Griechischstunden (eBook)
204 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-3521-3 (ISBN)
In einem Klassenzimmer in Seoul beobachtet eine junge Frau ihren Griechischlehrer. Sie versucht, zu sprechen, aber sie hat ihre Stimme verloren. Ihr Lehrer fühlt sich zu der stummen Frau hingezogen, denn er verliert von Tag zu Tag mehr von seinem Augenlicht. Bald entdecken die beiden, dass ein tiefer Schmerz sie verbindet. Sie hat in nur wenigen Monaten sowohl ihre Mutter als auch den Kampf um das Sorgerecht für ihren neunjährigen Sohn verloren. Für ihn ist es der Schmerz, zwischen Korea und Deutschland aufzuwachsen, zwischen zwei Kulturen und Sprachen hin- und hergerissen zu sein. Langsam entdecken die beiden ein tiefes Gefühl der Einheit, und ihre Stimmen überschneiden sich mit verblüffender Schönheit.
Han Kang hat einen schillernden Roman über die rettende Gnade der Sprache geschrieben.
Han Kang ist die wichtigste literarische Stimme Südkoreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, seitdem erschienen zahlreiche Romane. Seit sie für »Die Vegetarierin« gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize erhielt, haben ihre Bücher auch international großen Erfolg. Auch der Roman »Weiß« war für den Booker Prize nominiert, »Menschenwerk« erhielt den renommierten italienischen Malaparte-Preis. Im Aufbau Taschenbuch ist ebenfalls ihr Roman »Deine kalten Hände« lieferbar. Mehr Informationen zur Autorin unter www.writerhankang.com.
»Eine Ausnahmeautorin« – Süddeutsche – Zeitung 20240315
»Die vielleicht leiseste Liebesgeschichte der Welt.« – Die Zeit
»Han Kangs Stimme kann man sich nicht entziehen.« – The Independent
»Dieser Roman ist ein Fest des unaussprechlichen Vertrauens, das im Austausch von Sprache zu finden ist... Han Kang ist eine scharfsinnige Chronistin der ungewöhnlichen, rebellischen Frauen. « – New York Times
»Han Kang erzählt zugleich mit großer Brutalität und großer Poesie - eine Mischung, die nur wenigen Schriftstellern gelingt.« – stern
»Han Kang erzählt so intensiv, dass man manchmal die Augen schließen möchte.« – HR2 Kultur
»Han Kang ist eine der eigenwilligsten, kraftvollsten, innovativsten Autorinnen unserer Zeit.« – Die Zeit
2
Schweigen
Die Frau verschränkt die Hände vor der Brust. Mit gerunzelter Stirn betrachtet sie die schwarze Tafel.
»Bitte, versuchen Sie das vorzulesen«, sagt der Mann mit den dicken Brillengläsern lächelnd.
Sie bewegt die Lippen. Mit der Zungenspitze befeuchtet sie die Unterlippe. Sie sitzt da und knetet ihre Hände. Es ist mucksmäuschenstill. Sie öffnet den Mund und schließt ihn gleich wieder. Sie hält kurz den Atem an, bevor sie tief Luft holt. Er unterstützt sie, indem er einen Schritt auf die Tafel zumacht, um ihr zu signalisieren, dass er so lange wie nötig warten würde:
»Lesen Sie.«
Die Lider der Frau flattern, ganz wie bei einem Insekt, das seine Vorderflügel heftig aneinanderschlägt. Sie kneift einmal kräftig die Augen zusammen, bevor sie sie wieder öffnet. Als hoffte sie, durch diese Bewegung an einen anderen Ort teleportiert worden zu sein.
Der Mann rückt seine Brille zurecht. An den Fingern lassen sich Spuren von weißer Kreide erkennen. »Versuchen Sie es nur. Ich bin ganz Ohr.«
Sie trägt einen schwarzen hochgeschlossenen Pullover und eine ebenfalls schwarze Hose. Genauso wie die Jacke, die sie über die Rückenlehne ihres Stuhls gehängt hat. Aus einer schwarzen Stofftasche lugt ein gestrickter schwarzer Schal. Über ihrer Kleidung, die wirkt, als käme die Frau gerade von einer Beerdigung, sitzt ein grobporiges, mageres Gesicht. Ähnlich einer Ton-Figur, die man in die Länge gezogen hat.
Sie ist weder jung noch schön. Aus den Augen spräche eine gewisse Intelligenz, wenn nicht die flatternden Lider verhindern würden, dass man das bemerkt. Mit nach vorne gekrümmten Schultern und rundem Rücken scheint sie sich durch ihr trauriges Aussehen der Aufmerksamkeit anderer entziehen zu wollen. Ihre Nägel sind furchtbar kurz geschnitten. Der einzige Farbtupfer an ihr ist ein purpurroter Haargummi aus Samt, um das linke Handgelenk geschlungen.
»Lesen wir alle gemeinsam.«
Er kann nicht länger warten. Sein Blick wandert von ihr über die Stuhlreihe zu dem jugendlich aussehenden Studenten, über den Mann in den mittleren Jahren, halb verdeckt durch eine Säule, bis zu dem großen jungen Mann mit seinen hängenden Schultern direkt am Fenster.
»Emos, hemeteros. Mein, unser.«
Die drei Männer sprechen ihm nach, leise und schüchtern.
»Sos, humeteros. Dein, euer.«
Er steht etwas erhöht auf dem Lehrerpodest. Von Statur her eher klein, geht er auf die vierzig zu. Seine Augenbrauen sind markant, ebenso die Ausprägung des Philtrums, der beiden Linien zwischen Nase und Oberlippe. Seine leicht gekräuselten Mundwinkel deuten darauf hin, dass er seine Gefühle unter Kontrolle hat. Auf die dunkelbraune Cordjacke sind an den Ellbogen beige Lederflecken genäht. Die etwas zu kurzen Ärmel geben den Blick frei auf seine Handgelenke. Eine Narbe in seinem Gesicht – nur ein feiner geschwungener Strich, etwas heller als die Haut, der unter dem linken Auge beginnt und sich bis auf Höhe der Lippen erstreckt – hat die Aufmerksamkeit der stummen Frau auf sich gezogen. Als sie diese Linie in der ersten Unterrichtsstunde entdeckte, sah sie darin einen Weg auf einer alten Landkarte, der die Spur einer vor langer Zeit geflossenen Träne markierte.
Hinter den dicken grüngetönten Brillengläsern starren seine Augen gebannt auf ihren geschlossenen Mund. Das leichte Lächeln verschwindet aus seinen Mundwinkeln und macht einem ausdruckslosen Gesicht Platz. Er wendet sich ab. Schnell schreibt er einen kurzen Satz in Altgriechisch an die Tafel. Die Kreide bricht und ein Stück fällt zu Boden, bevor er die Akzente setzen kann.
Ein Jahr zuvor, das Frühjahr neigte sich seinem Ende zu, stand die Frau vor einer Tafel und stützte sich mit kreideverschmierter Hand ab. Schon seit ungefähr einer Minute suchte sie nach dem passenden Wort, um ihren Satz fortzusetzen. Ihre Schüler wurden unruhig. Mit weitaufgerissenen Augen stand sie da, doch ihr Blick ging ins Leere. Sie nahm weder die Schüler noch ihre Umgebung wahr.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte besorgt eine kraushaarige Schülerin aus der ersten Reihe mit niedlichen Augen. Vergeblich versuchte die Frau sich ein Lächeln abzuringen, brachte aber nur ein kurzes Wimpernzucken zu Wege. Zwischen bebenden zusammengepressten Lippen konnte sie gerade noch herausquetschen:
Es ist wieder da.
Die Laute schienen nicht aus ihrem Kehlkopf über die Zunge zu kommen, sondern von weit her.
Die Schüler, ungefähr vierzig, sahen sich an und tuschelten: »Was ist los?« »Was hat sie?« Von einer Bank zur nächsten gingen Fragen hin und her. Ihr blieb nur eine Möglichkeit. Sie musste das Klassenzimmer verlassen, möglichst ohne die Haltung zu verlieren. Das tat sie dann auch, zumindest so gut sie konnte. Sobald sie auf dem Gang war, schwoll das Geflüster in dem Raum hinter ihr an, als hätte man einen Lautsprecher plötzlich aufgedreht, sodass sie das Klackern ihrer Absätze auf dem Steinboden nicht mehr hörte.
Nach ihrem Universitätsstudium hatte sie zunächst etwa sechs Jahre in einem Verlag und einem unabhängigen Lektoratsbetrieb gearbeitet. Nun waren es schon bald sieben Jahre, dass sie an zwei Universitäten und einem Kunstgymnasium im Großraum Seoul Literatur unterrichtete. Während dieser Zeit hatte sie in Abständen von drei bis vier Jahren insgesamt drei Bändchen mit ernsten Gedichten veröffentlicht und schrieb nun schon seit einigen Jahren eine Kolumne für ein Literaturmagazin, das zwei Mal im Monat erschien. Seit kurzem nahm sie als Gründungsmitglied eines Kulturmagazins, dessen Name allerdings noch nicht endgültig feststand, jeden Mittwochnachmittag an einer Planungssitzung teil.
Da es wieder aufgetreten war, hatte sie alle Aktivitäten eingestellt.
Ihrer Meinung nach war sie grundlos und aus heiterem Himmel davon überfallen worden.
Zugegeben, ihre Mutter war vor sechs Monaten gestorben, und im Zuge ihrer Scheidung vor einigen Jahren hatte sie schließlich das Sorgerecht für ihren neunjährigen Sohn verloren. Nachdem sie durch drei Instanzen gegangen war, war ihr Sohn vor fünf Monaten endgültig zu ihrem Exmann gezogen. Seitdem litt sie unter Schlaflosigkeit, und der grauhaarige Psychologe, den sie deswegen aufsuchte, konnte nicht verstehen, warum sie ihre Augen vor dem Offensichtlichen verschloss. Die Gründe lägen doch auf der Hand.
Nein, hatte sie auf das weiße Blatt geschrieben, das vor ihr auf dem Tisch lag. Das ist nicht so einfach.
Das war die letzte Sitzung mit ihm. Dass sie alles aufschreiben musste, nahm viel zu viel Zeit in Anspruch und führte darüber hinaus zu Missverständnissen. Daher hatte sie auch freundlich, aber bestimmt seinen Vorschlag abgelehnt, ihr einen auf Sprachstörungen spezialisierten Kollegen zu empfehlen. Davon abgesehen hätte sie auch gar nicht mehr die Mittel gehabt, um sich so eine teure Therapie leisten zu können.
Das Kind war sehr intelligent. Zumindest hatte ihm das seine Mutter immer wieder gesagt, während des langen Jahres ihrer Chemotherapie. Als ob dies etwas sei, von dem sie ihr Kind unbedingt noch überzeugen musste, bevor sie starb.
Zweifellos stimmte das, zumindest was die Sprachbegabung betraf. Mit vier Jahren hatte sich die Kleine selbst die koreanische Schrift beigebracht. Sie hatte die Schreibweise der Wörter einfach auswendig gelernt, ohne sich über das Wesen von Vokalen und Konsonanten im Klaren zu sein. Erst als sie sechs war, hatte ihr der große Bruder, der schon zur Schule ging, den Aufbau der koreanischen Sprache nähergebracht, indem er den Lehrer spielte. Seine Erklärungen hatten sie zunächst verwirrt. Aber danach verbrachte sie ihre Nachmittage damit, dass sie sich, im Hof hockend, die Sache mit den Konsonanten und den Vokalen immer wieder durch den Kopf gehen ließ....
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2024 |
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Übersetzer | Ki-Hyang Lee |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | 희랍어 시간 hy-rab-ǒ si-gan |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Booker Preis 2016 • Bücher aus Südkorea • Han Kang • Haruki Murakami • Liebesgeschichte • Man Booker International Prize 2016 • Murakami • Nobelpreis • Nobelpreis Literatur • Nobelpreisträgerin • Sprachlosigkeit • Südkorea • Vegetarierin |
ISBN-10 | 3-8412-3521-2 / 3841235212 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3521-3 / 9783841235213 |
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