Bis wir Wald werden (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
176 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12213-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bis wir Wald werden -  Birgit Mattausch
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»Das Bleiben. Das Gehen. Ununterscheidbar, wo es beginnt, wo es endet.« Ein Hochhaus am Waldrand ist das Zuhause von Nanush und ihrer Urgroßmutter Babulya. Einst hat die Urgroßmutter ihre Urenkelin von Sibirien nach Deutschland getragen, nun deckt Nanush die alte Frau abends mit einer Steppdecke zu. Voller Wärme und Poesie erzählt Birgit Mattausch von einem unzertrennlichen Familienband und einer ganz besonderen Hausgemeinschaft. Wenn Babulya sagt, sie seien aus dem Frühling gekommen, weiß Nanush, dass ihre Urgroßmutter nicht nur sie beide damit meint, sondern alle Bewohner*innen des Hauses: Oma Elsa, die weder Hochdeutsch noch Russisch spricht, Felek, die aus Kurdistan geflüchtet ist, Vitali, der sich von seinem Hund beschützen lässt, oder Gregorij, der weiß, wie man Sonnenblumenkerne im Mund schält. Jahrelang war Babulyas Küche der Mittelpunkt all ihrer Geschichten, mit den Tomatenpflänzchen am Fenster und dem Salbei an der Decke. Doch nun ist Babulya so alt, dass sie kaum noch ihr Bett verlässt. Was bedeutet es für die Hausgemeinschaft und was bedeutet es für Nanush, wenn die Hüterin ihrer Erinnerungen eines Tages nicht mehr da ist? Ein Familienroman, der bildstark vom Wurzelnschlagen auf betoniertem Terrain erzählt.

Birgit Mattausch hat Germanistik und evangelische Theologie studiert. Zehn Jahre lang war sie Pfarrerin in Süddeutschland, seit 2017 arbeitet sie als Referentin in der pastoralen Aus- und Weiterbildung. Sie arbeitete mehrere Jahre in einer Gemeinde, der viele Aussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion angehörten, und wohnte mit ihnen in einem Hochhaus.

Birgit Mattausch hat Germanistik und evangelische Theologie studiert. Zehn Jahre lang war sie Pfarrerin in Süddeutschland, seit 2017 arbeitet sie als Referentin in der pastoralen Aus- und Weiterbildung. Sie arbeitete mehrere Jahre in einer Gemeinde, der viele Aussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion angehörten, und wohnte mit ihnen in einem Hochhaus.

Unser Haus hat 323 Fenster. Früher taten Nelli, Vitali und ich so, als wären die Fenster Augen: Etwa 87 von ihnen sind eigentlich immer geöffnet. Die geschlossenen haben Lider aus weißer Synthetikspitze, aus Fadenvorhängen, gelbem Satin, geriffelten Jalousien, grauen Rollläden. Manche haben Hornhauttattoos: Einhörner, Regenbögen, Sonnenblumen aus Windowcolours.

Direkt hinter den Augen: Orchideen aus Stoff. Rosen aus Plastik. E. T. in Plüsch will nach Hause.

Felek, Babulya, Lilli, Oma Elsa, Valentina – sie alle putzen die Fensteraugen regelmäßig. Um danach die Vorhänge wieder zuzuziehen. Um sie aufzuziehen. Die Fensteraugen zu öffnen und hinunterzurufen wie früher schon: Kommt! Es gibt Waffeln / Pide / Eis / Germanys Next Top Modell / Pelmeni / Hausaufgaben / Schlaf / ein Zuhause.

Wir wohnen in Babulyas Küche. Sie ist klein, und sie ist groß.

Klein, weil sie eine Hochhausküche ist. Ein in Beton gegossener Raum zu einer Zeit, als man Wohnküchen für überholt hielt und Fertiggerichte die Verheißung der Zukunft waren. Küchen wie Nischen in Raumschiffen. Eine Zeit, in der Babulya noch immer auf den Urgroßvater wartete und auf den Frühling, tausende, tausende Kilometer entfernt von diesem Ort hier, an dem die Betonplatten zu dem zusammengesetzt wurden, was dann ihre Küche wurde.

Groß, weil es eben Babulyas Küche ist. Das Herz unseres Hauses. Oder sein Magen. Seine Vorratskammer. Vollgestopft mit Salzgurken, Schinken, dem Samowar. Mit von der Decke hängenden Büscheln von Salbei. In den Hängeschränken Fische in Dosen. Tomatenpflänzchen am Fenster.

Die Küche hat einen Tisch, um den wir sitzen und Wareniki rollen und kleben, Tee trinken, Zwiebeln hacken, deshalb weinen; an dem ich früher Hausaufgaben machte und Vitali sie von mir abschrieb – und eigentlich war das alles gar nicht möglich. Denn die Küche war viel zu klein für all das und ist es noch.

Gut möglich dagegen, dass Onkel Wladi eine Wand mit dem Vorschlaghammer herausgehauen hat, dass Oma Elsa gesagt hat Ihr sejd verrieckt. Wenn das Haus zusammafälld!, dass das Haus nicht zusammengefallen ist, dass überhaupt niemand es bemerkt hat, denn schließlich ist es verboten, Küchen größer zu machen.

Gut möglich aber auch, dass wir eingezogen sind und Babulya sagte: Hier ist die Küche. Den Herd hierher, Wladi. Dass Onkel Wladi sagte: Das ist das Wohnzimmer, Babulya. Und Babulya: Wer braucht ein Wohnzimmer, das so groß ist? Und Onkel Wladi: Das ist Deutschland, Babulya. Und Babulya: Hier ist die Küche. Und Onkel Wladi hat gehorcht und die Kabel verlegt, die Wasserleitungen umgeleitet, den Herd herübergeschleppt.

Gut möglich aber auch, dass es die Luft aus Sibirien war (eine Luft mit dem Geruch von Birkenharz in der Sonne, eine Luft wie eben geschmolzener Schnee) – Babulya hatte sie mitgebracht in ihrem Haar, unter dem Kopftuch, in ihren Lungen, ihrem Koffer mit den Töpfen darin. Und diese Luft verrückte die Wände der kleinen Hochhausküche, so dass sie groß wurde und Platz hatte für den Tisch, die Fischdosen und vor allem für die Geschichten, die Babulya erzählte, Valentina, Oma Elsa, Lilli, später auch Felek. Geschichten, denen Vitali, Nelli und ich zuhörten, während wir unterm Tisch saßen und uns von Gregorij zeigen ließen, wie man Sonnenblumenkerne im Mund schält.

Die Geschichten begannen mit Schwänen und Brennnesseln, gingen über zu Prinzessinnen in Schlössern aus Eis, sie machten kleine Abbiegungen Richtung Meer und endeten mit einer Hochzeit. Andere erzählten von schiefen Augen und einem Güterwaggon. Von Säcken mit Zement und einem Stempel auf einem Papier. Sie kannten einen rot angemalten Tisch, diese Geschichten. Ein Kleid mit einer Spitzenborte und eine getrocknete und in einer Bibel gepresste Blume, die Wunder tat – wenn die Taube um zwölf auf dem Giebel des Daches gurrte. Nur dass unser Haus ein flaches Dach hat, und weit und breit kein Giebel ist.

Nur dieser Tisch und diese Küche. Der Mittelpunkt unseres Universums. Ein winziger Punkt, um den die Planeten kreisen, die Sterne und Sonnen. Denn kann es Besseres geben, als um einen Ort voller Salbei, Salzgurken, eingelegtem Schaschlik zu kreisen? Einen Ort, an dem die Butter nie ausgeht und an dem Babulya mich auf ihren Schoß zog und mich, wenn ich einnickte, in die bestickte Steppdecke wickelte, in der ich auf der Küchenbank weiterschlief, umgeben von den Stimmen der anderen und dem Geruch nach Mehl und Hefe.

Es gibt die eine Geschichte und die vielen.

Die eine: Wir wanderten aus, wir bauten Häuser, wir waren fleißig und rechtschaffen. Dann verfolgt. Dann verstreut. Dann zurück. Fertig. »Deutsche aus Russland: Sie waren Deutsche, und sie sind Deutsche.«

Die eine: Wir waren Russen, aber ohne Bildung, ohne Dostojewski, Tolstoi, Tschaikowski. Dann holte uns Kohl, weil *irgendetwas mit einem Deutschen Schäferhund*, wir waren undankbar, kriminell und bekamen Geld und Kredite für viel zu große Häuser.

Die vielen: Oma Elsa mit ihren deutschen Wörtern und Gewohnheiten des 18. Jahrhunderts. Babulya mit immer noch Sibirien im Haar. Olga, eingeheiratet. Onkel Wladi, nie eine Gratifikation, weil zu deutsch. Onkel Heinrich Soder, Held der sowjetischen Landwirtschaft.

BABULYA

Geboren: im Schnee

Frühe Kindheit: winters am Feuer, sommers im Wald, lernt die Sprache der Zauberer

Jugend: fliegt mit den Schwänen

Spätere Jugend: liebt den Bär, folgt dem Mond, wird schwanger, hört auf, Schnee zu sein und Schwan und Wald

Feststellung: Viele Jahre später brachte ich das Kleid aus Brennnessel und Schwanengefieder über die Grenze. Frag mich nicht wie, mein Kätzchen. In meinen Gedanken.

P. S.: Wenn ich sterbe, zieh es mir an. Dann werde ich fliegen. Und du hast kein Müh mit dem Grab.

Als Onkel Wladi den deutschen Boden betrat, da war der deutsche Boden ein Stück Asphalt. Auf dem Flughafen Hannover-Langenhagen.

Onkel Wladi hatte seine Aktentasche in der einen Hand und Tante Irina an der anderen, so stieg er die Treppe vom Flugzeug hinunter. Eine Stufe nach der anderen, die Füße in braunen Schuhen, gekauft in Novosibirsk. Von Weitem sahen die beiden vielleicht aus wie John F. Kennedy und Jackie – nur die sowjetische Variante (für die Hiesigen) oder die russlanddeutsche (für uns). Wir werden es nie wissen, denn es war niemand da, der von diesem Moment ein Foto machte.

Es ging alles so schnell, Nanushka, ich dachte noch: jetzt! Und dann war es vorbei und jemand rief: Gehen Sie weiter! Und dann das Gepäck.

Der deutsche Boden war erst Asphalt, dann Linoleum. Er war ein Bahnsteig, dann eine Straße, ein Lager. Der deutsche Boden war Friedland. Und die gelben Fliesen bei Aldi. Erst später war er Parkett in kleinen Quadraten, war Teppich, war Weg bis zur Tür des eigenen Hauses, sogar Waldboden war er und Wiese. Er war aber nie das, was Onkel Wladis Vater versprochen hatte: ein Heimkommen wie in deiner Mutter Schoß, ein Ort ohne Fragen und ohne das Wort Fascisti.

Wobei: Fascisti waren Onkel Wladi, Tante Irina, Babulya, Oma Elsa, Valentina, Nelli, Vitali und ich nicht mehr. Jetzt waren wir die Russen. Die ersten dreißig Jahre etwa waren wir das. Bis einige von uns anfingen, eine Partei zu wählen, die kein Problem hatte mit Fascisti, Putin und dem Gedanken, dass der deutsche Boden mehr war als Asphalt und Wiese. Wir wurden russische Fascisti oder: faschistische Russen oder: die, die man aufgenommen hat wegen eines deutschen Schäferhundes im Stammbaum und die jetzt …

Wie können sie so dumm sein und die wählen! (Ich. Zu Vitali. Zu Babulya. Zu Nelli. Oma Elsa.)

Lass die Männr ieber Palietijk rede, Nanushka! (Oma Elsa)

Haben wir noch Tee im Haus, Kätzchen? Geh schauen für mich. (Babulya)

Weil sie alles glauben, was auf Facebook steht. (Nelli)

Ach, Nanush, du kennst sie doch. (Vitali)

Nicht alle sind so. (Lilli)

Onkel Wladi frage ich nicht. Ich will die Antwort nicht hören.

Wenn ich morgens aufwache, denke ich an all die Menschen in unserem Haus.

16 Stockwerke à 5 Wohnungen. Ich kenne beinahe alle, die hier wohnen. Höre, sehe, rieche sie durch den Beton hindurch.

Die baptistischen Familien mit den vielen Kindern, die Mädchen immer in Röcken. Im Aufzug schauen sie zu Boden, und ich spüre ihre Verachtung wie ein...

Erscheint lt. Verlag 19.8.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bücher • Einwanderung • Erinnerungen • Familienband • Familienroman • Hausgemeinschaft • Heimat • Herkunft • Hochhaus • Identität • Kasachstan • Migration • Neuerscheinungen 2023 • Russland • Russlanddeutsche • Schwan • Sibirien • Sowjetunion • Urenkelin • Urgroßmutter • Verortung
ISBN-10 3-608-12213-3 / 3608122133
ISBN-13 978-3-608-12213-8 / 9783608122138
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