Der Komet (eBook)

Der Lebensweg einer einfachen Frau bis zum Untergang Dresdens
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
282 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77728-2 (ISBN)

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Der Komet -  Durs Grünbein
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Im Mittelpunkt dieses Berichts steht eine Frau aus einfachen Verhältnissen. Es geht um das Leben von Dora W., die aus Schlesien nach Dresden kommt, mit sechzehn Mutter wird und mit fünfundzwanzig den Untergang der Stadt im Bombenkrieg miterlebt. Ziegenhüterin auf dem Lande, dann Ladenmädchen und Gärtnereigehilfin in einer niederschlesischen Kleinstadt sind ihre ersten Lebensstationen, bevor sie in dem Schlachtergesellen Oskar den Mann fürs Leben findet und ihm nach Dresden folgt, um dort eine Familie zu gründen. Eine kurze Zeit ist ihr dort geschenkt; es sind ihre goldenen Jahre, wie es scheint, aber dann stürzt die Perspektive, und es ereilt sie wie alle anderen der Krieg und mit ihm das Ende Dresdens in einer von Großmachtstreben und Rassenwahn vergifteten Gesellschaft.

Mit ihrer Geschichte verfolgt der Autor ein Einzelschicksal im historischen Kontext vor und nach dem Einmarsch des Nationalsozialismus in jedes einzelne Leben. Was macht die Diktatur aus den Menschen, die ihren Anforderungen kaum gewachsen sind und sich recht und schlecht durchschlagen? Dabei gewinnt das Auftauchen des Halleyschen Kometen im Jahre 1910, der Weltuntergangsphantasien befeuerte, eine symbolische Bedeutung für die Vernichtung der sächsischen Metropole im Feuersturm des Februars 1945.

Am Beispiel von Dora W. wird erzählt, wie Geschichte den Geschichtslosen widerfährt, zuletzt als Schrecken und zu späte Einsicht.



<p>Durs Gr&uuml;nbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Er ist einer der bedeutendsten und auch international wirkm&auml;chtigsten deutschen Dichter und Essayisten. Nach der &Ouml;ffnung des Eisernen Vorhangs f&uuml;hrten ihn Reisen durch Europa, nach S&uuml;dostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. F&uuml;r sein Werk erhielt er eine Vielzahl von Preisen, darunter den Georg-B&uuml;chner-Preis, den Friedrich-Nietzsche-Preis, den Friedrich-H&ouml;lderlin-Preis, den polnischen Zbigniew Herbert International Literary Award sowie den Premio Internazionale NordSud der Fondazione Pescarabruzzo. Seine B&uuml;cher wurden in mehrere Sprachen &uuml;bersetzt. Er lebt in Berlin und Rom.</p>

2


Im Schnellzug von Liegnitz kommend, war sie mit einem einzigen Koffer nach Dresden aufgebrochen, hatte ihr Mädchenleben hinter sich gelassen. In Schlesien waren die Felder noch schneebedeckt, unter bleichen Himmeln ging es gen Westen, dann zog sich der Vorhang zu, graue Wolkenwände zur Begrüßung im Sachsengau. Hinter Görlitz hatten starke Regenfälle eingesetzt und die Zugfenster besprenkelt, man sah nur noch Wasserschnüre an den Scheiben herablaufen – Freudentränen, sie liebte den Regen, der hatte ihr immer Glück verheißen wie ein guter alter Bekannter, der einem auf die Schulter klopfte und zum Alleinsein ermunterte. Gerade erst war sie sechzehn geworden, den Geburtstag hatte sie ohne die Familie gefeiert, in aller Stille, wie man von einer Beisetzung sagt, mit einer Kollegin aus der Blumenhandlung in Goldberg. Die hatte sie zu ihrem flotten Fang beglückwünscht wie zu einem Lottogewinn: »Mensch, Dorle, du Glückspilz. Du gehst nach Dresden, und da wartet auf dich ein Mann!«

Ankunft in Dresden, März 1936. Der Tag, als Oskar sie am Bahnhof abholte, Gleis 13 – die Zahl hatte sie sich für immer gemerkt, eine Unglückszahl, aber sie war nun einmal nicht abergläubisch. Der Moment, als sie ihn wiedersah, den feschen Kerl, dem sie seit der Nacht im engen Zimmer der kleinen Pension mit Leib und Seele angehörte. Aufgeregt war sie, man hätte sich auch verfehlen können. Aber er hatte sie auf dem Bahnsteig sofort entdeckt und war ihr entgegengekommen, lässig, so wie sie ihn kannte, in einem neuen Trenchcoat, eine Blume im Knopfloch, entschiedenen Schrittes bei aller Zurückhaltung, mit der sie gerechnet hatte. Aber dann war er ihr um den Hals gefallen, den Herzschlag konnte sie spüren, so dick sie auch eingepackt war wegen der Kälte drüben in Schlesien, aber hier war es dieselbe. Hin und her ging die Verschämtheit, und am Ende wurde dann doch ein Fest daraus. Einmalig war diese Wiederbegegnung, nachdem man so lange getrennt gewesen war. Und hatte schon beieinandergelegen und war ziemlich weit gegangen. Aber es gab keine Sprache für das, was da geschehen war nachts in dem goldenen Städtchen. Dabei war es geblieben, und alles blieb unausgesprochen, so schön war es gewesen, über das Schöne und Einmalige war nun einmal nicht richtig zu reden.

»Da bist du ja wieder«, hatte er gesagt, ihr den Koffer abgenommen und sich bei ihr untergehakt. Kein Wort zuviel, dabei gab es so viel zu erzählen. Der große Schweiger, da war er wieder, auf sein Schweigen war Verlaß, darauf war sie gefaßt, es machte ihr nichts aus. Das Reden war immer ihr Anteil gewesen, und nun auch in der Liebe, eine seltsame Art des Schnellredens, Kind einer verstockten Familie, in der einem keiner je zugehört hatte. Sie sah seine Hände, die kräftigen, fleischigen mit den kurzen Fingern, und wie er mit einem Schlag den Regenschirm aufspannte. Er hatte an alles gedacht, das beruhigte sie. Und los ging's, hinaus in den kalten Vorfrühlingstag, mit der Straßenbahn hinüber zum Hauptbahnhof, wie um noch einmal anzukommen, diesmal ganz offiziell. Da sah sie die Elbe zum ersten Mal, erhaschte das Panorama, den Canaletto-Blick auf diese von vielen Türmen geprägte Stadt, die jeder kannte, nur sie noch nicht. Dann stieg man aus, wandte sich um zu dem Portal mit der Aufschrift Radeberger – das erste deutsche – Pilsner, und hinein ging es in den Schlund der Prager Straße, in einen Wald aus Reklametafeln, Verkehrsschildern, kleinen und großen Hakenkreuzfahnen, die von Balkonen herabhingen, blutrote Tupfer, verteilt über das Grau der Fassaden. Es nieselte, überall auf dem Trottoir lagen noch Reste von Schnee, rings um die Poller und Litfaßsäulen aufgehäuft, vom Regen durchlöchert. Zum Aufwärmen waren sie in ein Kaffeehaus geschlüpft, gleich in eines der ersten, das in den späteren Jahren ihr Stammquartier wurde, Konditorei und Café Hülfert. Die sächsischen Torten und Baumkuchen, die man in den Schaufenstern der Patisserien und Confiserien sah, das hatte ihr gleich gefallen: Sachsen, ein einziges Kuchenparadies. Das Café blieb ihr unvergeßlich, ihr Erinnerungsort später, als Oskar nicht mehr bei ihr war und sie sich an den Beginn ihrer Zeitrechnung halten mußte. Manches Mal, wenn der Kummer sie überkam, hatte sie sich in Erinnerung an diesen ersten gemeinsamen Tag in Dresden dorthin zurückgezogen. Da war eine Tür aufgegangen in ihr, das ganze alte Leben, die Schinderei auf dem Dorf, war von ihr abgefallen in diesem Moment. Sie war nun angekommen, betrat eine neue Welt, Gläserklirren, Kellner, die um die Tische wirbelten, Damen beim Teegebäck, Verliebte in den verschiedenen Stadien von Kennenlernen und Abschied. Aber gleich zog er sie weiter, hinauf in die nächste Etage: einen lichtdurchfluteten Saal mit Panoramafenstern zur Straße. Und da unten liefen Paare herum, Paare wie sie, untergehakt, schwatzend, sich streitend, und Autos hupten und schneidige Tramwagen schossen wie Hechte im Strom vorüber. Von allen Seiten sah sie ihn in den verspiegelten Pfeilern, den Mann, um den sich nun alles drehte. Zeit war gewonnen, Zeit für ein ganzes Leben zu zweit, um alles auszuradieren (wie der Schnee alles ausradierte), was bis dahin in ihrem Leben schiefgegangen war.

So begann ihre beste Zeit, und plötzlich waren da auch Liebe, Häuslichkeit, Zärtlichkeit, all das, was sie immer vermißt hatte in ihrer Kindheit. Eine Anzahl von Monaten, überschaubar im Rücklick, in denen fast alles möglich war, ein Zwischenzustand, für den es sich gelohnt hatte, in so jungen Jahren eine Wahl zu treffen. Immer wieder konnte sie ins Schwärmen geraten, wenn sie an diese ersten Dresdner Frühlingstage dachte und an die Monate, die ihnen folgten. Sie, die nur Härte gewohnt war, von früh an Verbote und immer nur Neinsagen. Eine Zeit des Schaukelns und Riesenradfahrens, himmelhoch jauchzend, bei dem die Körper, Wunder der Natur, zwei Menschen in der Blüte ihrer Jahre, sich feierten, während die Welt, die allseits feindliche Welt, sich nur um sie zu drehen schien in ihrem Gewirbel aus Ignoranz und Allotria. Das A und das O und das I. Es gab Tage, da schien es ihr, als müßte sie die Sprache, das bißchen Deutsch, das sie beherrschte, neu erlernen, um auszudrücken, was sie gerade fühlte. Das war das Gute, an einem Ort anzukommen, an dem man von vorn beginnen konnte, gewissermaßen am Nullpunkt.

Dreimal sind sie damals in denselben Film gegangen, das war sehr komisch. Sie hatte sich das gewünscht und Oskar mitgezogen, bitte, bitte. Sie bestand darauf, daß sie jedesmal in ein anderes Kino gingen, vom Regina zum Ufa-Palast zogen sie um die Häuser über die Brücken bis hinüber zur Neustadt ins Palast-Theater in der Alaunstraße, da hing als letztes noch das Plakat eines Films, den sie unbedingt sehen wollte. Und die Erwartung, gleich wird es dunkel, und sie wird dieselben unsterblichen Szenen erleben, und alles wird verzaubert sein, großartiger als im wahren Leben, das tolle Gefühl dabei war immer dasselbe. Man verabredet sich, übt sich im Küssen, und alles ist gut. Das Getänzel der Körper auf der Leinwand, Männer und Frauen flirtend, in wechselnde Dialoge verstrickt, waren nur der Anlaß für die folgenden Ausschweifungen, wenn sie ihn endlich ins Bett gelotst hatte. Hinter geschlossenen Augenlidern kehrte der Trubel wieder, den sie im Lunapark erlebt hatte, auf dem Rummelplatz, wie man hier sagte. Es gab die Vogelwiese am Johannstädter Ufer, unweit der Elbe, da ging man hin, um sich besinnungslos zu vergnügen. Hau-den-Lukas, da war Oskar gefragt, Muskeln hatte er, und ob, das kam vom Schlachten. Und dann die Fahrt mit der Geisterbahn. Mach du das, ich warte draußen – da konnte er seine Zigarette rauchen. Und kaum war sie aus dem Gruselkabinett aufgetaucht, hieß es: Die Karusselle, o bitte, komm mit. Sie drehten sich, daß einem herrlich schwindlig wurde, und dabei hatte sie schon sämtliche Schiffsschaukeln, jede der Höllenmaschinen, die da rotierten, ausprobiert, und Oskar staunte, daß sie nie genug bekommen konnte. Quer durch Dresden zog sich ein Broadway, das Lichterflimmern New Yorks, nur für sie, die Verliebten. Ein Aufschwung war das wie drüben in Amerika, echter Großstadttaumel, ein Band, um die Erde geschlungen, sie spürte es, und es reichte, schau an, bis zu ihnen mitten im Deutschen Reich und umschloß sie. Was kommt morgen, was kommt als nächstes? Schnell wurden Freundschaften geschlossen, auch das Wetter spielte mit und war ihnen meistens gewogen. Alle Düsternis fortgeblasen, all die bitteren Kindheitstage. Stell dir vor:...

Erscheint lt. Verlag 19.11.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Dresden • Drittes Reich • Elbflorenz • Erinnerung • Essays • Feuersturm • Frauenschicksal • Geschichte • Krieg • Nationalsozialismus • Neuerscheinungen • neues Buch • Porzellan: Poem vom Untergang meiner Stadt • Terror • Tochter-Vater-Beziehung • Volk • Vorfahren • Weltuntergang
ISBN-10 3-518-77728-9 / 3518777289
ISBN-13 978-3-518-77728-2 / 9783518777282
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