Eine Frage der Höflichkeit (eBook)

Roman

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
416 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-27505-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Frage der Höflichkeit -  Amor Towles
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Beim Besuch einer Kunstausstellung in New York erkennt Kate auf zwei Fotos ihre Jugendliebe Tinker Grey wieder. Sie durchlebt daraufhin Erinnerungen an einen ausgelassenen Sommer im New York der späten 30er, den sie als Dreiergespann mit ihrer besten Freundin Eve gemeinsam verbracht haben - ehe er durch einen verheerenden Unfall ein plötzliches Ende fand. 'Eine Frage der Höflichkeit' ist zugleich ein elegantes modernes Märchen und ein mitreißendes Gesellschaftsporträt in der Erzähltradition von F. Scott Fitzgerald.

Amor Towles, geboren 1964 in Boston, Massachusetts, hat in Yale und Stanford studiert. Sein Debüt 'Eine Frage der Höflichkeit' erschien 2011. Sein zweiter Roman 'Ein Gentleman in Moskau' (2016) stand zwei Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times, war 2016 Finalist des Kirkus Prize in Fiction & Literature und wurde 2018 für den International Dublin Literary Award nominiert. Seine Werke wurden bislang in über dreißig Sprachen übersetzt. Towles lebt in Manhattan. Bei Hanser erschien zuletzt sein dritter Roman Lincoln Highway (2022).

IM MUSEUM OF MODERN ART


Vorspann

Am Abend des 4. Oktober 1966 gingen Val und ich, beide nunmehr fortgeschritteneren Alters, zur Eröffnung der Fotoausstellung Many Were Called im Museum of Modern Art — die erste Ausstellung der Porträts, die Walker Evans in den späten Dreißigerjahren mit versteckter Kamera in der New Yorker Subway gemacht hatte.

Es war, wie es in den Klatschspalten gern hieß, eine »Veranstaltung der Superlative«. Die Männer waren im Anzug, mit weißem Hemd mit schwarzer Fliege, entsprechend der Palette der Fotos, die Frauen trugen leuchtend bunte Kleider in jeder Länge, von knöchellang bis zwei Handbreit über dem Knie. Arbeitslose junge Schauspieler mit makellosen Zügen und der Anmut von Akrobaten reichten Champagner auf kleinen, runden Tabletts herum. Nur wenige Besucher sahen sich die Bilder an. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich zu amüsieren.

Ein angetrunkenes junges Mädchen der High Society stolperte hinter einem Kellner her und hätte mich beinahe umgerannt. Sie war nicht die Einzige in dieser Verfassung. Es galt als salonfähig, ja sogar als schick, bei formellen Anlässen schon vor acht betrunken zu sein.

Aber vielleicht war das nicht so schwer zu verstehen. In den Fünfzigerjahren hatte Amerika den Erdball auf den Kopf gestellt und ihm das Wechselgeld aus den Taschen geschüttelt. Europa war jetzt der arme Verwandte — lauter Familienwappen, aber kein Tafelsilber mehr. Und die voneinander nicht zu unterscheidenden Länder Afrikas, Asiens und Südamerikas hatten gerade erst begonnen, über die Wände unserer Klassenzimmer zu huschen wie Salamander in der Sonne. Klar, irgendwo da draußen waren die Kommunisten, aber nachdem Joe McCarthy unter der Erde und noch niemand auf dem Mond war, geisterten die Russen bislang lediglich durch die Seiten von John le Carrés Romanen.

In gewisser Weise waren wir also alle betrunken. Wir starteten in den Abend wie Satelliten und umkreisten die Stadt zwei Meilen über dem Boden, unser Treibstoff waren die schwachen ausländischen Währungen und die fein gefilterten geistigen Getränke. Wir diskutierten lautstark bei Dinnerpartys, verzogen uns heimlich mit dem falschen Ehepartner ins nächste leere Zimmer und feierten mit der Begeisterung und Indiskretion griechischer Götter. Und morgens wachten wir Punkt halb sieben auf, mit klarem Kopf und voller Optimismus, einsatzbereit, unsere Plätze an den Edelstahlschreibtischen einzunehmen und die Geschicke der Welt zu lenken.

Das Rampenlicht an diesem Abend war nicht auf den Fotografen gerichtet. Evans, Mitte sechzig, dünn und verknittert wie jemand, dem Essen nichts bedeutet, sodass sein Smoking lose an ihm herunterhing, sah so traurig und so unscheinbar aus wie ein pensionierter mittlerer Verwaltungsangestellter von General Motors. Hin und wieder unterbrach jemand seine Einsamkeit und machte eine Bemerkung, aber den größten Teil des Abends stand er unbeholfen in der Ecke wie ein Mauerblümchen auf einem Tanzabend.

Nein, aller Augen galten nicht Evans. Die Blicke galten stattdessen einem jungen Autor mit schütterem Haar, der gerade mit der Veröffentlichung der Affären seiner Mutter einen sensationellen Erfolg gelandet hatte. Von seinem Lektor und seinem Presseagenten flankiert, nahm er haufenweise Komplimente seiner Fans entgegen und sah dabei listig aus wie ein Neugeborenes.

Val blickte erstaunt in die Runde der Schmeichler. Er konnte an einem Tag zehntausend Dollar verdienen, indem er die Fusion eines Schweizer Kaufhauses mit einem amerikanischen Waffenhersteller in die Wege leitete, aber es war ihm schleierhaft, wie so ein bisschen Klatsch einen solchen Aufruhr hervorrief.

Der Presseagent, der seine Umgebung genau im Auge hatte, erspähte mich und winkte mir zu. Ich winkte zurück und hängte mich bei meinem Mann ein.

»Komm, Schatz, sehen wir uns die Bilder an.«

Wir begaben uns in den zweiten Raum der Ausstellung, der weniger voll war, und gingen in aller Ruhe die Wände entlang. In der Mehrzahl waren es querformatige Porträts von Menschen in der Subway, die dem Fotografen direkt gegenübersaßen.

Da war ein ernster junger Mann aus Harlem mit einem keck sitzenden Bowler und einem französischen Oberlippenbärtchen.

Dort ein Vierzigjähriger mit Brille, Pelzkragen und breitkrempigem Hut, Typ Gangsterbuchhalter.

Hier zwei unverheiratete Mädels aus der Kosmetikabteilung bei Macy’s, beide gut in den Dreißigern und etwas sauertöpfisch, weil sie wussten, dass ihre besten Jahre hinter ihnen lagen, mit Augenbrauen, bis hinauf zur Bronx gezupft.

Hier ein Er, da eine Sie.

Hier jemand Junges, da jemand Altes.

Hier jemand Fesches, da jemand Abgerissenes.

Die Fotos waren zwar schon vor fünfundzwanzig Jahren entstanden, aber noch nie öffentlich gezeigt worden. Evans hatte anscheinend Bedenken im Hinblick auf die Privatsphäre der von ihm fotografierten Personen gehabt. Das mag seltsam oder sogar ein wenig übertrieben klingen angesichts der Tatsache, dass er sie in einem so öffentlichen Raum gemacht hatte. Aber wenn man sich die Gesichter entlang den Wänden ansah, konnte man Evans’ Skrupel verstehen. Denn in gewisser Weise fingen die Fotos das Menschsein schonungslos ein. Gedankenverloren, in der Anonymität des Pendlerzugs und ahnungslos, dass ein Fotoapparat direkt auf sie gerichtet war, offenbarten viele von ihnen unbewusst ihr innerstes Ich.

Jeder, der zweimal täglich mit der Subway fährt, um sein Brot zu verdienen, weiß, wie es ist: Beim Einsteigen ist man noch die Person, als die einen auch die Kollegen und Bekannten kennen. So geht man durch das Drehkreuz und durch die automatischen Türen, und die anderen Fahrgäste nehmen uns wahr, wie wir sind: großspurig oder zurückhaltend, verliebt oder gleichgültig, betucht oder am Hungertuch nagend. Dann sucht man sich einen freien Platz, und der Zug fährt los; eine Station folgt auf die andere; Menschen steigen ein und aus. Und bei dem einschläfernden Geschaukel des Zuges gleitet die sorgfältig fabrizierte Persönlichkeit von einem ab. Wenn die Gedanken um Sorgen und Träume zu schweifen beginnen, löst sich das Über-Ich auf, oder vielmehr, es entschwebt in eine Art Hypnose, wo selbst Sorgen und Träume in den Hintergrund treten und eine friedliche, kosmische Stille sich über alles legt.

Da geht es uns allen gleich. Nur dass dieser Zustand nach unterschiedlich vielen Stationen eintritt. Bei manchen nach zweien, bei anderen nach dreien. 68. Straße, 59. Straße, 51. Straße, Grand Central. Welche Erholung, diese wenigen Minuten, in denen wir den Blick ins Unbestimmte gleiten lassen und den einzig wahren Trost finden, den menschliche Isolation ermöglicht.

Wie befriedigend diese fotografische Studie für die Uneingeweihten gewesen sein musste! Für die jungen Anwälte und Banker und die munteren jungen Mädchen aus reichem Hause, die durch die Ausstellung schlenderten und beim Anblick der Bilder sicherlich dachten: Was für eine Tour de Force. Was für eine künstlerische Leistung. Hier sehen wir endlich das Antlitz der Menschheit!

Doch für diejenigen von uns, die damals jung waren, sahen die Gestalten aus wie Geister.

Die Dreißigerjahre …

Was für ein aufreibendes Jahrzehnt das war.

Ich war sechzehn, als die Depression begann, gerade alt genug, um all meine Träume und Erwartungen vom leichtfüßigen Glanz der Zwanzigerjahre täuschen zu lassen. Es war, als hätte Amerika die Depression nur deshalb erfunden, um Manhattan eine Lektion zu erteilen.

Nach dem Börsenkrach konnte man zwar nicht hören, wie die Leichen auf dem Pflaster aufschlugen, aber es gab so etwas wie ein gemeinschaftliches Aufstöhnen und dann eine Stille, die sich wie Schnee auf die Stadt senkte. Die Lichter flackerten. Die Musiker legten ihre Instrumente ab, und die Menschen bewegten sich leise zum Ausgang.

Dann drehte der Wind von West nach Ost und blies die Wanderarbeiter bis in die 42. Straße. Er trieb große Wolken vor sich her, die sich über die Zeitungsstände und Parkbänke legten und auf die Seligen und Verdammten gleichermaßen senkten, wie die Asche von Pompeji. Plötzlich hatten wir unsere eigenen Armen — zerlumpt und niedergedrückt schleppten sie sich durch die Straßen, an den Feuern in Ölfässern...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2023
Übersetzer Susanne Höbel
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel RULES OF CIVILITY
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Debütroman • Dreißigerjahre • Gesellschaft • MoMA • Museum of Modern Art • New York • Reichtum • Status • Upper Class • Upper East Side • versäumte Liebe • Wall Street
ISBN-10 3-446-27505-3 / 3446275053
ISBN-13 978-3-446-27505-8 / 9783446275058
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