Zeiten der Langeweile (eBook)

Roman

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(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
240 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27886-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeiten der Langeweile - Jenifer Becker
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Jenifer Beckers Debüt über eine Auszeit von der digitalen Welt ist 'eine literarische Granate, die ich gerne mit Schwung ins Silicon Valley werfen würde.' (Philipp Winkler)
Mila, dreißig, geht offline. Zu groß ist plötzlich die Angst vor der öffentlichen Sichtbarkeit. Jede gelöschte Spur im Netz ist ein Akt der Befreiung, gleichzeitig gelingt es Mila nicht, sich einzureden, dass die neue Yogaroutine erfüllender ist als der morgendliche Smartphonecheck. Die nostalgisch wiederentdeckte Langeweile wird schnell zu tiefer Einsamkeit. Sie teilt ihr Leben nicht mehr, aber niemand teilt es jetzt so richtig mit ihr, seit ihr Lebensstil mehr Gemeinsamkeiten mit dem von Emily Dickinson als dem ihrer alten Freundinnen hat. Doch der Drang, den schwerelosen Zustand vollkommenen Verschwindens zu erreichen, wird immer zwanghafter.
Das Debüt einer Stimme, die mit hypnotischer Genauigkeit unsere Welt beschreibt und subtil mit der Sehnsucht nach Freiheit spielt.

Jenifer Becker, geboren 1988, arbeitet als Autorin, Kulturwissenschaftlerin und bildende Künstlerin. Sie studierte Kreatives Schreiben am Literaturinstitut Hildesheim, wo sie seit 2015 lehrt und forscht. In ihrer Arbeit befasst sie sich mit Ambivalenzen digitaler Kulturen. Sie lebt in Berlin. Zeiten der Langeweile (2023) ist ihr Debütroman.

Ich holte den Blu-Ray-Player in Tegel ab. Es dauerte eine Dreiviertelstunde mit der U-Bahn bis zur Holzhauser Straße. Ich trug meine Noise-Cancelling-Kopfhörer und schaute auf meine Spiegelung im Fenster. Hin und wieder lösten sich die Umrisse meines Gesichts auf und wurden von anderen Motiven überlagert, gekachelte U-Bahn-Höfe, Signaltafeln, Menschen in Sportjacken mit Tragetaschen und Koffern, Leute, die den Asphalt verkauften und Kaffeebecher oder Gehstöcke hielten. Es roch nach Schweiß, Paco Rabanne, Haarspray, Nudelboxen, Desinfektionsmitteln, Mandarinen. Ich versuchte durch den Mund zu atmen, trotz FFP2-Maske waren die Gerüche kaum auszuhalten. Ich hörte die ersten drei Songs von Charli XCXs POP2, dann einen kurzen Podcast über Gräueltaten in Butscha, dann eine zehnminütige Heil-Meditation, die mein Wurzelchakra stärken sollte. Ich hatte alle Songs und Podcasts mit einem YT2mp4-Converter runtergeladen und auf meinen iPod gezogen.

In Tegel zog ich meine Kopfhörer nicht aus. Ich passte beim Straßeüberqueren auf wie eine gut dressierte Erstklässlerin, um nicht aus Versehen überfahren zu werden, weil ich noise cancelte. Ich bog in eine Seitenstraße ein, dann noch mal nach links, laut Google Maps sollte ich jetzt vor dem richtigen Haus stehen, wo ich das Gerät abholen wollte, aber auf den Klingelschildern war der Name Karrschmidt nirgends zu finden. Ich rief die Nummer an, die mir auf eBay angezeigt wurde, meine eigene unterdrückte ich. »Karrschmidt«, sagte der Typ, der sich auf eBay karrker2 nannte, »wie Karr und Schmidt.« Es dauerte einen Moment, bis er verstanden hatte, dass es nicht um den Namen ging, sondern ich das Haus nicht fand. Schließlich lotste er mich in einen Hinterhof. Wir machten die Übergabe mit Masken im Hausflur, zwischen dem zweiten und dritten Stock. karrker2 trug eine schwarze Maske und hatte Crocs an. Ich drückte ihm, wie vereinbart, zehn Euro in die Hand. Eine silberne Stereoanlage samt integriertem CD-Player erstand ich eine Woche später für zehn Euro am Bergmannkiez.

Bevor ich mich von allen On-Demand-Unterhaltungsdiensten abmeldete, kaufte ich mir auf Flohmärkten und in Antiquariaten eine kleine DVD-Sammlung zusammen. Es war lächerlich, wie wenig DVDs mittlerweile kosteten: Ich bekam die gesammelten Friends-Staffeln für 4,38 Euro. Ich kaufte vor allem Studio Ghibli-Filme, Filme mit Tilda Swinton, Winona Ryder und Hugh Grant. Nach ein paar Flohmarktbesuchen merkte ich bereits, welche DVDs für das deutsche Publikum häufig produziert worden waren und welche vermutlich aufgrund von schlecht ausfallenden Marktprognosen und niedrigen Produktionsmengen unauffindbar waren. So lag Wong Kar-Wais My Blueberry Nights an beinahe jedem Stand aus und mit etwas Glück kam ich an die Arthouse Auflage von In the Mood for Love, aber jeder andere seiner Filme war unauffindbar. Genauso war Das wandelnde Schloss allgegenwärtig, aber von Porco Rosso gab es keine Spur. Auf eine seltsame Weise entlastete mich das. Es fühlte sich gut an, den eigentlich streng individualisierten, sorgsam kuratierten eigenen Geschmack an die bloße Erhältlichkeit eines bestimmten Mediums zu koppeln — die Verantwortung abzugeben. Ich kaufte alle Filme, von denen ich wusste, dass ich sie immer wieder schauen konnte, vor allem in der Weihnachtszeit: Love Actually, Bridget Jones 13, Die Chroniken von Narnia. Ich nahm mir vor, jeden Tag nicht mehr als einen Film oder drei Episoden einer Serie zu schauen.

Am 28. März meldete ich mich von allen Streamingdiensten, die ich noch hatte, ab. Ich versuchte es kurz und schmerzlos zu machen, als würde ich von einer zehn Meter hohen Klippe in ein kaltes, unbekanntes Gewässer springen müssen. Ohne weiter nachzudenken, löschte ich hintereinander meine Accounts bei Amazon Prime, Mubi und Netflix. Mein Urban-Sports-Club-Abo konnte ich nicht weiterführen, weil man dafür ein Smartphone brauchte. Der Entzug war kalt: Ich aß jetzt nicht mehr im Wohnzimmer vor dem Fernseher, sondern in Fleecepullover, Schal und gelegentlich sogar mit Mütze an dem kleinen, wackeligen Küchentisch, den ich die letzten Jahre als Ablage für Briefe, Pakete, Müll, Zeitschriften, Bücher, To-do-Listen und Waschpulver benutzt hatte. Im Winter schaffte es die schmale Heizung nicht, den Raum über siebzehn Grad zu heizen. Es wurde besser, wenn ich etwas auf dem Herd köcheln ließ, aber mit meinem Gasherd zu heizen konnte dauerhaft nicht die Lösung sein. Ich saß also eingemummelt vor meinem dampfenden Porridge, während ich das erste Album von Nelly Furtado auf meiner Stereoanlage hörte. Der Sound war furchtbar. Ich hatte das Gefühl, in mein lila gestrichenes Kinderzimmer zurückkatapultiert zu werden, wo ich mit meinem Bruder Bravo-Hits auf einem schrammeligen CD-Player gehört hatte. Genauer betrachtet, hatte ich auch wieder die gleiche Frisur wie damals, ich hatte meinen Pony rauswachsen lassen und trug einen Mittelscheitel, außerdem die gleichen desolaten Blocksträhnen, die in meinen braunen Haaren wirkten wie frühzeitig ergraut.

Die größte Umstellung in meinem »Dumbing« — so nannten Leute aus der NoSmart-NoSurf-Bewegung die Rückkehr zu »dummen« Geräten — war der Umstieg von meinem iPhone auf ein nicht smartes Telefon. Erst versuchte ich, mein altes Sony Ericsson W580i zu reaktivieren, aber die Audioqualität des ersten Telefongesprächs war so verzerrt — laut Senta klang ich, als würde ich durch eine Kartoffel sprechen —, dass ich mir ein aktuelles Dumbphone anschaffen musste, so anachronistisch sich das auch anfühlte. Ich kaufte mir bei Conrad in Steglitz das Beafon AL560 in metallischem Rot. Es konnte weder auf Google Maps zugreifen noch E-Mails abrufen. Dafür Anrufe tätigen, SMS schreiben und theoretisch MMS verschicken, ich wusste aber nicht, ob dieser Service überhaupt noch existierte. Wenn mich Leute fragten, was die einschneidendste Veränderung war, sagte ich, ohne Google Maps klarzukommen. Ich kaufte mir eine Stadtkarte, verschiedene Viertelkarten und eine Touristenkarte von Steglitz, weil ich mich ohne eine permanent verfügbare Karte kaum orientieren konnte und andauernd verlief. Ich wusste nicht, wie ich über das Wohngebiet zu Vinh-Loi kam, verpasste S-Bahnen, lief von U-Bahn-Stationen regelmäßig in die falsche Richtung. 

Als Senta ihren 29. Geburtstag feierte, hatte ich seit genau zwei Wochen mein Dumbphone. Es war Mitte April. Ich trug ein gestreiftes T-Shirt, eine FFP2-Maske und stieg in die U9. Meine Noise-Cancelling-Kopfhörer hatten keinen Akku mehr. Ich ließ sie trotzdem auf und stellte mich an die Tür hinter einen Vierersitz, auf dem ein Mann mit dem Rücken zu mir saß und sein iPhone checkte. Er hatte verschiedene Tattoos an Waden und Oberschenkeln und Instagram-Storys von Reptilienbesitzern geöffnet. Er klickte sich durch eine Story, die mit »if you ordered a snake and you don’t really know how it looks like until you unpack« gelabelt war. Darin filmte jemand hauptsächlich seine nackten, weißen Füße, die über Fliesen liefen und vor einem Paket stehenblieben.

In dem Moment vibrierte das Beafon. Ich spürte am Rhythmus der Vibration, dass es eine SMS war. Senta fragte, ob ich noch zwei Flaschen Sekt mitbringen konnte. Ich tippte eine Antwort. Es fühlte sich ungelenk an, jede Taste mehrfach fest in das Telefon zu drücken. ist in der nähe ein rew? Senta antwortete nicht.

Als ich an der U-Bahn-Station ausstieg und keine Ahnung hatte, wo ich den Sekt herkriegen sollte, fühlte ich mich verloren. Ich hielt einen Teenager an und fragte ihn, ob es hier irgendwo einen Supermarkt gab. Er googelte und lotste mich dann wieder zurück nach Süden.

Die Kegelbahn, die Senta für ihren Geburtstag gemietet hatte, fand ich fünfundvierzig Minuten später. Sie saß inmitten einer Traube von Leuten, die alle weiße Socken mit Sportsandalen anhatten. Senta selbst trug ihre Kunstlederjacke und eine ovale Sonnenbrille. Ich hatte gehofft, dass keine Leute vom Silvester-Event da sein würden, in unseren Gesprächen kamen weder Matthew noch Nena und Lisa je vor. Dass jetzt alle drei auf der Eckbank saßen und sich ausgelassen mit ihr unterhielten, als wären sie seit Jahren ...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Askese • Berlin • canceln • digital • digital detox • einsam • Freundschaft • Handy • Hessen • Hildesheim • Instagram • Internet • Isolation • Kommunikation • Kontakte • Leif Randt • Mein Jahr der Ruhe und Entspannung • Norwegen • Oberfläche • Social Media • vernetzt • Wellness • Yoga
ISBN-10 3-446-27886-9 / 3446278869
ISBN-13 978-3-446-27886-8 / 9783446278868
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