Wie Treibgut im Fluss -  Andreas Wagner

Wie Treibgut im Fluss (eBook)

Roman | Der tiefgründige Generationenroman vom Autor von 'Jahresringe'
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46516-5 (ISBN)
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Was bedeutet Heimat? Was darf unsere Sehnsucht? Und was macht uns zu denen, die wir sind? Ein erzählgewaltiger, kluger Generationenroman über 250 Jahre deutsche Geschichte und Identität In Köln steht Niklas am Ufer des Rheins und blickt zugleich auf seine eigene Geschichte und die einer Gruppe von Auswanderern, die die Sehnsucht nach einem besseren Leben vor 250 Jahren zum Aufbruch nach Amerika trieb. Ihr Traum endete bereits am Niederrhein, wo man sie nicht über die Grenze nach Holland ließ. Und Niklas' Traum? Welche Sehnsucht trieb ihn hin zu einer anderen Frau? Und kann er seinem kleinen Sohn Lewin trotzdem ein guter Vater sein? In der Geschichte seiner Großmutter Josephine sucht Niklas nach Antworten: Was bedeutet Heimat? Was darf die Sehnsucht? Und was macht uns zu den Menschen, die wir sind? Mit kraftvoller Sprache, einfühlsam und geradlinig erzählt der Roman von den Zwischenräumen von Freundschaft und Liebe, den eigenen und fremden Wünschen und von der Suche nach Antworten im Leben unserer Vorfahren.  Lesen Sie auch Andreas Wagners ersten Roman 'Jahresringe', in dem eine große deutsche Nachkriegsgeschichte erzählt wird. »In seinem Roman-Debüt ?Jahresringe? erzählt Andreas Wagner mit großem Einfühlungsvermögen von den Menschen und ihrer zu jeder Zeit und allerorten auszumachenden Suche nach Heimat und Identität.« erlesen

Andreas Wagner, 1978 in Neuss geboren, studierte Sozialpädagogik und arbeitet heute an einer Realschule in Köln. Gemeinsam mit seinen drei Töchtern lebt er in der Domstadt am Rhein. Zum Verfassen literarischer Texte kam er über das Schreiben von Songs, durch das er schon als Jugendlicher einen künstlerischen Ausdruck fand. Nach »Jahresringe« ist »Wie Treibgut im Fluss« sein zweiter Roman. Die Weite seiner niederrheinischen Heimat inspirierte ihn dabei ebenso wie die Lebenserinnerungen seiner Großmutter. Er hat eine Schwäche für Schokolade und ausgedehnte Spaziergänge, bei denen er sich mit den Sehnsüchten und Abgründen seiner Romanfiguren auseinandersetzt und neue Ideen sammelt.

Andreas Wagner, 1978 in Neuss geboren, studierte Sozialpädagogik und arbeitet heute an einer Realschule in Köln. Gemeinsam mit seinen drei Töchtern lebt er in der Domstadt am Rhein. Zum Verfassen literarischer Texte kam er über das Schreiben von Songs, durch das er schon als Jugendlicher einen künstlerischen Ausdruck fand. Nach »Jahresringe« ist »Wie Treibgut im Fluss« sein zweiter Roman. Die Weite seiner niederrheinischen Heimat inspirierte ihn dabei ebenso wie die Lebenserinnerungen seiner Großmutter. Er hat eine Schwäche für Schokolade und ausgedehnte Spaziergänge, bei denen er sich mit den Sehnsüchten und Abgründen seiner Romanfiguren auseinandersetzt und neue Ideen sammelt.

Wirbel


Aus der Tiefe tauchen Wirbel an die Oberfläche. Sie erscheinen aus dem Nichts, sind nichts als Wasser in Bewegung. So unergründbar wie unvorhersehbar winden sie sich ineinander, umeinander. Und miteinander reiten sie über die seichten Wellen, tanzen den Fluss hinab, bis sie aus meinem Blickfeld verschwinden, um immer neuen Strömungen Platz zu machen, die aus der gleichen Tiefe emporsteigen und sich immer gleich und doch immer verschieden auf ihren flussabwärts gerichteten Weg machen. Ich hebe meinen Blick und sehe ihnen nach, bis sie in der Entfernung unsichtbar werden.

Damals gab es noch keine Frachter, Tanker oder Flusskreuzfahrtschiffe. Keine Müllverbrennungsanlage auf der anderen Uferseite, kein Chemiewerk stromabwärts, nicht die Hochhäuser der Millionenstadt stromaufwärts.

Der Fluss floss, wie er fließen wollte. Der Rhein war ein freier Strom, heute ist er fast überall begradigt und in Form gebracht. So auch hier. Damals gab es keine Mauer, keine Promenade, nur Kieselstrand. Das Ufer war dort, wo der Fluss es angelegt hatte, nicht die Menschen. Es gab auch noch keine Brücke, die existiert erst seit hundert Jahren. Eine Fähre querte den Fluss. Wenn es einmal einen Anlass gab, auf die andere Rheinseite zu gelangen, war man dem Fährmann ein paar Münzen schuldig. Da brauchte es schon einen sehr guten Grund. Man fuhr nicht einfach so zum Vergnügen hinüber. Wenn es so etwas überhaupt gab: Vergnügen.

Lewin ruft.

Ich wende dem Fluss meinen Rücken zu und sehe in Richtung Spielplatz, der hier, ganz idyllisch, direkt am Rhein unter alten Linden liegt. Lewin hat zum fünfundzwanzigsten Mal nach mir gerufen. Er steht zum fünfundzwanzigsten Mal oben auf dem Klettergerüst und winkt. Und gleich wird er wieder hinunterrutschen – zum fünfundzwanzigsten Mal. Und dann wird sich sein Spiel wiederholen. Zum sechsundzwanzigsten Mal, zum siebenundzwanzigsten Mal. Ich zähle mit. Was soll ich sonst machen? Anders als die meisten anderen Väter und Mütter habe ich mir vorgenommen, nicht die ganze Zeit auf mein Telefon zu glotzen. Außerdem bleibt es eh stumm. Keine Nachricht, kein Anruf. Es ist ernüchternd, das mit jedem Blick auf den Bildschirm immer wieder feststellen zu müssen.

Ich bin auch keiner dieser Wochenendväter, die in übertriebener Lautstärke mit ihren kleinen Prinzen oder Prinzessinnen toben und spielen. Eine Lautstärke, die jedem klarmacht, dass hier pädagogisch und familiär vermeintlich alles bestens läuft. Bei mir läuft nicht alles bestens. Bei mir läuft nicht einmal alles normal. Dabei wäre ich so gerne ein ganz normaler Vater.

Ich drehe mich wieder zum Fluss, schon allein, damit Lewin nicht sieht, dass mir schon wieder die Tränen kommen. Und auch, weil es so schön einfach ist, in eine Geschichte zu fliehen, die nicht die eigene ist.

 

Vor zweihundertachtzig Jahren, genauer gesagt an einem Tag Ende Juni 1741, müssen sie hier vorbeigesegelt sein: die Auswanderer, die Flüchtlinge, die Glücksritter. Sie kamen aus dem Hunsrück, von irgendwo südlich der Mosel. Aus drei oder vier Dörfern hatten windige Anwerber sie zusammengesammelt. Wohlstand hatte man ihnen versprochen, Land im Überfluss, vor allem aber religiösen Frieden. Sie waren allesamt evangelisch: lutherisch, calvinistisch. Erst einmal egal, jedenfalls nicht katholisch, wie alle anderen in ihrer Heimat. Sie waren ausgegrenzt und unterdrückt worden. Die Reformation hatte im Hunsrück keine tiefen Wurzeln geschlagen. Ein paar zarte Pflänzchen waren sie. Eine Handvoll in jedem Ort. Sie hatten keine Kirchen bauen dürfen, keine eigenen Schulen. Selbst zu einem harmlosen Gebet, zu einer Bibelstunde hatten sie sich heimlich treffen müssen. Und niemand wollte mit den ketzerischen Familien etwas zu tun haben. Diskriminierung würde man das heute nennen. Heute könnten sie vor ein Gericht ziehen und auf Gleichbehandlung klagen. Aber damals gab es kein Recht, so zu sein, wie man sein wollte. Wenn man nicht so war, wie es verlangt wurde, blieben einem nur zwei Möglichkeiten: Entweder man passte sich zähneknirschend an, oder man packte seinen spärlichen Besitz und verschwand.

Wir wissen kaum noch etwas von diesen Menschen. Aber eines wissen wir sicher: Sie waren Menschen wie wir. Alte, Kinder, junge Mütter und Väter. Und wie wir wollten sie leben und glücklich sein dürfen. Sie alle hatten eine Mutter und einen Vater, einen Anfang und ein Ende. Sie alle hatten ein Gesicht, und sie alle hatten einen Namen. Und wie es im Dialekt ihrer Heimat üblich war, stellten sie den Familiennamen vor den Rufnamen.

Der Martini Peter war niemand, den man verbiegen konnte. Selbst wenn er es gewollt hätte, selbst wenn er dem Wohle seiner jungen Familie zuliebe seine Überzeugungen hätte aufgeben und sich wieder dem Papsttum unterwerfen wollen, er hätte es nicht gekonnt. Er war zu stur und vielleicht auch einfach zu naiv.

Peters Familie stammte aus dem Hunsrück, sie war seit Generationen dort sesshaft. Seit Adam und Eva, wie man zu sagen pflegte, und manche glaubten wohl, dass es wirklich so war. Zumindest aber seit einer Ewigkeit. Eine Ewigkeit war die Zeitspanne, die die älteste noch lebende Generation aufgrund von Erzählungen der Vorfahren geradeso überblicken konnte. Sie ging vielleicht zurück bis zu den Großeltern der Großeltern, auf keinen Fall weiter. Und nach diesen Maßstäben war Peters Familie seit einer Ewigkeit eine Hunsrücker Bauernfamilie.

Evangelisch waren sie noch keine Ewigkeit. Peter wusste, dass sein Großvater damals der Erste im Dorf gewesen war, der sich von einem der durchreisenden Wanderprediger hatte überzeugen lassen und den neuen Glauben angenommen hatte. Peters Mutter und ihre Geschwister waren dann die Ersten in der Familie gewesen, die evangelisch getauft worden waren. Darauf waren sie stolz gewesen, auch wenn es nicht ihre Leistung war, und auch wenn Stolz eigentlich eine Sünde darstellte. Und ein Sünder wollte man auf keinen Fall sein, jetzt, da man begriffen hatte, dass man von der Gnade des Herrn abhing und von seiner Güte. Jetzt, da man verstanden hatte, dass sich die Güte Gottes im Fleiß seiner Kinder zeigte, wollte man sich ja nicht mehr auf die faule Haut legen und den Eindruck erwecken, vom Herrn mit weniger Arbeit beschenkt worden zu sein.

Von klein auf bestand Peters Leben aus Arbeit. Arbeit als Zeichen der Gnade, Arbeit als Mittel gegen Müßiggang, und sowieso: Arbeit als Notwendigkeit im Überlebenskampf.

 

In einem heißen Sommer in seiner Kindheit – eine der beiden Kühe, die die Familie noch ernährte, hatte man im Frühjahr schlachten müssen, weil der Winter ungewöhnlich lang, das Heu des Vorjahres knapp wie immer, die Schneedecke besonders wehrhaft und das frische Gras unerreichbar gewesen waren – wurde Peter mit seinem jüngeren Bruder zur Arbeit auf die Wiese oberhalb des Dorfes geschickt. Der Vater hatte Heu gemacht, und ihre Aufgabe lautete nun, das frisch gemähte Gras zu wenden, damit es in der Sonne trocknen und später auf dem Heuboden nicht verfaulen konnte. Die Jungen waren ganz allein am Hang, ohne die gestrengen Blicke der Eltern. Sie wussten um ihre Aufgabe, um die überlebenswichtige Bedeutung der Ernte, aber sie waren schließlich noch Kinder. So ließen sie einen Moment lang den anstrengenden Gedanken an die bevorstehende Beschwerlichkeit dahinziehen. Einen kurzen Augenblick nur. Ein kleines bisschen Kind sein. Der Bruder rief irgendetwas. Peter lachte und schubste ihn zum Spaß. Und dann sprangen sie, gestützt auf ihre Heugabeln, über das aufgereihte, frisch geschnittene Gras. Und dann stürzten sie sich in das weiche, warme Heu. Und dann bewarfen sie einander damit, wälzten sich darin und umeinander, bis ihre Haare und ihre Kleidung voller Halme und Dreck waren und ihre kleinen Herzen vor Vergnügen rasten. Schließlich lagen sie glückselig auf dem Boden, und wenn einer der beiden wieder zu Atem gekommen war, packte er den anderen, und sie rannten erneut einander nach, sprangen über die Heureihen, bergauf und bergab. Es war genauso anstrengend wie die Arbeit, die sie hätten tun sollen, aber die Arbeit war eintönig gewesen und fad. Und vor allem mussten sie sie erledigen, von Wollen konnte keine Rede sein.

Die dunklen Wolken sahen sie nicht. Und auch den heraufziehenden Donner nahmen sie nicht wahr. Erst als die ersten, dicken Tropfen ihnen auf die Köpfe prasselten, bemerkten sie, dass ein heftiges Gewitter auf das Dorf zuzog. Von Westen her verdunkelte sich der Himmel. Es begann zu stürmen, und von jetzt auf gleich peitschte den beiden Jungen der Regen beinahe waagerecht ins Gesicht. Plötzlich schoss ihnen durch den Kopf, was ihre Aufgabe gewesen war. Wie dumm waren sie gewesen, einfach zu spielen? Aber jetzt war an Arbeit nicht mehr zu denken. Peter nahm seinen Bruder bei der Hand und rannte mit ihm zur Eiche auf der Nachbarwiese. Regen und Sturm rangen miteinander um das Heu. Entweder es würde in Form matschiger Klumpen auf den Boden gepresst, oder die federleichten Halme wehten davon. Wie auch immer: Die komplette Heuernte würde vernichtet werden. Es war eine Katastrophe, und Peter und sein Bruder befanden sich plötzlich mittendrin.

Zu der Eiche durften sie eigentlich nicht, stand sie doch auf der Wiese vom katholischen Färber Hans. Und die hatten sie, die Evangelischen, nicht zu betreten. Aber was machte das jetzt? Sie brauchten doch Schutz. Und die Eiche versprach wenigstens etwas von dem peitschenden Regen abzufangen. Der Donner wurde ohrenbetäubend, der Regen so dicht, dass die Dächer des Dorfes unterhalb der Wiesen schon nicht mehr zu sehen waren. Alles verschwand im nassen Dunkelgrau. Und dann...

Erscheint lt. Verlag 2.4.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 18. Jahrhundert • 19. Jahrhundert • Auswandern Amerika • Auswandern USA • Deutsche Auswanderer • Deutsche Geschichte • Deutschland Roman • Dialekt • Dorf • Dörte Hansen • Edgar Reitz • Evangelische Kirche • Ewald Arenz • Familiengeschichten • Familiengeschichten Romane • Familienroman • Flucht • Generationenroman • Gesellschaftsromane • Heimat • Heimatgefühl • Heimatverlust • Holland • Homophobie • Hunsrück • Identität • Jahresringe • Katholizismus • LGBTQ+ • Mechthild Borrmann • Michaela Küpper • Migranten • Migration • Nachkriegsdeuschland • Niederrhein • Pennsylvania • Pennsylvanien • Pfalz • Pfälzer • Rheinland • roman Heimat • Umsiedelung • Verbotene Liebe • Vertreibung • Weltkrieg • Wurzeln • Zeitgeschichte Roman • Zugehörigkeit
ISBN-10 3-426-46516-7 / 3426465167
ISBN-13 978-3-426-46516-5 / 9783426465165
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