Werke (eBook)

Werke 3: Die Stücke 1

(Autor)

Frank Hörnigk (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
557 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76610-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Werke - Heiner Müller
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Die in diesem Band abgedruckten Stücke/Szenen Heiner Müllers sind zwischen dem Ende der 40er und den späten 60er Jahren entstanden. Sie belegen, in welch anhaltender Intensität sich Müller von Beginn an immer auch mit den besonderen Möglichkeiten szenisch-dramatischen Schreibens auseinandergesetzt hat. Es mußte fast ein Jahrzehnt vergehen, ehe Müller in der DDR 1957 mit Der Lohndrücker erstmals ein Stück veröffentlichen konnte. Erste Erfolge auf der Bühne, Beachtung durch die Kritik, die Verleihung des Heinrich-Mann-Preises folgten. Aber bald kam es zu Konflikten, Aufführungsverboten und zum Ausschluß aus dem Schriftstellerverband der DDR. Mehr als zehn Jahre wurden anschließend die Stücke Heiner Müllers auf keiner Bühne der DDR gespielt. Als er östlich der Elbe verboten wurde, erwachte im Westen das Interesse an einem Dichter, dessen neuere Texte eine poetische Dimension eröffneten, die nicht nur für die DDR, sondern auch für die Bundesrepublik herausragend wurden und ihm wiederum nur wenige Jahre später die Anerkennung als »sprachmächtigster deutscher Dramatiker« einbrachten. Der hier vorgelegte erste Band seiner Stücke dokumentiert diesen Zeitraum.



<p>Heiner Müller, geboren am 9. Januar 1929 in Eppendorf, Sachsen, war einer der wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zudem war er Lyriker, Prosa-Autor und Essayist sowie Präsident der Akademie der Künste Berlin (Ost). Er ist am 30. Dezember 1995 in Berlin verstorben.</p>

ZEHN TAGE DIE DIE WELT ERSCHÜTTERTEN

Szenen aus der Oktoberrevolution

nach Aufzeichnungen John Reeds

von Heiner Müller und Hagen Stahl

PERSONEN

Student

Student Rotgardist

Der Soldat Der junge Offizier Barin Soldaten Ein Offizier Ein Soldat Ein anderer Soldat Der kleine Kommissar Ein anderer Offizier Ein großer Soldat Ein kleiner Soldat

Erster Soldat Zweiter Soldat Offizier Dritter Soldat Vierter Soldat Agitator Feldwebel Kommandant Fähnrich Offiziersanwärter Weiblicher Leutnant

Fähnrich Rotgardisten Offiziersanwärter

Rotgardist Pockennarbiger Rotgardist Prokopowitsch Apostolow General Kleiner Dicker Eine Dame Matrose Ein Herr

Kommissar Offizier Der Alte (Kerenski-Soldat) Der junge Rotgardist Petro und andere Rotgardisten

Zwei Rotgardisten Zweiter Leutnant Zweiter Hauptmann Dicker Leutnant Fähnrich Major Cherlow Murawiow Kommissar Schreiber

Kommissar Erster Arbeiter Erster Matrose Zweiter Arbeiter Zweiter Matrose Junger Deserteur Alter Deserteur Alter Bauer

Bürger Deserteur

Erster Rotgardist Zweiter Rotgardist Offizier

Erster Kosak Zweiter Kosak Schreiber Betrunkener Kosak Erster Offiziersanwärter Der gefangene Rotgardist

Vorleser

Eine Dame Eine junge Arbeiterfrau Eine ältere Frau Mehrere Frauen

Erster Zeitungsverkäufer General Borissow Ein Herr Ein kleiner Dicker Zweiter Zeitungsverkäufer Erster Arbeiter Zweiter Arbeiter

Buchhalter Bankdirektor Offizier Kommissar Graf Schulenburg

Larin Erster Delegierter Zweiter Delegierter Dritter Delegierter Vierter Delegierter Ein Mitglied des Präsidiums Lenin Ein Bolschewik Awanessow Ein linker Sozialrevolutionär Eine Delegierte und andere Delegierte

Lenin

Student

Prolog

Projektion: Karte Rußlands, Petrograd markiert.

Film: Bewaffnete Arbeiter marschieren.

Straße mit Kellerkneipe. Im Hintergrund Schießen. An den Häuserwänden Plakate der Provisorischen Regierung, auffordernd zum Widerstand gegen die Aktion der Bolschewiki Aus der Kellerkneipe steigt ein Student, fordert, eine Zeitung schwingend, die Truppen zum Halten auf.

STUDENT Halt! Wohin, Genossen? In den Sozialismus, was? Habt keine Hosen anzuziehn und wollt Rußland in die Tasche stecken? Sozialismus? Bürgerkrieg! Ein Brett habt ihr vor dem Kopf. Die Kommissare sagen Brot und verteilen Gewehre. Sie sagen Frieden und stürzen die Regierung. Nicht Brot, Bajonette kriegt ihr in den Wanst. Sozialismus geht nicht mit Gewalt. Ich bin Marxist, ich weiß Bescheid, ich habe Bernstein gelesen. Ich bin der Student Wassili Georgewitsch Panyin. Habt ihr nie von mir gehört, ihr Schwachköpfe? Halt!

1

EIN MARXIST

Der Student. Ein Rotgardist kommt

STUDENT Willst du auf deine Brüder schießen?

ROTGARDIST bleibt stehen, betrachtet ihn: Du verstehst nicht. Es gibt zwei Klassen, das Proletariat und die Bourgeoisie.

STUDENT Ihr Bauern plappert nach, was euch gesagt wird, wie die Papageien. Ich sage dir, wofür du kämpfst, das ist kein Sozialismus.

ROTGARDIST Du bist gebildet, und ich bin ein Bauer. Das versteh’ ich.

STUDENT Glaubst du, Lenin ist ein Freund des Proletariats?

ROTGARDIST Ja.

STUDENT Weißt du, daß Lenin in einem geschlossenen Zug durch Deutschland gefahren ist?

ROTGARDIST Nein. Aber er sagt, was wir hören wollen. Er sagt: Es gibt zwei Klassen, das Proletariat und die Bourgeoisie.

STUDENT Ich habe in der Schlüsselburg gesessen für das Proletariat und bin gegen Lenin. Ihr Bauern habt die Revolutionäre massakriert und kämpft für Lenin. Wie erklärst du dir das?

ROTGARDIST Ich bin nicht gebildet. Für mich ist es ganz einfach. Es gibt zwei Klassen, das Proletariat und die Bourgeoisie.

STUDENT Dummkopf, das sind Phrasen.

ROTGARDIST Zwei Klassen. Wer nicht auf der einen Seite ist, der ist auf der anderen. Ab.

2

DER HEISERE KOMMISSAR

Halle. Im Hintergrund Panzerwagen. Soldaten. Offiziere. Ein Soldat steigt auf den Turm eines Panzers.

DER SOLDAT Die Bolschewiki bitten uns, die Soldaten der Panzerabteilung, um Hilfe. Für die Revolution, sagen sie. Das sagt Kerenski auch. Wir wissen nicht, wer recht hat. Wir müssen uns entscheiden.

DER JUNGE OFFIZIER Sie werden euch alles wegnehmen.

DER SOLDAT Ja, den Hunger und den Krieg.

DER JUNGE OFFIZIER Geht nicht mit den Bolschewiki. Kameraden, das Schicksal Rußlands ist in eurer Hand.

Bewegung

SOLDATEN Herunter mit dem Bürschchen!

Ausreden lassen.

Herunter mit ihm!

Barin soll reden.

Ja, Barin.

BARIN wird auf den Panzer gehoben: Genossen, was geht uns Kerenski an, was geht uns Lenin an? Bleiben wir neutral. Marschieren wir nach Hause.

SOLDATEN Richtig.

Was geht uns Kerenski an.

Was geht uns Lenin an.

Nach Hause.

EIN OFFIZIER Kameraden, gebt die Waffen nicht aus der Hand. Ihr liefert den Bolschewiki die Revolution aus.

EIN SOLDAT Warum nicht, wenn sie was draus machen.

DER JUNGE OFFIZIER Ich beschwöre euch, Kameraden.

Ein kleiner Mann in schäbiger Uniform klettert mühsam auf den Turm. Soldaten helfen ihm hinauf.

EIN SOLDAT Ein Kommissar von den Bolschewiki.

EIN ANDERER Der Bolschewik soll reden.

DER KLEINE KOMMISSAR heiser: Ich komme vom Revolutionären Kriegskomitee. Das Revolutionäre Kriegskomitee fordert die Soldaten der Panzerabteilung in Petrograd auf, sich dem bewaffneten Proletariat im Kampf um Brot und Frieden anzuschließen.

EIN SOLDAT Sprich lauter, Bolschewik.

DER KLEINE KOMMISSAR Genossen, wenn ihr drei Tage lang geschossen habt, sind die Rohre heiß. Ich habe meine Stimme seit drei Tagen strapaziert, im Kampf auf der Straße und in den Versammlungen. Das hält auch eine bolschewistische Kehle nicht aus. Ich kann nicht lauter reden, aber ihr könnt näher herankommen.

EIN OFFIZIER Holt ihn herunter.

EIN ANDERER Ja. Schlagt dem Bolschewiken aufs Maul.

EIN SOLDAT Er soll reden.

Soldaten treten näher

DER KLEINE KOMMISSAR Genossen. Wir Soldaten und Arbeiter haben die Februarrevolution gemacht.

EIN GROSSER SOLDAT Richtig.

DER KLEINE KOMMISSAR Kerenski hat sie an die Bourgeoisie verraten.

EIN OFFIZIER Lüge!

DER KLEINE KOMMISSAR Seht euren Offizieren auf die Stiefel. Bis zum Februar habt ihr sie ihnen putzen müssen. Im Februar habt ihr sie gelehrt, sie selber zu putzen. Kerenski leckt sie ihnen.

EIN OFFIZIER Kameraden, laßt euch nicht für dumm verkaufen. Bleibt neutral.

DER KLEINE KOMMISSAR Wenn wir den Feind nicht schlagen, Genossen, wird er uns die Stiefel auf den Nacken setzen und aus unsern Rücken Leder schneiden für neue Stiefel.

EIN OFFIZIER Schlagt ihm aufs Maul.

DER KLEINE KOMMISSAR grinst: Was wir Bolschewiki wollen, ist: dem Feind die Stiefel ausziehn.

DER JUNGE OFFIZIER Wollt sie selber anziehn, was?

EIN SOLDAT Zieht ihm die Stiefel aus!

Zwei Soldaten gehen auf den jungen Offizier zu.

DER JUNGE OFFIZIER Kameraden –

EIN SOLDAT Stopft ihm das Maul.

Soldaten gehen auf die Offiziere zu. Offiziere rücken zusammen.

EIN KLEINER SOLDAT Feine Stiefel hast du, Excellenz. Zieh sie aus, Excellenz.

EIN OFFIZIER Kameraden, ich war wie ein Vater zu euch.

EIN SOLDAT Komm, Väterchen, ich helf’ dir ausziehn.

EIN OFFIZIER Soldaten! Achtung!

Soldaten lachen und ziehen den Offizieren die Stiefel aus.

Die Offiziere gehen ab auf Strümpfen.

EIN OFFIZIER Wir gehen, aber wir kommen wieder. Ab.

EIN GROSSER SOLDAT Schnaps ist gut für kalte Füße. Die Stiefel haben wir und die Offiziere sind wir los. Zum Kommissar: Das war ein guter Vorschlag, Kamerad. Aber den Bürgerkrieg müßt ihr allein machen. Nimm’s nicht übel. Wir sind neutral. Tritt sich die Stiefel zurecht Sie passen.

KOMMISSAR Die Stiefel habt ihr. Das Land müßt ihr euch nehmen!

EIN SOLDAT der erste Redner: Wir müssen uns entscheiden. Wer für die Bolschewiki ist, tritt links heraus. Wer neutral bleibt, geht nach rechts.

Der große Soldat geht nach rechts, einige folgen. Links Leere, dann treten zögernd zwei, drei, vier nach links, dann strömt die Menge nach. Rechts bleibt eine kleine Gruppe.

3 a

ZIELSCHEIBEN

Großer Saal im Winterpalais. Fünf Uhr morgens.
Trübes Licht Soldaten liegen herum, einige schlafend. Einschläge von schwerem Geschütz.

ERSTER SOLDAT Kerenski hat sich aus dem Staub gemacht.

Wir sitzen im Dreck.

ZWEITER SOLDAT Und unsern Schnaps saufen die Offiziere.

Einschlag.

DRITTER SOLDAT Noch eins von dem Kaliber, und du hast keinen Durst mehr, Alexej.

ERSTER SOLDAT Offizier oder Bolschewik. Alles dasselbe.

ZWEITER SOLDAT springt auf stolpert zur Tür: Sie haben uns eingesperrt, die Hunde. Trommelt an die Tür: Aufmachen!

OFFIZIER besoffen, macht Licht: Der Soldat hat Schlafbefehl.

Aber der Soldat verweigert den Gehorsam. Ist es so, du...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2023
Co-Autor Kristin Schulz, Klaus Gehre, Marit Gienke
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte 20. Jahrhundert • Bühne • Deutschland • Drama • Dramatiker • Heiner Müller • Müller • Ostdeutschland DDR • Sammlung • Schauspiel • Stücke • Theater • Werke
ISBN-10 3-518-76610-4 / 3518766104
ISBN-13 978-3-518-76610-1 / 9783518766101
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