Unterm Staub der Zeit (eBook)

Eine Jugend im Schatten des Mauerbaus
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
220 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77543-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unterm Staub der Zeit -  Christoph Hein
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Vom Erwachsenwerden in einer geteilten Stadt

Der vierzehnjährige Daniel kommt 1958 aus seiner ostdeutschen Heimatstadt, wo ihm als Pfarrerssohn das Abitur verwehrt wird, nach Berlin. Er zieht in ein Schülerheim in Grunewald, wo er auch das Gymnasium besucht, und lebt sich in der neuen Umgebung rasch ein. Mit seinen Zimmergenossen - die alle, wie er, aus der DDR stammen - drückt er nicht nur die Schulbank, sondern sie erkunden gemeinsam die Stadt: Als Zeitungsverkäufer ziehen sie allabendlich durch die Kneipen, und wenn das Essen im Schülerheim allzu fade schmeckt, geht es auf eine Erbsensuppe in Aschingers »Stehbierhalle«. Sie erleben den Erweckungsprediger Billy Graham, der die Massen im Tiergarten in Verzückung versetzt, und Bill Haley, der den Sportpalast zum Kochen bringt.



<p>Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad D&uuml;ben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universit&auml;t Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universit&auml;t Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksb&uuml;hne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle <em>Der fremde Freund / Drachenblut</em>.<br /> Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind <em>Spiegel</em>-Bestseller.</p>

II »Pack die Badehose ein«


Als ich vom S-Bahnhof zurückkam, saß in unserem Zimmer nur noch Sebastian. Albert, Helmuth und Friederich waren verschwunden und auch von dem sechsten Zimmergenossen war nichts zu sehen. Ich packte die restlichen Sachen aus meinem Koffer aus und verstaute alles im Schrank, den leeren Koffer wollte ich unter mein Bett schieben, doch Sebastian sagte, auf der obersten Etage des Hauses gebe es einen Abstellraum für Koffer und größere Taschen.

Ich bezog mein Bett, wobei ich mir schmerzhaft den Kopf am Lattenrost des oberen Bettes stieß. Dann setzte ich mich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch und packte meine Tasche aus. Die Wörterbücher stellte ich auf den hinteren Rand der Arbeitsplatte, die Romane, die Rilke-Gedichte und die vier Bände mit Theaterstücken legte ich in das unterste Schubfach. Und unter diesen Büchern versteckte ich meine eigenen Manuskripte, fünfzehn längere Gedichte, die mir gelungen erschienen, drei Erzählungen und die beiden Theaterstücke, an denen ich bis zum Sommer geschrieben hatte.

»Du bist schon länger hier?«, fragte ich Sebastian, als er sein Buch zuklappte und zu mir sah.

»Hier im Internat? Seit März.«

»Und wieso bist du so lange schon hier?«

»Ich bin im Januar abgehauen, wohnte erst zwei Monate bei einem Onkel, einem völlig Verrückten, bevor ich hier einen Platz bekam.«

»Und du bist auch schon seit Januar auf dem Gymnasium?«

»Ja. Ich kam gleich in eine Untertertia, allerdings im A-Zweig, weil es den C-Zweig, also die Klassen für die Ostdeutschen, erst ab Obertertia gibt. Ich hatte dort Unterricht in Latein und Griechisch mit Leuten, die das schon zwei und drei Jahre lernten. Ich musste also aus einer Sprache lesen und übersetzen, bei der ich das Abc kaum beherrschte. Und nun fange ich mit euch nochmal richtig von vorn an. In den vier Stunden Latein und Griechisch diese Woche habe ich mehr verstanden als im letzten halben Jahr.«

»Kannst du mir zeigen, was ich versäumt habe?«

»Sicher. Das war nicht viel, du bist ja nur eine Woche zu spät. Komm her und bring deinen Stuhl mit.«

»Wieso bist du schon seit Januar in Westberlin? Warum hast du daheim nicht noch die achte Klasse abgeschlossen?«

»Ach, im Grunde eine dumme Geschichte. Ich hatte bereits zwei Verweise, weil ich ein paar Mal Wandzeitungsartikel geschrieben und ans Schwarze Brett geheftet hatte, die als böswillig eingestuft wurden. Und nach den Weihnachtsferien gab es am zweiten Schultag für die siebenten und achten Klassen eine Filmvorführung in der Aula. Wir dachten alle, es wird so ein Naturfilm sein über Eichhörnchen oder Landwirtschaft, das Übliche, aber ich Esel hatte am Vortag in der Aula die Musikanlage präpariert. Als der Film anlief, schaltete sich zur gleichen Zeit das Tonbandgerät ein. Pack die Badehose ein, ertönte es, während uns ein Film gezeigt werden sollte, der Propaganda für die Kollektivierung macht. Stell dir vor, da erzählen LPG-Bauern, wie glücklich sie in der Genossenschaft sind, und die halbe Aula singt begeistert: Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein, und dann nischt wie raus nach Wannsee. Jedenfalls sangen sie, solang es in der Aula noch dunkel war.«

»Muss sehr komisch gewesen sein.«

»Na ja, gelacht hat hinterher keiner. Die Lehrer schalteten sofort das Licht in der Aula an und den Vorführapparat aus, alle verstummten augenblicklich, und damit war es an dem Tag mit dem Film vorbei. Zwei Schulstunden fielen aus, weil die Lehrer und auch der Direx nach dem Schuldigen suchten. Ein Mädchen aus einer Siebten, mit der ich befreundet war, hatte ich am Vortag in die Aula mitgenommen, zum Schmierestehen, und die dusslige Pute hat mich bei der Befragung verpetzt. Sie holten mich ins Rektorat, der Direx und drei Lehrer brüllten mich an, ich sei ein bösartiges Element, von westlicher Unkultur zersetzt, ein Staatsfeind, der auf ihrer Schule nicht geduldet werde. Dann schickten sie mich nach Hause. Das Lehrerkollegium tagte, wie ich später hörte, über drei Stunden, und fast alle Lehrer sprachen sich dafür aus, mich bei der Polizei anzuzeigen, nur zwei Lehrer waren dagegen. Noch am selben Abend gab es bei der Volkspolizei ein Treffen des Schuldirektors mit irgendeiner Kommission für Jugendhilfe, und die entschieden, dass ich den Rest des Schuljahres in den Jugendwerkhof komme.«

»Jugendwerkhof, mein Gott! Das ist wie Knast, nicht wahr?«

»So ist es.«

»Und wie hast du es da noch geschafft, abzuhauen?«

»Großes Glück. Der Schuldirektor, der am lautesten gegen mich gewettert hatte, kam mitten in der Nacht zu meinem Vater. Er klopfte ans hintere Fenster und unterrichtete ihn über die Entscheidung von Polizei und Jugendhilfe. Er sagte, ich würde am nächsten Morgen von der Polizei abgeholt und in den Werkhof gebracht. Vater holte mich sofort aus dem Bett, wir packten, und zwei Stunden später saßen wir im Auto nach Potsdam. Dort warteten wir bis sechs Uhr, weil dann der Berufsverkehr einsetzt und die S-Bahn voll ist. Fünf Minuten später war ich in Sicherheit. Wie ich später von meinen Eltern hörte, erschien an diesem Tag tatsächlich Punkt sieben ein Polizist bei uns, um mich abzuholen.«

»Ist ja eine irre Geschichte. Und jetzt darfst du nicht zurück? Nie wieder?«

»Na klar. Wenn sie mich schnappen, bin ich dran. Darum fahre ich auch mit keiner U-Bahn, die durch den Osten fährt, auch wenn es nur ein paar Stationen sind. Da mache ich lieber einen Umweg oder nehme den Bus.«

Er lachte plötzlich laut auf: »Weißt du was, das Beste kommt noch. Am allerersten Schultag in der Salzbrunner fragten mich meine Mitschüler, ob ich wisse, wem der große Garten mit der Villa hinter dem Zaun unseres Schulhofs gehört. Ich hatte keine Ahnung, aber weißt du was? Da wohnt Conny Froboess mit ihren Eltern!«

»Die Pack die Badehose ein gesungen hat? Und? Hast du ihr deine Geschichte erzählt?«

»Wo denkst du hin! Wenn die in ihrem Garten zu sehen ist, hängen die Kleinen wie die Fliegen am Zaun und rufen sie. Die kann kaum noch in Ruhe aus dem Haus und will sicherlich nichts von uns wissen.«

Er griff nach zwei Heften und zwei seiner Bücher: »So, das sind meine Aufzeichnungen in Griechisch und hier die für Latein. Und bei beiden Lehrbüchern die ersten Seiten, von hier bis hier. Schau es dir an. Die Striche und Randbemerkungen stammen noch von meinem Vorgänger oder von einem meiner vielen Vorgänger. Wenn du Fragen hast, gib Bescheid.«

»Danke.«

Ich nahm seine Hefte und Bücher und setzte mich an meinen Schreibtisch. Als ich aus meiner Schultasche Schreibheft und Füller herausnahm, sah Sebastian auf.

»Schöne Mappe hast du da. Aber vergiss sie. Für die Schule brauchst du keine Tasche. Hast du keinen Gürtel? Leder oder Stoff?«

»Ja, habe ich. Sogar zwei.«

»Na also. Dann lass die Tasche hier oder bring sie in den Koffer-Abstellraum. Die C-Klassen brauchen nur einen Gürtel. Den schnallst du um die Bücher und dann wirfst du dir das Bündel über die Schulter. Das ist alles. Die C-Klassen brauchen keine Taschen. Wenn du am Montag mit einer Tasche erscheinst, hast du dir gleich einen dicken Minuspunkt eingefangen.«

»Versteh ich nicht. Warum ist ein Gürtel besser als eine Tasche? Bei einem Gürtel um die Bücher kann was rausrutschen, und bei Regen werden sie nass.«

»Das haben unsere Primaner vor Jahren so eingeführt. Die C-Jahrgänge haben nur einen Gürtel. Oder einen Hebammenkoffer, der geht auch.«

»Aber wieso?«

»Hat was mit dem Osten zu tun. Die anderen, die A- und B-Leute, also die Westberliner, fanden, unsere Taschen sähen allesamt zu ostig aus. ›Ostschrott‹ nannten sie das. Und daraufhin entschieden unsere Leute damals, wir benötigten aber auch keinen Westschrott, uns reicht ein Gürtel. Seitdem gehen alle Ostler nur mit einem Gürtel zur Penne. Das sieht einfach besser aus.«

»Verstehe. Also Gürtel ab Montag. Danke für den Hinweis.«

»Aber bitte. Übrigens, wenn es Zeugnisse gibt, an dem Tag bringen alle vom C-Zweig eine leere Papprolle mit, verstehst du, eine leere Klopapierrolle, um den Wisch auf angemessene Art und Weise zu transportieren.« ...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Aschinger • Berlin • Berliner Theaterszene • Bill Haley • Billy Graham • bücher neuerscheinungen • Coming of Age • DDR • Deutsche Teilung • Entwicklungsroman • Freundschaft • Geteiltes Berlin • Internat • Mauerbau • Neuerscheinungen • neues Buch • Ost-West-Gefälle • Schillertheater • schulzeit • Stehbierhalle • Von allem Anfang an
ISBN-10 3-518-77543-X / 351877543X
ISBN-13 978-3-518-77543-1 / 9783518775431
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