Godwin (eBook)

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2024 | 1. Auflage
432 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00223-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Godwin -  Joseph O'Neill
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Mark Wolfe ist im Job gerade wegen «Überarbeitung» in den Urlaub geschickt worden, als er zum ersten Mal seit Jahren von seinem Bruder in England hört. Geoff war schon immer ein Geschäftemacher; nun hat er etwas Großes am Wickel und bittet Mark um Hilfe. Er hat ein Video zugespielt bekommen: ein Ballplatz. Rote Erde. Ein Junge, der Fußball spielt wie ein Gott. Die Welt des Fußballs, sagt Geoff, ist gefährlich, aber dieser Junge ist Millionen wert. Man muss ihn nur finden.  Bald schon steigt Geoff frustriert aus dem Geschäft aus. Doch Mark findet heraus, dass das Video aus Benin stammt. Und er beschließt, sich mit einem halbseidenen Franzosen, der den Markt der Jungtalente aus Afrika kennt, auf die Suche nach dem Jungen zu machen. Als der Franzose ihn übers Ohr haut und alleine fliegt, kehrt Mark zurück in den Job, wo es auch Drama genug gibt. Doch eines Abends steht der Franzose vor seiner Tür. Er hat den Jungen gefunden. Er war nicht der Erste. Und er erzählt Mark eine ungeheuerliche Geschichte. «O'Neill vermisst geschickt Perspektiven auf Postkolonialismus und Globalisierung.» Die Zeit

Joseph O'Neill wurde 1964 als Sohn einer Türkin und eines Iren in Cork geboren und wuchs in Holland auf. Er studierte Jura in Cambridge und arbeitete als Anwalt in London. Später ließ er sich als freier Autor in New York nieder. Für seinen internationalen Bestseller Niederland wurde er 2009 mit dem PEN/Faulkner-Award ausgezeichnet, Das Buch war außerdem, wie sein zweiter Roman Der Hund, für den Man Booker Prize nominiert.

Joseph O'Neill wurde 1964 als Sohn einer Türkin und eines Iren in Cork geboren und wuchs in Holland auf. Er studierte Jura in Cambridge und arbeitete als Anwalt in London. Später ließ er sich als freier Autor in New York nieder. Für seinen internationalen Bestseller Niederland wurde er 2009 mit dem PEN/Faulkner-Award ausgezeichnet, Das Buch war außerdem, wie sein zweiter Roman Der Hund, für den Man Booker Prize nominiert. Nikolaus Stingl, geb. 1952 in Baden-Baden, übersetzte unter anderem William Gaddis, William Gass, Graham Greene, Cormac McCarthy und Thomas Pynchon. Er wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis, dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Stuttgart, dem Paul- Celan-Preis und dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet.

M


Ich bringe die jüngsten ungewöhnlichen Ereignisse mit einem ganz unbedeutenden Vorfall in Zusammenhang, der ihnen vorausging. Im Dezember spazierte ich, tief in Gedanken bei einem künftigen Zeitalter, wie ich es mir ausmalte, eine Straße entlang, als ich im Aufblicken durch die Schaufensterscheibe eines Restaurants eine alte Dame bemerkte, die gierig ein Eis verschlang. Ich bin mir nicht sicher, was mich bewog, stehen zu bleiben. Ich kann nur vermuten, dass es an dem Umstand lag, dass wir Heiligabend hatten, die Temperatur fünfzehn Grad betrug und dass jemand, der an einem warmen Wintertag in Pittsburgh ein Gelato aß, eine Art letzten Strohhalm darstellte. Mehrere Sekunden lang starrte ich ihre lebhafte blaue Zunge an, scheinbar ein Lebewesen, das immer wieder aus seiner Höhle hervorspitzte. Außerdem starrte ich den verwahrlost wirkenden Mann mittleren Alters an, der sich im Fenster spiegelte. Offenbar war es ihm unerträglich, dass sich eine alte Frau Eiscreme schmecken ließ. Ich ging, in jeder Hinsicht angeekelt, weiter. Der einzige Grund für meinen Ekel – muss das noch extra gesagt werden? – war natürlich meine eigene Gehässigkeit.

Also: Ich hatte den Geschmack des Lebens – nicht meines Lebens, das von Liebe berührt war, sondern den des menschlichen Lebens schlechthin – mehr als nur ein bisschen satt. Das zu Ende gehende Jahr, 2014, war ein finsteres gewesen. Ich will die Finsternis gar nicht beschreiben; ich lehne ihre Herrschaft ab. Ich will nur sagen, dass ich Trost darin fand – und, um ehrlich zu sein, trotz der Berührung durch die Liebe immer noch finde –, über die sicher keine tausend Jahre mehr entfernte Zeit zu phantasieren, da unsere Art die Erde nicht mehr bevölkern und endlich ein gewisser Frieden einkehren wird. (Diese Schätzung mag niedrig erscheinen: Schließlich wird Homo sapiens von der Internationalen Union für die Erhaltung der Natur als die am wenigsten gefährdete Spezies eingestuft. Aber alles geht schnell bergab, und die Menschheit ist nur ein flaches Hügelchen, wie uns die Paläontologie lehrt.) Ein flüchtiger Eindruck von dieser glücklichen Zukunft bot sich in der Wildnis der entmilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea, wo in Abwesenheit des Menschen neuerlich eine außergewöhnliche Fauna gedieh; und auch in den verstrahlten Wäldern der Sperrzone von Tschernobyl, die stetig wachsenden Populationen von Wolf, Bär, Wildpferd, Elch, Adler, Wildschwein und Luchs Schutz bieten. Für mein verdüstertes Gemüt fungierten diese großartigen natürlichen Nomen als Gegenbegriffe zu Wörtern wie «Enthauptung», «Selbstmordanschlag», «Massenvertreibung», «Massenentführung», «Massenversklavung» und «Massensterben».

Ich muss erklären, was ich mit der Finsternis meine. Ich meine keine bösartige unsichtbare Kraft – keinen großen Widersacher. Ich meine die Dummheit, und zwar nicht die Einfalt und rohe Stumpfheit von ehedem, mit der der Tölpel den Donner der göttlichen Stimme vernahm. Ich meine die moderne Dummheit, will sagen, eine Dummheit, die zweckgerichtet, übertragbar und seltsam gierig ist und überall mit solcher Geschwindigkeit zunimmt, dass ich manchmal denke, es ist nicht das Polareis, das schmilzt, sondern auch irgendein unentdeckbarer Kontinent gefrorener Idiotie. Damit will ich nicht andeuten, dass ich mich über all das erhaben dünke. Das Gegenteil ist der Fall. Ich hatte das starke, hoffnungslose Gefühl, dass ich dabei war unterzugehen. In diesem Sinne trifft es zu, von einem Notfall zu sprechen.

Am letzten Tag des Jahres 2014, als endlich winterliche Kälte eingetreten ist, kommen Sushila und Fizzy am Nachmittag nach Hause und finden mich im Sessel sitzend vor. Ich lese zu meiner eigenen Zerstreuung ein Buch, das ich für Fizzy gekauft habe, die drei Jahre alt ist – William Steigs Dracheninsel.

Irgendetwas in meinem Gesicht beunruhigt meine Frau wohl. «Was ist passiert? Mark?»

Sie schnallt Fizzy los, blickt mir dann über die Schulter auf meinen Laptop, der neben meiner Ausgabe der Dracheninsel aufgeklappt ist. Der Artikel, den ich aufgerufen habe, betrifft – ich bringe es kaum über mich, das zu akzeptieren – das letzte männliche Exemplar des nördlichen Breitmaulnashorns auf der Welt. Dieses Nashorn verbringt seine Tage in einem kenianischen Gehege unter dem Schutz bewaffneter Wachen, weil das Tier ohne diesen Schutz mit Sicherheit von Wilderern getötet werden würde. Man hat ein Verteidigungssystem eingerichtet, zu dem Wachhunde, Wachtürme, Zäune und Drohnen gehören. Ebenfalls in Gewahrsam gehalten werden Tochter und Enkeltochter des Nashorns. Man hofft, dass der alte Bulle eine oder beide besamen wird, sodass das nördliche Breitmaulnashorn noch ein Weilchen erhalten bleibt. Aber diese Hoffnung hat sich noch nicht erfüllt, und die Aussichten dafür stehen nicht gut. Der Bulle ist über vierzig Jahre alt – noch älter als ich. Seine Spermienanzahl ist gering. Er ist nicht mehr stark genug, um die Weibchen kraftvoll zu besteigen, wie es dem Fortpflanzungsverhalten dieser schönen, riesigen Grasfresser entspricht.

Sushila gibt mir einen sanften Kuss auf das linke Augenlid. Sie sagt: «Wie wär’s, wenn ich uns Tee mache», und ich sage: «Danke, das wäre wunderbar», und sie antwortet: «Du bist nicht das letzte Nashorn.» Und weg geht sie, zum Wasserkessel, eine jener winzigen häuslichen Expeditionen, die, zusammengenommen und als ein einziger Weg betrachtet, den großen Treck der Liebe bilden.

Ich will gerade Einwände erheben – ich habe nicht mich mit dem Nashorn, sondern nur das Nashorn mit dem Nashorn identifiziert –, als mir aufgeht, was sie wirklich meint. Sie spricht, nicht zum ersten Mal, von meinem Empfinden, dass unser Zuhause eine Insel und alles außerhalb davon, alles darum herum, ein barbarischer Ozean ist. Diese negative Vorstellung von der Welt, hat Sushila zu bedenken gegeben, sei «vielleicht ein bisschen unrealistisch».

Meine Frau ist ein Mensch, der zum Vergnügen Zbigniew Herbert liest, und ihre Einsichten sind mir kostbar; aber in diesem Punkt lasse ich mich nicht beeinflussen. Die Welt ist verkommen. Sich hinauszubegeben heißt, in ein bösartiges Element einzutreten. Ich verstehe natürlich auch, dass die Rettung schwerlich darin liegt, jeden Tag den ganzen Tag drinzubleiben, wie geborgen und zufrieden auch immer. Die Außenwelt sickert zwangsläufig ein, und das Aufwischen, Abpumpen und Ausschöpfen hat kein Ende. Das Nashorn dringt durch.

Als Sushila mit dem Tee zurückkommt, erzählt sie mir, dass sie eine weitere E-Mail von Faye bekommen hat.

Meine biologische Mutter und ich sind – es gibt keinen besseren Ausdruck dafür – einander entfremdet. Sie hat sich angewöhnt, Sushila E-Mails zu schreiben, in denen es vorgeblich um ihre Enkelin Fizzy geht. Sushila antwortet auf diese E-Mails. Das alles geht für mich vollkommen in Ordnung. Wir leben in einem freien Land, wie wir zu sagen pflegten.

Der Tee ist wie immer ausgezeichnet. Bis ich Sushila kennenlernte, habe ich nie Tee getrunken. Wir trinken nur solchen aus Sri Lanka: Sushila kauft ihn aus irgendeinem romantischen Gefühl der Verbundenheit mit dem Land ihrer Ahnen, das sie noch nie besucht hat. Sie stammt von einer dieser auf Ansichtskarten abgebildeten Frauen mit Korb ab, die strahlend in die Kamera lächeln, während sie auf einem steilen Hang voller Teesträucher arbeiten; jedenfalls versichert uns das Sushilas Mutter, die sich daran erinnert, wie sie ihrer eigenen Mutter Trinkwasser gebracht hat, während diese auf einer ebensolchen Plantage Teeblätter pflückte. Die Bungalows der Pflückerinnen dienen mittlerweile als luxuriöse Touristenunterkünfte. Das erfüllt mich mit einem Zorn, den nicht zu äußern ich mir alle Mühe gebe. In meinem Alter von geschichtlichen Entwicklungen in Wut versetzt und durcheinandergebracht zu werden ist demütigend; und überhaupt hat Sushila erklärt, sie wolle nicht, dass Fizzy in einem wütenden Zuhause aufwächst. Da bin ich voll und ganz ihrer Meinung.

Sushila fährt fort: «Es geht um Geoff.»

Sie spricht von meinem jüngeren (Halb-)Bruder Geoffrey Anibal. Faye ist auch seine Mutter. Geoff hat immer auf der anderen Seite des Atlantiks gelebt und wohnt derzeit in England. Ich bin ihm nur zweimal persönlich begegnet. Geoffs Vater ist ein französischer Gentleman namens Antoine Anibal, mittlerweile verstorben. Laut meinem Dad war «der alte Anibal» ein schrecklich betagter Bursche, ein Methusalem von einem Romeo, der Faye aus Ehrgefühl heiratete, nachdem er sie mit Geoff «angebufft» hatte. Faye lebt in England, in einer Stadt namens Winchester.

«Ich glaube, es ist das Beste, wenn du es liest», sagt Sushila.

«Nein danke.»

Sie leitet Fayes E-Mail an mich weiter.

«Was soll das?»

Sushila antwortet: «Lies sie, lösch sie, egal. Deine Entscheidung. Er ist dein Bruder.»

***

Um mich zu wiederholen, dies passiert zu einer finsteren, brüchigen Zeit. Die Brüchigkeit, muss ich annehmen, ist die Folge der üblichen, im Lauf von vier Jahrzehnten auf die übliche Weise erlebten Erschütterungen und Schläge, wobei die üblicherweise daraus erwachsende Verhärtung und Schwächung durch eine eigenartige Zerbrechlichkeit auf meiner Seite vielleicht noch verschlimmert wurde. Wer weiß? Wer will es wissen? Wenn eines mich stärker abstößt als die Düsternis draußen, dann ist es die Düsternis drinnen. Nach Jahren tollpatschiger Introspektion bin ich zufällig über privates Glück – Sushila – gestolpert, und...

Erscheint lt. Verlag 18.6.2024
Übersetzer Nikolaus Stingl
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • Anspruchsvolle Literatur • Benin • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • Büro • Familie • Fußball • Fußball EM • Fußballindustrie • Fußball roman • Gegenwartsliteratur • Geselleschaftskritischer Roman • Gesellschaftspolitischer Roman • Gesellschaftsroman • Globalisierung • Mutter-Sohn-Beziehung • Postkolonialismus • Pulitzer Preis Literatur • Pulitzerpreisträger • Pulitzer-Preisträger • Rassismus • romane neuerscheinungen 2024 • Sklaverei • Sport • USA • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-644-00223-1 / 3644002231
ISBN-13 978-3-644-00223-4 / 9783644002234
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