelebt hatten. Mit anderen Worten, wir hatten ein großes Geschenk für allzu selbstverständlich genommen. Und es nicht als glückliche Fügung erkannt, als Schimäre, als wunderbares Zusammentreffen von Übereinkunft und gegenseitigem Verständnis.

Und da der Auslöser dieser Zerstörung so unfähig wirkte, nichts als ein lachhafter Strolch (damals!), der so wenig Ahnung...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2024
Übersetzer Frank Heibert
Sprache deutsch
Original-Titel Liberation Day
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • Amerikanische Kurzgeschichte • Bestseller Autor • Dystopie • eBooks • Erzählungen • Gedankenexperiment • Gewinner des Man Booker Prize • Neuerscheinung • New York Times Bestsellerautor • Short Story • Zukunft
ISBN-10 3-641-29172-0 / 3641291720
ISBN-13 978-3-641-29172-3 / 9783641291723
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