Caffè Sospeso -  Amanda Sthers

Caffè Sospeso (eBook)

Begegnungen in Neapel
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Arche Literatur Verlag AG
978-3-03790-056-7 (ISBN)
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»Dieser Roman hat einen irrsinnigen Charme.« Le Figaro »Wenn man in Neapel einen Kaffee bestellt, kann man einen zweiten bezahlen, der denjenigen angeboten wird, die sich keinen leisten können: den caffè sospeso.« So beginnt Jacques Madelin, ein Franzose, der nach einer enttäuschten Liebe in Neapel lebt, seine Erzählung. Fast jeden Tag sitzt er im Café Nube und sieht zu, wie das Schicksal und der caffè sospeso ihre Arbeit machen. Da arrangiert sich eine betrogene Ehefrau mit der Geliebten ihres Mannes, um ihre Familie zu retten; eine junge Frau muss den Seidenschal ihrer Großmutter loswerden, um frei zu sein, ein Mann die Augen öffnen, bevor er wieder Schlaf finden kann.     Mit feiner Beobachtungsgabe erzählt Caffè Sospeso davon, wie Menschen einander begegnen oder verfehlen, wie sie sich verlieben oder verlassen, wie sie aufbrechen oder ankommen. In einem kleinen neapolitanischen Café lässt sich erfahren, was wahre Menschlichkeit bedeutet.

Amanda Sthers, geboren 1978 in Paris, ist eine französische Roman-, Theater- und Drehbuchautorin sowie Regisseurin. Sie hat zehn Romane geschrieben, die in vierzehn Sprachen übersetzt wurden und regelmäßig die französischen Bestsellerlisten erklimmen. 

Amanda Sthers, geboren 1978 in Paris, ist eine französische Roman-, Theater- und Drehbuchautorin sowie Regisseurin. Sie hat zehn Romane geschrieben, die in vierzehn Sprachen übersetzt wurden und regelmäßig die französischen Bestsellerlisten erklimmen. 

Krokodilshaut


1982

Es gibt keine Krokodile in Neapel, aber einst lebte ein Exemplar im Maschio Angioino, einem mittelalterlichen Schloss aus dem dreizehnten Jahrhundert, als Neapel anstelle von Palermo die Hauptstadt des Königreichs Sizilien auf dem Festland wurde. Das Schloss wurde in der Renaissance renoviert, blieb aber ziemlich hässlich. Heute beherbergt das Gebäude ein schmuckloses Museum, aber damals diente es als Getreidespeicher, und zudem wurden in seinen Kerkern die gefährlichsten Verbrecher der Gegend eingesperrt. Trotz der dicken Mauern und der strengen Bewachung gelang es ihnen regelmäßig, den Wächtern zu entkommen, ohne dass man sie je wiederfand. Nach monatelangen Ermittlungen begriff man, dass offenbar ein Schiff aus Afrika ein riesiges Krokodil mitgebracht hatte, dem das Wasser im Maul zusammenlief, wenn es die Inhaftierten roch, die es zu seiner Leibspeise erkoren hatte. Man munkelte, das Reptil sollte der Rache eines gehörnten Seemanns dienen und sei sofort geflohen, als das Schiff im Hafen vor Anker gegangen war. Aber Neapel gibt sich nie mit nur einer Fassung einer Geschichte zufrieden: Darum hieß es in den nördlichen Stadtvierteln, das Reptil stamme in Wirklichkeit aus Ägypten und habe die Aufgabe gehabt, die lästigen Geliebten der Königin Johanna II. aufzufressen. Diese Version favorisieren die Schriftsteller, Croce und Dumas haben sie in ihren Texten verewigt. Wie dem auch sei, das Krokodil wurde nie gesehen, aber Abdrücke rund um die Festung gaben Hinweise darauf, und manche schworen, sie hätten seinen schuppigen Schwanz durch die Schlossflure huschen sehen. Alle Wärter wurden mobilisiert, und die Gendarmerie unterstützte sie. Man postierte zwei Männer im Turm, die unablässig die Umgebung absuchten. Das hätte durchaus lange dauern können, denn alte Krokodile können zwei Jahre von ihren Reserven zehren und in einem lethargischen Zustand ausharren, ohne auch nur irgendetwas zu essen. Glücklicherweise war dieses Exemplar ein jugendliches (in Krokodiljahren gerechnet) und obendrein ein gieriges. Nach einigen Tagen der Jagd, die mehrere tapfere Männer das Leben kostete, wurde das Tier schließlich von einem Wärter mithilfe eines Rinderbeins gefangen, das als Köder diente, oder, den nördlichen Stadtvierteln zufolge, von dem berühmten Ferrante D’Aragona, der es mit einer Pferdekeule erstickte. Man stopfte das Krokodil aufwendig aus und schmückte damit die Eingangstür des Schlosses.

Heute erzählt man diese Legende gern den Kindern. Doch nur wenige wissen, dass der Unterbauch des Tieres, der von der Wand, die es ziert, verdeckt wird, mit Stoff geflickt ist. Aus einem Stück der schuppigen Haut wurde eine äußerst luxuriöse Tasche in erstaunlicher Farbgebung gefertigt, die Fernanda an diesem Tag am Arm trug und aus der sie ein Taschentuch hervorholte. Benedetto hatte ihr erzählt, woher ihre Tasche stammte, als er sie ihr zum zwanzigsten Hochzeitstag schenkte. Er hatte die Geschichte von dem Antiquitätenhändler in der Via San Gregorio Armeno erfahren, bei dem er das ausgefallene, geheimnisvolle Stück erstanden hatte, das zugleich obszön und anziehend war, wie Fernanda selbst.

Der kleine schnurrbärtige Trödelhändler Luigi, der zwar eine hagere Gestalt, aber einen ausladenden Bauch hatte und durchtrieben und schlau war wie ein Affe, berichtete von den unmöglichsten Geschichten rund um jede Kuriosität in seinem Laden. Sie wurden Teil der Gegenstände. Egal, ob seine Anekdoten wahr waren oder nicht – war es nicht viel wichtiger, dass man sie gern glaubte und selbst weitererzählen konnte? Sein legendärer Kramladen im Herzen einer schmalen Gasse in der Altstadt Neapels bot bunt gemischt alten Schmuck, Pelze, wertvolle Taschen und die für die Region typischen Weihnachtskrippen mit Ton- oder Holzfiguren; daneben handgefertigte Wiegen, Pulcinella-Figuren und neapolitanische Tamburine sowie Zauberbücher und afrikanische Amulette. Zudem verkaufte Luigi Bottarga, frische Anchovis und peruanischen Kakao. Er hatte in geheimnisvollem Ton hinzugefügt, die Tasche besitze gewisse Kräfte und verändere das Leben ihrer Eigentümer, so wie Krokodile ein Leben lang neue Hautschichten bilden. Trotz seiner überbordenden Fantasie hätte es Luigi, als er Benedetto die Tasche verkaufte, nicht für möglich gehalten, dass dessen Frau Fernanda sich am nächsten Tag verzweifelt an die Tasche klammern würde, und auch nicht, dass diese tatsächlich der Ausgangspunkt einer großen Wandlung sein und eine wichtige Rolle in einem unglaublichen Abenteuer spielen würde. Das Schlosskrokodil hatte durchaus noch ein Wörtchen mitzureden.

 

Fernanda wusste nicht, dass ich sie von der Brüstung meines Fensters aus beobachtete, während sie ihre Tränen unterdrückte und unauffällig ins Innere des Café Nube schaute. Ihre stilvolle Hässlichkeit faszinierte mich auf Anhieb, und die Traurigkeit trug nur noch zu ihrer tragischen Erscheinung bei. Damals hatte ich keine Ahnung, was sich gerade abspielte.

Hätte ich ins Café hineinblicken können, hätte ich die Protagonisten einer Geschichte gesehen, die zwei Monate zuvor, Ende März, begonnen hatte. Ich saß an jenem Tag hinten im Café, auf meinem Lieblingsplatz, als Benedetto Livari in aller Frühe hereinkam. Benedetto war kein Stammgast, aber an diesem Tag wartete er darauf, dass es neun Uhr wurde, um bei einem seiner Mieter klingeln zu können, der seit Monaten nicht bezahlt hatte. Benedetto, dessen ursprünglich blassrotes Haar inzwischen weiß war, besaß viele Immobilien und Hotels in Neapel, Ravello und Positano, eine florierende Firma für Zitronenjoghurt sowie eine Hutmanufaktur, in der wunderschöne Filzhüte produziert wurden, die als einzige mit denen seines Erzrivalen Borsalino konkurrieren konnten. Wenn etwas nicht so lief wie geplant, schickte Benedetto nie seine Angestellten, er regelte Probleme lieber selbst. Das gab ihm ein befriedigendes Machtgefühl. Gerade war er also im Begriff, zu dem Rüpel zu gehen und ihn zu vertreiben, falls er nicht sofort bezahlte.

Seit er aufgewacht war, hatte er sich absichtlich in eine bärbeißige Stimmung versetzt. Die ungewöhnlich große Hitze machte ihm zu schaffen, schon bevor die Sonne aufging. Er bestellte seinen Kaffee und setzte sich. Normalerweise stand er am Tresen, aber heute war er erschöpft, ja traurig. Er verlor die Lust an seinen Ritualen, die ihm einst Halt gegeben hatten, inzwischen aber nur noch Ausdruck eines sich verengenden, eintönigen Lebens waren, das immer weniger Perspektiven bot. Benedetto fragte sich gerade, ob seine besten Jahre nicht bereits hinter ihm lagen und seine Füße womöglich größer geworden waren, so sehr drückten ihn seine Schuhe, als die Leidenschaft in Person von Silvia Preziosa, meiner Flurnachbarin, ins Café Nube Einzug hielt. Mit ihren üppigen, in ein knallrotes Kleid gezwängten Brüsten, ihren Hund Fusilli auf dem Arm, erkundigte sie sich wie jeden Morgen, ob ein caffè sospeso an der Tafel stünde. Ohne Mauricios Antwort abzuwarten, lud Benedetto sie dazu ein und sagte ihr, sie »bringe seinen Vormittag zum Strahlen«, eine verbreitete Höflichkeitsfloskel der Neapolitaner. Er wäre der glücklichste Mann, fügte er hinzu, wenn sie sich an seinen Tisch setzen wollte, und Benedetto krönte seine Bestellung noch mit zwei Gläsern frisch gepresstem Orangensaft, Eis, Obst, Ricotta und Keksen, damit Silvia begriff, wie begeistert er war. Sonst hinterließ Benedetto nie einen caffè sospeso, er konnte die »scugnizzi« nicht ausstehen, die Straßenkinder, die in den Tag hineinlebten; er verwehrte sich dagegen, diese wilde Freiheit zu unterstützen, aber einen Kaffee für eine hübsche Frau, das war in Ordnung! Bei Silvias Anblick war seine Erschöpfung mit einem Mal verschwunden gewesen, das drohende Alter, das er noch zehn Minuten vorher zu spüren geglaubt hatte, war nichts weiter als ein entfernter Horizont, und seine engen Mokassins hatte er komplett vergessen. Silvias Wangen röteten sich, passend zu ihrem Kleid, und sie erging sich in Entschuldigungen: Sie sei so schusselig! Sie habe ihre Schlüssel zu Hause liegen gelassen, als sie mit dem Hund nach draußen gegangen sei, und habe sich ausgeschlossen, ganz ohne Geld …

Wir hatten sie diese Leier schon bei etlichen Gelegenheiten abspulen hören, aber Silvia war derart überzeugend, dass sogar die Stammgäste des Café Nube ihr glaubten. Silvias Fantasie kam mit der Zeit immer mehr in Gang, und sie schmückte ihre Geschichte wunderbar mit lauter neuen Details aus. An jenem Morgen vergaß Benedetto alles: den säumigen Mieter, seine Traurigkeit, seine Wut und vor allem den Ehering an seinem Wurstfinger.

Als es Mittag war, weinte Silvia in seinem Arm und erzählte ihm ihre tragische Kindheit in Palermo und wie die Männer sie ausgenutzt hatten, ohne sie je zu beschützen. Benedetto hatte völlig vergessen, was ihn am Morgen umgetrieben hatte, er hing an ihren Lippen, fühlte sich mächtig und tapfer. Er war ein starker Retter! Er konnte es noch nicht klar in Worte fassen, aber er ahnte bereits, dass der letzte Teil seines Lebens mit den Schulterbewegungen dieser sinnlichen Frau verbunden wäre, sein Kopf in ihre riesigen Brüste geschmiegt. Benedettos Haut war sonnengegerbt, und seine Nase war wie angefressen von der Zeit. Doch seine Haltung war noch die des Jugendlichen, der gefallen hatte, eine Art Selbstsicherheit, die genügt, um einem Menschen unglaublichen Charme zu verleihen. Er begleitete Silvia ganz unschuldig bis zum Haus einer Freundin, die einen Zweitschlüssel für ihre Wohnung besaß. Er bat sie inständig um ein Wiedersehen und rang ihr ein Treffen in der darauffolgenden Woche ab, zur selben Zeit im Café Nube, nachdem er ihr versichert...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2024
Übersetzer Kirsten Gleinig
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Café • Erzählen • Espresso • Geschichten • Großzügigkeit • Italien • Kaffee • Lebenskunst • Liebe • Menschlichkeit • Neapel • Schönheit des Alltags • Zufall
ISBN-10 3-03790-056-3 / 3037900563
ISBN-13 978-3-03790-056-7 / 9783037900567
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