Tante Joice und die Lust am Leben (eBook)

Geschichten und anderes
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2023 | 1. Auflage
432 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61423-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tante Joice und die Lust am Leben -  Hans Werner Kettenbach
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HWK nicht nur als Schriftsteller, sondern als kritischer Publizist, als Historiker und lebensfroher Rheinländer, der mit liebevollem Blick fürs Detail und die Anekdote Geschichte erlebbar macht. Und dabei ein überraschendes Spektrum verschiedenster literarischer Genres vorzuweisen hat.

Hans Werner Kettenbach, geboren 1928, war Journalist und zuletzt stellvertretender Chefredakteur beim ?Kölner Stadt-Anzeiger?. Mit fünfzig schrieb er seinen ersten Roman. Insgesamt sind fünfzehn Romane erschienen, von denen fünf verfilmt wurden. Die Kritik hat sie mit den Werken von Sjöwall / Wahlöö (?Plärrer?), Simenon und Patricia Highsmith (FAZ) verglichen. 2009 erhielt Kettenbach den »Ehrenglauser« für sein Lebenswerk. Er starb am 5. Januar 2018 in Köln.

Es war schwierig, einen Titel für die vorliegende Sammlung auszuwählen; doch diese Bemühung hat mich auch auf eine wunderbare Entdeckungsreise geführt. Sie hat in mir die Erinnerung wachgerufen an die Zeiten, in denen ich zu schreiben anfing, und an das, was mich damals bewegte.

Zuerst wollte ich diese Sammlung mit nur einem Wort überschreiben, dem Wort Miszellen. Allerdings habe ich damit bei meiner Lektorin und bei einigen anderen Leuten, die etwas von Büchern verstehen und davon, wie man sie an den Leser bringt, keine Sympathien gefunden. Also habe ich mich von meiner Überschrift getrennt, schweren Herzens, wie man sogleich verstehen wird: Auf den sonderbaren Titel Miszellen bin ich nämlich schon vor gut sechzig Jahren gekommen.

Das passierte in einer Zeit, in der ich allenfalls ein Dutzend beschriebener Blätter hütete, die ich einer solchen Sammlung wie dieser hier hätte zuordnen können, nämlich im heißen Sommer 1947 in München. Dort bewarb ich mich um einen Studienplatz, und dazu gehörte es, dass ich im sogenannten Bautrupp der Universität 1000 Arbeitsstunden beim Wiederaufbau der zerbombten Universitätsgebäude abzuleisten hatte.

Einen passenden Arbeitsplatz hatte die Universität höchstselbst mir vermittelt: Ich war durch ihr Sekretariat als Bauhilfsarbeiter bei der Firma Julius Berger untergebracht worden und klopfte mit anderen Studienanwärtern Steine, an sechs Tagen in der Woche und auf einem Trümmerfeld an der Ludwigstraße, auf dem zuvor das »Haus des Rechts« gestanden hatte.

Um auch die erforderliche »Zuzugsgenehmigung« für München zu bekommen und zu behalten, jobbte ich außerdem in drei, auch schon mal vier Nächten in der Woche bei den Amerikanern. Mit einem weißen Papphelm ausgestattet und dergestalt autorisiert, diente ich der Besatzungsmacht als Nachtwächter in einem Kfz-Park der Militärregierung für Bayern.

Und ich schrieb. Nach dem Fragment eines empfindsamen Romans (»Sonate, Roman in drei Sätzen«), den ich noch in der Schulzeit angefangen hatte, schrieb ich kleinere Stücke, etwa Feuilletons (eines, an das ich mich noch vergangene Woche sehr deutlich zu erinnern glaubte, über den Vollmond, offenbar mit elegischer Grundstimmung, nämlich betitelt: »Und keiner denkt an den Mond«), auch Erzählungen (davon eine über einen Bauhilfsarbeiter, der eines Abends auf dem Kirmesplatz den Berufskämpfer einer Boxbude trotz dessen Spezialität, dem heimtückischen »Rundschlag«, durch K.o. besiegt, die Prämie von 20 Mark kassiert, hernach aber zum Kirmesplatz zurückkehrt und dem Berufskämpfer, der im Dunkel schwer geschlagen vor seinem Zirkuswagen hockt, zehn Mark von seinem Gewinn abgibt), schließlich auch philosophisch angehauchte Betrachtungen (so drei Seiten »Über das Reisen«).

Wann ich die Zeit fand, dergleichen zu schreiben, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich schrieb ich am freien Sonntag, wenn ich ein wenig von dem versäumten Schlaf nachgeholt und die Kirchenglocken von Pullach im Isartal, wo ich wohnte, mich geweckt hatten. Aber ich schrieb unermüdlich.

Und ich las. Mit dem Kriegsende war unser Verlangen nach allem, was bis dahin verboten oder uns versagt gewesen war, übermächtig ausgebrochen. Ich hatte noch während der Schulzeit die Buddenbrooks verschlungen, die in einem Winkel unseres Bücherschranks die Naziherrschaft überlebt hatten. Und auf der provisorischen Bühne der Stadt Köln lernte ich Paul Claudel und Jean Giraudoux und Thornton Wilder, auch Paul Hindemith kennen.

Noch dazu bekam ich einen unerwartet ergiebigen Tipp von einem meiner ortskundigen Kollegen auf dem Bauplatz, und so fuhr ich eines Nachmittags in meinem ersten, dem glutheißen Sommer 1947 in München, nach Feierabend nicht mit der Isartalbahn nach Hause, sondern ging in das nahegelegene Amerikahaus. Nach meiner Erinnerung lag es in einer Seitenstraße der Ludwigstraße, ein ehemals herrschaftliches Wohnhaus offenbar, gut erhalten, vielleicht auch schon so früh im Auftrag der Besatzungsmacht penibel wiederaufgebaut, das Treppenhaus mit Marmor ausgekleidet und angenehm kühl, der rote Kokosläufer auf den Stufen befestigt mit Stangen aus Messing, die golden schimmerten.

Ich fragte nach Ernest Hemingway, dessen Namen ich vermutlich im Feuilleton der Neuen Zeitung aufgelesen hatte, und war tief beeindruckt, als die Bibliothekarin mich zum Katalog des Hauses führte, die Karteikarten mit dem Namen Hemingways aufblätterte und mir sagte, das alles könne ich ausleihen. Ich ließ mir sofort einen Sammelband von Kurzgeschichten reservieren, mochte mich aber zunächst von dem Katalog und seinen tausendfachen Verheißungen nicht trennen.

Ich durchkämmte Karteikasten nach Karteikasten, machte irgendwann eine Pause, weil die Füße mir weh taten, und setzte mich auf die niedrige Fensterbank, rauchte eine selbstgedrehte Zigarette und sah durch das offene Fenster hinaus auf die enge Straße und die noch ramponierten Häuser gegenüber, hinter deren Dachfirsten die Sonne groß und rot verschwand. Dann zog ich den nächsten Kasten auf.

Ganz am Ende des Katalogs fand ich eine Rubrik, die einen merkwürdigen Titel trug: »Miscellaneous«. Ich kannte das Wort nicht, aber im Handwörterbuch, das aufgeschlagen vor den Regalen lag, fand ich seine Bedeutung: Vermischtes, Verschiedenartiges; und für das zugehörige Hauptwort »Miscellanea«: Miszellen, eine Sammlung unterschiedlicher, vermischter Texte.

Später, bei der Zeitung, hatten wir ein besonderes Ressort Vermischtes, das war die Sex-and-Crime-Seite, im Zeitungsjargon auch das Ressort Mord und Totschlag genannt. Damit hatte die Bibliothek des Amerikahauses freilich nichts im Sinn; sie hatte unter »Miscellaneous« vielmehr solche Bücher registriert, die sich nicht unter einem einfachen, klar unterscheidbaren Merkmal – wie zum Beispiel dem Namen des Autors – einordnen ließen. Was dabei herauskam, war ein ziemlicher Kuddelmuddel, Quer durch den Garten oder Von jedem etwas oder Dieses und jenes; aber auch mir, obwohl ich darüber nachdachte, wollte dafür kein besserer Begriff als dieses schillernde Wort »Miszellen« einfallen.

Das Problem ging mir jedenfalls nicht mehr aus dem Kopf. Ich leistete bis zum Herbst meine 1000 Stunden auf dem Bauplatz ab, wurde immatrikuliert und konnte studieren, musste allerdings in den Semesterferien regelmäßig jobben, um Geld verdienen und weiterstudieren zu können. Eine der edleren Tätigkeiten, die ich ausübte, war die eines Aktendieners in der Registratur eines Versicherungskonzerns. Jeden Morgen fand ich auf meinem Arbeitsplatz zwischen den Regalen die Zettel mit den Chiffren der Akten, die von den Sachbearbeitern angefordert wurden. Und jeden Abend musste ich die Aktenstapel wieder eingeordnet haben, die von den Sachbearbeitern zurückgekommen waren. Dafür zahlte mir der Konzern eine Deutsche Mark die Stunde – 1,00 DM.

Aber selbst hier, in der doch weitgehend von eindeutigen Zahlen beherrschten Welt der Assekuranz, erschienen Fälle, die sich der Einordnung in ein logisches System widersetzten. Unter welcher Chiffre zum Beispiel sollte man den Vorgang einer Versicherung ablegen, die von mehreren Kunden gemeinsam abgeschlossen und bezahlt worden war, bis diese Kunden sich entzweiten und jeder für sich den Konzern mit höchst unterschiedlichen Forderungen beanspruchte? Und wie sollte man in diesem System gar eine Akte wiederfinden, die einmal an einem falschen Platz eingeordnet worden war? So etwas passierte ja alle Tage, und natürlich entlud sich der Zorn der Führungskräfte dann über uns, die Domestiken des Geschäfts.

Ich will nicht behaupten, dass ich unter diesen und ähnlichen Fragen litt; aber die Problematik meines Jobs beschäftigte mich doch so sehr, dass ich mir eine Art Theorie der Miszellen zurechtlegte. Sie lautete etwa, dass jeder Versuch, die Vielgestaltigkeit des Lebens in ein dürres rationales System zu pressen, zum Scheitern verurteilt ist – am Ende hängt das System, sei es ein Katalog, sei es eine Registratur, sich notgedrungen ein verlegenes Schwänzchen an, die Rubrik Miszellen oder Allerlei oder Übriges, in das der undefinierbare Rest hineingestopft wird.

Die Theorie wiederum brachte mich auf den Plan eines großen literarischen Werks, eines Zyklus von Erzählungen, dem ich den Titel »Ozean – du Ungeheuer!« geben wollte. Die am weitesten ausgeführte, aber noch nicht vollendete dieser Geschichten handelte von einem schon älteren Versicherungsangestellten, Eduard Klöser, der in der Registratur eines mächtigen Unternehmens arbeitet, an dem System der Aktenablage einiges auszusetzen findet und insgeheim ein neues, revolutionäres System dieser Ablage ersinnt.

Meinem Helden ist freilich klar, dass er seine stockkonservativen, herb parfümierten Vorgesetzten mit den Seidenkrawatten und den schlohweißen Einstecktüchlein in der Brusttasche von seiner Erfindung nicht wird überzeugen können. Also lässt er sich eines Abends bei Dienstschluss unbemerkt in der Registratur einschließen und begibt sich ans Werk.

Den Ablauf der Nacht gedachte ich, neben der Hauptsache – Klösers Versuch einer Neuordnung der Akten –, mit der Darstellung seiner Hoffnungen auf Anerkennung, Beförderung und Belohnung sowie mit philosophischen Gedanken über das Problem des Ozeans auszugestalten. Die Pointe erschien mir jedenfalls zwingend: Am anderen Morgen findet man Klöser, tot auf dem mit Akten bedeckten Boden liegend, halb begraben unter einem Haufen anderer Akten, die er vermutlich im Sterben...

Erscheint lt. Verlag 21.6.2023
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anekdoten • Anthologie • Erzählung • Geschichte • Humor • Kurzgeschichten • Literatur • Publizist • Sammlung
ISBN-10 3-257-61423-3 / 3257614233
ISBN-13 978-3-257-61423-7 / 9783257614237
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