Kontur eines Lebens (eBook)

Roman

*****

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
320 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-6077-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kontur eines Lebens -  Jaap Robben
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Die junge Floristin Frieda wächst in den Sechzigerjahren in einem streng katholischen Umfeld auf. Als sie an einem späten Winternachmittag einen zugefrorenen Fluss betritt, weiß sie nicht, dass sich gleich alles für sie verändern wird. Auf dem Eis trifft sie den verheirateten Otto. Sie erleben eine Liebe, die stürmisch beginnt und schicksalhaft endet: Frieda wird schwanger - ein Skandal in der Welt, in der sie sich bewegt. Und so darf sie ihrem heimlichen Kind nie Mutter sein. Jahrzehntelang behält sie die Erinnerungen an diese Episode ihres Lebens für sich. Doch als sie mit über achtzig Jahren in ein Pflegeheim zieht, beginnt sie, sich ihnen zu stellen und sie zu teilen. >Kontur eines Lebens< ist der Roman einer großen Liebe und ihres Scheiterns, die Geschichte einer unglaublich starken Frau, die sich gegen alle Widrigkeiten behauptet. »Kein Wort an der falschen Stelle, kein Satz, der nicht glänzt, und kein Absatz, der einen nicht bis in die tiefste Faser berührt.« HET PAROOL

JAAP ROBBEN, geboren 1984, ist Dichter, Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Seit 2004 publiziert er Lyrik, Romane, Jugendbücher und Essays. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, verfilmt und in mittlerweile fünfzehn Sprachen übersetzt. Mit seinem Roman >Summer Brother< stand er auf der Longlist des International Booker Prize. Jaap Robben lebt in Deutschland.

3

Und jetzt füllt seine Asche ein kleines, in metallischem Blau schimmerndes Eimerchen. Der Großteil stammt von seinem Sarg. Mit Tobias und Nadine stehe ich auf einem akkurat gemähten Rasen. In der Hand halte ich zwei Maiglöckchen, eingewickelt in Küchenpapier. Die werde ich gleich auf die Asche legen. Das Streumädchen fragt, ob wir eine bestimmte Form wünschen. Wahrscheinlich fühlt sich dieses Mädchen längst als Frau. Je älter ich werde, desto jünger kommen mir meine Mitmenschen vor. Jung auf eine Art und Weise, die ihnen selbst gar nicht bewusst ist.

»Form?«

»Ein Herz vielleicht? Den ersten Buchstaben seines Namens? Oder ein Kreuz?«

»Kein Kreuz«, sage ich. Ringsum liegen mehrere weißgraue Häuflein. Vor allem Kreise. Ein einzelner Buchstabe, aber die meisten Formen sind schon verweht.

»Sondern?«

»Hm.«

»Ist doch egal, Mama, oder?«, mischt Tobias sich ein, seine Hand auf meiner Schulter. Immer wenn er mich heute berührt, streichelt er mich auch kurz. »Mama?«

»Ja, das ist egal, Junge.«

»Können Sie nicht einfach …« Tobias zuckt die Schultern, weil er selbst nicht genau weiß, was »einfach« heißen soll. Die junge Frau mit dem Eimerchen nickt eifrig, sie weiß zum Glück genau, was »einfach« bedeutet. Ich bedeute ihr: Bitte fangen Sie an.

Kurz sieht es so aus, als ob gleich etwas passieren wird, wahrscheinlich wegen der weißen Handschuhe und der einstudierten Bewegungen. Langsam drückt sie einen Hebel am Henkel des Eimers, gleich wird sie etwas hervorzaubern. Eine Taube vielleicht. Etwas Lebendiges und Großes, das unmöglich in die kleine Urne passt. Und wir werden applaudieren und in das Eimerchen schauen wollen, um herauszufinden, wie sie das bloß gemacht hat. Aber das passiert nicht. Alles, was Louis je gewesen ist, alles, was ich je lieb hatte, ist nun ein staubiges Häufchen Asche, das mit jeder Kreisbewegung größer wird. Dann ist das Eimerchen leer. Ich warte noch auf einen Rest, doch da kommt nichts mehr. Alles, was Louis sein Leben lang gewaschen, geputzt, mit Zahnseide gereinigt, gekämmt und versorgt hat, alles, was er gewesen ist, liegt hier vor mir zwischen den Grashalmen. Zerpudert und zerpulvert. Zum Verwehen bereit. Unwiederbringlich tot.

Tobias und Nadine stützen mich mit ihren Umarmungen, die vom Weinen erschüttert werden. Durch meinen Tränenschleier erkenne ich ihre Gesichter nicht. Ich streichle eine Wange, küsse eine Stirn, meine Lippen landen halb auf einem Auge, ich versuche es ein Stückchen höher. Ich spende den Trost, den ich eigentlich selbst brauche.

Lieber, lieber Louis. Alles war so schnell vorbei. All die Male, die ich besorgt durch die Gardinen blickte, wenn er im Winter hinausmusste, um für die Apotheke Medikamente auszuliefern, all die Male, die er dann wieder nach Hause kam.

Bedächtig lege ich die Maiglöckchen ab, ohne seine Asche zu berühren. Tobias muss mir helfen, die beiden Stiele sollen dicht beieinanderliegen.

»So?«, fragt er.

»Mhm.«

Ich will meine Taschentücher aus der Umhängetasche holen, aber der Reißverschluss klemmt. Nadine wedelt schon mit einem vor meinem Gesicht. Wir schniefen und lächeln uns durch die Tränen zu. Es fühlt sich an, als seien wir zu dritt bis zum Grund unserer Trauer getaucht und stünden jetzt immer noch tropfend auf dem Trockenen. Tobias drückt Nadine an sich, als müsse sie warmgehalten werden. Weil ich nicht in ihre Umarmung passe, reibt mir Tobi mit ausgestrecktem Arm so gut es geht über die Schulter. Ich schmiege meine Wange an seinen Handrücken, an seine Männerhand.

Wir schnäuzen uns, seufzen tief, umarmen uns noch einmal.

Nadine hakt sich bei mir unter. So verlassen wir die Rasenfläche. Hinter uns schiebt Tobias meinen Rollator auf den Weg. Ich grinse über einen Scherz von ihm, den ich nicht verstanden habe. Auf die Trauer folgt Erleichterung, wie bei einem Zimmer nach dem Ausräumen.

Das Streumädchen in ihrem adretten dunkelblauen Hosenanzug steht diskret ein paar Schritte von uns entfernt. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Ihre behandschuhte Hand deutet in die Richtung, aus der wir vorhin gekommen sind.

Durch das Weinen sind meine Atemzüge nun tiefer, mein Brustkorb fühlt sich leer an, geräumiger. Ich putze mir die Nase, trockne meine Wangen und huste ein paarmal.

Nadine bringt mich zu meinem Rollator und hakt sich bei Tobias ein. »Wird es gehen, Frieda?«

»Danke, Liebes. Geht nur voraus.«

Wenn sie drei Schritte machen, falle ich zwei zurück. Die junge Frau vom Bestattungsinstitut bleibt an meiner Seite. Sie hat die Handschuhe ausgezogen, die Urne baumelt wie ein Strandeimer an ihren Fingern. Schweigend begleitet sie mich auf dem Weg zum Friedhofstor. Sie kann auf eine sehr natürliche Weise schlendern. Die Reifen des Rollators hinterlassen Furchen im Kies. Ich komme mir vor wie ein Pferd, das einen Pflug vor sich herschiebt. Wir gehen an einem neuen Seitenpfad vorbei. So heftig, wie ich schnaufe, muss ich der Wind sein, der die Blätter an den Bäumen rascheln lässt.

Kurz anhalten.

Zu Atem kommen.

Manche Trauerkränze sind so schlampig gebunden, dass ich mich frage, warum die Leute sich damit zufriedengeben. Früher im Blumenladen war ich oft einen ganzen Morgen mit einem schönen Kranz beschäftigt.

Ich muss die Augen zusammenkneifen, um die Schrift auf den ersten Grabsteinen zu entziffern.

»Soll ich Ihnen einen Rollstuhl holen?«

»Nein, nein.« Ich schiebe den Rollator weiter. Sie geht hinter mir her. Ich höre, wie sie mit ihren schicken Schuhen die Spuren verwischt, die ich im Kies hinterlasse. Bei einem hohen Nadelbaum muss ich erneut eine Pause einlegen. Ich setze mich auf den Sitz meines Rollators und bedeute ihr, dass sie ruhig weitergehen könne. Aber sie schüttelt den Kopf. Der Riesenbaum gehört zu einem Grabstein, den es nicht mehr gibt. Die Wurzeln haben die Deckplatte zerstückelt und angehoben.

»Der liegt hier schon … eine ganze Weile«, keuche ich, um irgendetwas zu sagen.

Weil dem Mädchen die Stille wohl auch zu lange dauert, bückt sie sich und biegt die verdorrten Zweige zur Seite.

»Ja, seit 1956.«

»Wie lang bleibt … so ein Grab?«

»Das hängt von den Angehörigen und ihren finanziellen Möglichkeiten ab. Die meisten entscheiden sich heutzutage für eine Einäscherung. Um den Hinterbliebenen keine Arbeit zu machen.«

»Gibt es hier noch mehr alte Gräber?«

»Wie alt meinen Sie denn?«

»Von 1963 zum Beispiel.«

»Die sind hauptsächlich dort drüben.« Sie wedelt mit der Hand in Richtung einer Buchenallee. »Aber es werden immer weniger. Anstelle der eingefriedeten Gräber wurden im Laufe der Jahre neue angelegt. Suchen Sie jemanden Bestimmten?«

Ich schüttele kaum merklich, aber entschieden den Kopf.

»Einen Mann oder eine Frau?«

Tobias und Nadine haben das Ende des Wegs erreicht. Er dreht sich um und bemerkt, dass wir zurückgeblieben sind. Sie umarmen sich. Vor allem umarmt er Nadine, immerhin ist sie einen Kopf kleiner.

»Ich kann es herausfinden.« Aus der Innentasche ihres Hosenanzugs holt sie ihr Handy. Mein Herzschlag dröhnt in meinen Fingerkuppen. Vor meinen Augen schwirren weiße Fliegen. Sie wischt über das Display, tippt etwas ein und schüttelt den Kopf. »Ich könnte noch … Hier stehen die …« Mit Daumen und Zeigefinger vergrößert sie etwas. »Es gibt nur noch wenige von Anfang 1963. Und in einem Familiengrab wurde im Sommer 1963 auch jemand beigesetzt.« Sie deutet über ihre linke Schulter. »Ich kann Sie gern hinbringen, wenn Sie möchten.«

»Nicht nötig.«

Bevor das Streumädchen noch etwas sagen kann, schiebe ich meinen Rollator wieder über den Kies.

»Ich komme schon«, rufe ich Tobias zu.

»Geht es, Mama?«

»Ja, Junge, deine Mutter kann nur nicht mehr so schnell.«

»Wollen wir in der Villa Brakkesteyn noch etwas trinken?«, fragt Tobias, während er den Rollator zusammenklappt und im Kofferraum verstaut. »Oder lieber in der Thornse Molen? Da ist jetzt ein kleines Restaurant. Oder möchtest du woandershin? Wir können auch zurück in die Vergangenheit, wenn du willst.«

»Eine Tasse Kaffee wäre schön. Ihr dürft entscheiden, wo.«

»Keine Runde durch Früher?«

»Ein anderes Mal, ja?« Tobias hat das immer gern mit Louis gemacht, unsere Geburtshäuser anstarren, voller Neugier, ob die heutigen Bewohner irgendetwas umgebaut hatten, dann weiter zu Tobias’ alter Grundschule. Doch das meiste von früher steht schon lang nicht mehr.

»Geht es einigermaßen?«, fragt Nadine. Sie stellt mir immer wieder eine andere Variante derselben Frage.

»Ja.« Ich lächele. »Es geht schon.« Nadine knöpft die Jacke auf, und ich bemerke mit einem Mal die Wölbung ihres Bauchs. Sie reibt am kneifenden Hosenbund entlang. Als sich unsere Blicke treffen, lächele ich flüchtig.

»Willst du vielleicht noch schnell nach Hause?«, funkt Tobias dazwischen.

»Nach Hause?«

»Ende des Monats müssen wir die Schlüssel bei der Baugenossenschaft abliefern, wir haben also noch etwas Zeit. Ich kann dich auch nächste Woche mal abholen, wenn du willst.«

Im Auto fragt er dann: »Können wir?«

Ich nicke.

Doch plötzlich habe ich das Gefühl, dass wir Louis vergessen haben und ihn einfach so hier zurücklassen. Das bittere Bedauern, dass es kein Grab mit seinem Namen gibt. Louis wollte es so. Dass er wirklich nirgends mehr ist.

Nadine blickt mich durch die Kopfstützen an, legt mir die Hand auf das Knie. »Wie fühlt es sich an?«

»Was?« Ich weiß nicht, welches Gefühl ich jetzt schon wieder in Worte fassen soll.

»Einfach das...

Erscheint lt. Verlag 15.8.2023
Übersetzer Birgit Erdmann
Sprache deutsch
Original-Titel Schemerleven
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Affäre • Birk • Blumenladen • Booker Prize • Empowerment • Familiengeschichte • Familienroman • Große Liebe • Holland • Ilja Leonard Pfeijffer • International Booker Prize • Katholisch-beengte Verhältnisse • Liebe im Alter • Liebesroman • Lize Spit • marieke lucas rijneveld • Niederlande • Niederländischer Bestseller • Pflegeheim • Schemerleven • Sechzigerjahre • Seniorenheim • stille Geburt • Uneheliches Kind • verheirateter Mann
ISBN-10 3-8321-6077-9 / 3832160779
ISBN-13 978-3-8321-6077-7 / 9783832160777
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