Mein einziges Zuhause (eBook)

Roman | Der große Bestseller aus Finnland endlich auf Deutsch
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
350 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3191-1 (ISBN)

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Mein einziges Zuhause -  Hanna Brotherus
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»Ich habe diesen einen Körper, er ist mein einziges Zuhause. Mehr besitze ich nicht.« Hanna Brotherus' Debütroman erkundet ungeschminkt und einfühlsam die Lebensstationen einer Frau und ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Körper. Auf einer Reise nach Paris strömen Hannas Gedanken zurück: zum unterkühlten Elternhaus, ihren Kindern und dem eigenen Körper. Sie begreift, wie zwanghaft ihr Verhältnis zu ihrem eigenen und anderen weiblichen Körpern ist - und dass sich Essstörungen schon seit Generationen durch die Familie ziehen. Perfektionismus, ständiges Vergleichen und das zwanghafte Kontrollieren des eigenen Körpers haben die Heldin geprägt. Aber nun ist die Zeit, um loszulassen. Als Kind wusste ich nicht, wer ich ohne meine Schwester und ohne den Vergleich mit ihr war. Unsere Unterschiede studierte ich mit dem Maßband. Mein Handgelenk hatte einen Umfang von 21 Zentimetern, ihres 19. Also hatte ich dicke Handgelenke. Unsere Haare legte ich unters Mikroskop, mein Haar war dicker als ihres. Also hatte ich dicke Haare. Ich musterte uns im Spiegel, ihre Schenkel waren schmaler als meine. Also hatte ich dicke Schenkel.

Hanna Brotherus wurde 1968 in Helsinki geboren. Sie ist Choreografin, Regisseurin und Tänzerin. Ihr Debütroman 'Mein einziges Zuhause' hat Begeisterungsstürme in Finnland ausgelöst und sämtliche Rekorde gebrochen. Elina Kritzokat, Jahrgang 1971, erhielt den finnischen Staatspreis für Übersetzung und ein Exzellenz-Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Hanna Brotherus wurde 1968 in Helsinki geboren. Sie ist Choreografin, Regisseurin und Tänzerin. Ihr Debütroman "Mein einziges Zuhause" hat Begeisterungsstürme in Finnland ausgelöst und sämtliche Rekorde gebrochen. Elina Kritzokat, Jahrgang 1971, erhielt den finnischen Staatspreis für Übersetzung und ein Exzellenz-Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

MEIN VATER


Die Augen meines Vaters haben die Farbe eines klaren Sees. Er trägt stets sein scharfes Messer bei sich und riecht nach Holz. Er hat schöne volle Lippen, warme Hände und immer Zeit. Als ich klein war, spielte er draußen mit uns Fangen und drinnen Verstecken. Er war der Held aller Nachbarskinder. Er hatte einen warmen Blick und war ungeachtet seiner beträchtlichen Körperlänge immer wortwörtlich mit uns auf Augenhöhe. Mal sah er aus wie Tarzan, dann wie ein Rennfahrer. Und wenn er die Fäuste an die Leisten legte, einen Zeigefinger ausstreckte, die Hüfte nach vorn schob und peng sagte, wurde er zum Cowboy. Ich weiß bis heute, wie ich die Reaktionen meiner Freunde stolz beobachtet habe.

Mein Vater will bei jeder Begegnung wissen, wie es mir geht, hört aufmerksam zu. Er folgt seinem Herzen und ist präsent. Er versteht nicht alles, hat aber für alles Interesse. Wenn ich mir bewusst mache, dass mein Vater da ist und lebt, werde ich froh. Mein Vater liebt. Und wenn er davon spricht, glaube ich ihm das.

Zu meinem Vater passt das Wort wohlproportioniert. Als ich jung war, sagte er genau das über mich und verletzte mich damit. Wohlproportioniert hörte sich für mich nach Mittelmaß an, normal und normalgewichtig, stämmig also.

Ich weiß, dass mein Vater für mich da ist, er ist für mich in dieser Welt. Er ist auch für meinen Bruder hier. Und vor allem für meine Mutter. Er war es auch für meine Schwester. Er betrachtet alles von der positiven Seite und glaubt fest daran, dass am Ende alles gut wird. Den Tod meiner Schwester konnte er annehmen, indem er sich sagte, dass sie ein gutes Leben gelebt hat.

Einmal verriet mein Vater mir, ich sei sein liebstes Kind. Eigentlich darf man so was nicht sagen. Trotzdem fühlte es sich gut an. Obwohl seitdem fast ein halbes Jahrhundert vergangen ist, nehme ich mich bis heute so wahr. Bei meinem Vater darf ich das Mädchen von damals sein.

Wenn ich Angst bekam vor Erdbeben, Überschwemmungen und Orkanen und es meiner Mutter sagte, wurde die Angst immer größer. Mein Vater dagegen versicherte mir, dass unser Dach sturmsicher sei und Finnland kein Erdbebengebiet. Wenn ich trotzdem mal irgendwann losweinte, schaltete meine Mutter sich wieder ein; sie ertrug meine Sorgen nicht. Stets war sie es, nicht mein Vater, die mit einem strengen »Und jetzt wird geschlafen« den Schlussstrich zog und mir eine Grenze setzte. Meine gekränkten Gefühle richteten sich gegen sie – nie gegen meinen Vater, der keine Grenzen setzen konnte.

Im Zuhause meines Vaters hatte es ein nicht mehr ganz junges Dienstmädchen gegeben, das sich zusammen mit der Großmutter um den Haushalt kümmerte – die Mutter meines Vaters war ja Schuldirektorin und arbeitete montags bis samstags. Die Großmutter und das Dienstmädchen waren beide klein und hatten einen Buckel. Außerdem trugen sie hauchfeine Haarnetze, die sie nicht nur um den Dutt, sondern um das gesamte Haar legten, was ich als kleines Kind eigenartig fand. Ich nahm an, dass das Netz den Kopf zusammenhielt und das nötig war, wenn man so alt war wie diese beiden Frauen. Die Großmutter meines Vaters, meine Urgroßmutter, roch immer nach Kampfertropfen. Und mein Urgroßvater, ein Tierarzt, hatte sich totgesoffen. Ich betete jeden Abend für meine Urgroßmutter und das Dienstmädchen. Ich betete, dass Gott ihnen wenigstens einmal ein Tanzvergnügen schenkte. Ich wusste, es war ihnen verboten, weil es als Sünde galt.

Die Mutter meines Vaters, die Schuldirektorin, brachte mir bei, wie man Bücherreihen absaugte, perfekt Staub von Glasoberflächen wischte und Silber polierte. Ich fand meine Großmutter toll und bewunderte sie. Sie spielte Klavier, konnte gut singen und sprach immer sehr liebevoll mit uns. Ihr Blick war fest und forschend, aber auf interessierte Art. Sie suchte nie nach Fehlern, sondern nahm Anteil und war neugierig. Die Basis von allem waren für sie regelmäßige Mahlzeiten aus guten Zutaten, auch wenn oft das Dienstmädchen sie zubereitete. Wenn man jemanden liebte, tat man alles, damit dieser Mensch gute Speisen vorgesetzt bekam und sie auch aß. Über den Weg der Nahrung konnte meine Großmutter auf ihre tiefste Art lieben. Und das ging von ihr auf meinen Vater über.

Im Zuhause meines Vaters durften wir gebuttertes Knäckebrot in heißes Sahnewasser mit Honig tunken, die Butter schwamm in gelben Klecksen obenauf. Die Zwiebackdose aus dem Küchenschrank unserer Großmutter holten wir uns heimlich. Wären wir entdeckt worden, hätten wir gesagt, wir würden Enten füttern. Der Zwieback war dick mit Zucker und Zimt bestreut, wir setzten uns draußen in die Sonne und naschten. Meistens trugen wir dabei nur Bikinis, wenn überhaupt. Dass ich als Einzige ein Oberteil anhatte und meine Schwester und meine Cousinen nicht, weiß ich noch genau. Ich trug es, weil ich mich damit sehr weiblich fühlte. Außerdem hoffte ich, mein ältester Cousin könnte ein bisschen verliebt in mich sein. Er war der Grund, weshalb ich mich bei meiner Großmutter vor den Spiegel stellte, der allerdings so hoch hing, dass ich von meiner Figur kaum etwas sah. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte und ordentlich streckte, erhaschte ich einen Blick auf meinen Po, die weichen, runden und zugleich festen Backen. Als ich zehn war, sagte meine Ballettlehrerin zu mir, ich solle aufhören, Kartoffeln zu essen, und griff mir im Vorbeigehen fest an den Po. Ein paar anderen Mädchen aus meiner Ballettklasse, deren Bauch nicht flach genug war, zog sie eins mit der Fliegenklatsche über.

Vor stürmischem Wetter und Erdbeben habe ich heute, als Erwachsene, keine Angst mehr. Aber ich habe Angst vor Essen. Mir ist klar geworden, dass das Essen bei mir alles dominiert. Ernährung in all ihren Formen ist eine Metapher für mein Leben. Ich wurde ins Beobachtetwerden hineingeboren und bin selbst zur Beobachterin geworden. Und dieses Beobachten ist kein offenes Wahrnehmen, sondern ein Kontrollieren und Steuern. Meine Beziehung zum Essen ist zu einer Währung geworden, mit der ich mir Akzeptanz erkaufe. Diesen Handel bin ich von klein auf gewohnt, ich kenne ihn als Tochter, Schwester, Mutter und Choreografin.

Einer der Brüder meines Vaters ist mein Patenonkel (obwohl er bei meiner Taufe noch nicht volljährig war und auch nicht zur Kirche gehörte). Genau wie wir fuhr auch mein Patenonkel oft ins Sommerhaus, und einmal brachte er seine hübsche Freundin mit. Sie hatte große, birnenförmige Brüste, die ihr gestreiftes Bikinioberteil voll ausfüllten, das Unterteil bestand nur aus einem Hauch von Stoff. Ich fand sie sehr attraktiv und merkte genau, dass auch sie sich attraktiv fand. Dank ihrer Figur bekam sie mehr Aufmerksamkeit als andere. Und weil ich nach Aufmerksamkeit dürstete, beobachtete ich diese fremde Frau ganz genau – um später hoffentlich so zu werden wie sie.

Meine Mutter kümmert sich um den stoppeligen, fast kahlen Kopf meines Vaters, rasiert seine wenigen Haare gründlich ab. Auch um den restlichen Körper kümmert sie sich. Sie versorgt Verletzungen mit Pflastern und Verbänden und behält die Leberflecke im Auge, die leider schon mehrmals bösartig wurden. Meine Mutter kennt den Körper meines Vaters vom Scheitel bis zur Sohle. Gleichzeitig tut sie, als würde sie von seinem Trinkverhalten im Sommerhaus nichts mitbekommen. Sie tut, als wüsste sie nicht, dass er Zigarre raucht. Für sie ist mein Vater so lange unsterblich, wie sie die Obhut über seinen Körper hat. Um ihren eigenen Körper und dessen Veränderungen kümmert sich der Herrgott im Himmel. Meine Mutter nennt meinen Vater Papa, was ich seltsam finde. Inzwischen nennt sie ihn manchmal sogar Opa. Das hört sich für mich erst recht seltsam an.

Meine Eltern beenden ihre Telefonate mit einem Küsschen!. Seine Bewunderung zeigt mein Vater meiner Mutter mit Blicken und indem er im Beisein anderer ihre gute Küche und ihre Großputzeinsätze lobt. Manchmal grapscht er ihr an den Po, was mich befremdet. Ich muss daran denken, mit welcher Methode er ihr Unterhosen kauft: Er schaut auf die Hinterteile der Verkäuferinnen und vergleicht sie mit dem Po meiner Mutter.

Schwierigen Situationen weicht mein Vater aus. Er vertagt alles Heikle in die Zukunft und sagt, darüber reden wir morgen, oder morgen ist auch noch ein Tag, oder darüber schlafen wir erst mal eine Nacht, dann sieht alles anders aus. Er kann Konflikte nicht aushalten und redet nicht gern über unangenehme Gefühle. Meiner Mutter zufolge hat er keine, aber das glaube ich nicht. Seine unangenehmen Gefühle zerlegt er beim Holzhacken, und beim Zigarrenrauchen bläst er sie aus sich hinaus. Manchmal wendet er sich an mich und hobelt wie mit einem Käsehobel sachte an der Oberfläche eines schwierigen Themas.

Mein Vater spricht die Sprache eines Juristen. Seine Welt ist geradlinig und einfach. Er pflegt zu sagen, ehrlich währt am längsten, wobei Ehrlichkeit auch kleine Unehrlichkeiten enthalten darf. Vor allem, wenn man sich unangenehmen Situationen gegenübersieht. Notlügen oder auch weiße Lügen sind bei ihm gestattet. Die Frage dabei ist: Wo auf der Wahrheitsskala – die reine Wahrheit ist null, die dreiste Lüge zehn – beginnt das Weiß in ein Grau zu kippen?

So wie jeder Mensch seine eigene...

Erscheint lt. Verlag 30.5.2024
Übersetzer Elina Kritzokat
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autofiktion • brothers • Bullemie • Essstörung • Familiengeschichte • Feminismus • Finnland • Hanna Brothers • Karl Ove Knausgard • Literatur aus Skandinavien • Magersucht • Rollenbilder • Scheidung • Tanzen • Tod • weiblicher Körper
ISBN-10 3-8437-3191-8 / 3843731918
ISBN-13 978-3-8437-3191-1 / 9783843731911
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